Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 25/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_25/2015

Urteil vom 1. Mai 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
A.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. Pierre Heusser,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
11. November 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________ bezog ab 1. Juni 2003 eine ganze Rente der Invalidenversicherung
samt einer Zusatzrente für die Ehefrau und zwei, ab ... drei Kinderrenten
(Verfügungen der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 5. Juli und 10. November
2005). Im Rahmen des im Mai 2012 eingeleiteten (zweiten) Revisionsverfahrens
wurde der Versicherte im Zeitraum vom 1. November 2012 bis 28. März 2013 an
dreizehn Tagen observiert. Wegen Verdachts auf unrechtmässigen Leistungsbezug
sistierte die infolge Wohnsitzwechsel seit ... zuständige IV-Stelle des Kantons
Aargau die Rente (Verfügung vom 20. Juni 2013). Nachdem Dr. med. B.________,
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom regionalen ärztliche Dienst
(RAD) u.a. zum Observationsbericht vom 25. Mai 2013 Stellung genommen hatte,
hob die IV-Stelle nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 9.
Dezember 2013 die ganze Rente rückwirkend zum 1. November 2012 auf.

B. 
Dagegen erhob A.________ Beschwerde, welche das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau mit Entscheid vom 11. November 2014 abwies.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 11. November 2014 sei aufzuheben und die Sache an die
Vorinstanz oder an die IV-Stelle zu weiterer Abklärung (u.a. psychiatrische
Begutachtung) zurückzuweisen, unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.

Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Der Beschwerdeführer hat einen nach Erlass des angefochtenen Entscheids
erstellten ärztlichen Bericht sowie vom 6. Januar 2015 datierende
Bestätigungsschreiben verschiedener Personen ins Recht gelegt. Diese Dokumente
haben aufgrund des Verbots, im Beschwerdeverfahren echte Noven beizubringen
(statt vieler Urteil 8C_721/2014 vom 27. April 2015 E. 2), sowie aufgrund der
Bindung des Bundesgerichts an den vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt
(Art. 105 Abs. 1 BGG) mit Beschränkung der Prüfung in tatsächlicher Hinsicht
auf die in Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG festgelegten Beschwerdegründe
grundsätzlich unbeachtet zu bleiben (Urteil 9C_806/2014 vom 13. Januar 2015 E.
2.1 mit Hinweisen). Bei dem seinen Bruder betreffenden psychiatrischen
Gutachten vom 14. Juni 2014handelt es sich sodann um ein unzulässiges unechtes
Novum (Art. 99 Abs. 1 BGG), da dieses Dokument ohne weiteres bereits im
vorinstanzlichen Verfahren hätte eingereicht werden können (BGE 134 III 625 E.
2.2 S. 629; Urteil 2C_44/2014 vom 24. Juni 2014 E. 3.4.2).

2. 
Die Vorinstanz hat festgestellt, aufgrund der Ergebnisse der Observation sowie
der Beurteilung des psychiatrischen Facharztes des RAD vom 5. September 2013
könne eine psychiatrische Erkrankung ausgeschlossen werden. Es sei davon
auszugehen, dass der Beschwerdeführer spätestens seit dem 1. November 2012 zu
100 % arbeitsfähig sei. Die Voraussetzungen für die rückwirkende Aufhebung der
ganzen Rente seien gegeben, entweder nach Art. 17 Abs. 1 ATSG und Art. 88bis
Abs. 2 lit. b IVV i.V.m. Art. 77 IVV (Meldepflichtverletzung) oder nach Art. 53
Abs. 1 ATSG (prozessuale Revision; BGE 127 V 466 E. 2c in fine S. 469).

3. 
Der Beschwerdeführer rügt, der rechtserhebliche medizinische Sachverhalt sei
unvollständig abgeklärt. Auf die Stellungnahme des RAD-Arztes, der sich einzig
auf einen nicht sehr aussagekräftigen Observationsbericht gestützt habe, könne
nicht abgestellt werden. Aufgrund der Aktenlage hätte zwingend ein unabhängiges
(versicherungsexternes) psychiatrisches Gutachten eingeholt werden müssen. Eine
solche Expertise habe dieselbe Vorinstanz auch im Falle seines Bruders als
notwendig erachtet und dementsprechend angeordnet.

4.

4.1. Ein Observationsbericht für sich allein bildet keine genügende Grundlage
für Feststellungen betreffend den Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit.
Er kann diesbezüglich höchstens Anhaltspunkte liefern oder Anlass zu
Vermutungen geben. Rechtsgenügliche Kenntnis des Sachverhalts vermag in dieser
Hinsicht erst die fachärztliche Beurteilung des Observationsmaterials zu
liefern (Urteil 8C_192/2013 vom 16. August 2013 E. 3.1 mit Hinweisen, in: SVR
2013 UV Nr. 32 S. 111; vgl. BGE 137 I 327 E. 7.1 S. 337 mit Hinweisen). Ob
hiezu die Stellungnahme eines RAD-Facharztes genügt oder ein
versicherungsexternes Gutachten erforderlich ist, entscheidet sich nach den
Umständen des konkreten Falles. Dabei ist die Rechtsprechung zu beachten,
wonach es zulässig ist, im Wesentlichen oder einzig auf versicherungsinterne
medizinische Unterlagen abzustellen. In solchen Fällen sind an die
Beweiswürdigung jedoch strenge Anforderungen in dem Sinne zu stellen, dass bei
auch nur geringen Zweifeln an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der
ärztlichen Feststellungen ergänzende Abklärungen vorzunehmen sind (BGE 139 V
225 E. 5.2 S. 229; 122 V 157 E. 1d S. 162; Urteil 9C_286/2014 vom 8. August
2014 E. 3.3 mit Hinweisen). Sodann können auch nicht auf eigenen Untersuchungen
beruhende Berichte und Stellungnahmen regionaler ärztlicher Dienste
beweiskräftig sein (vgl. dazu BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232), sofern ein
lückenloser Befund vorliegt und es im Wesentlichen nur um die Beurteilung eines
an sich feststehenden medizinischen Sachverhalts geht (Urteil 4A_505/2012 vom
6. Dezember 2012 E. 3.6), mithin die direkte fachärztliche Befassung mit der
versicherten Person in den Hintergrund rückt (Urteil 9C_323/2009 vom 14. Juli
2009 E. 4.3.1, in: SVR 2009 IV Nr. 56 S. 174; Urteil 9C_223/2014 vom 4. Juni
2014 E. 6.1; Urteil 9C_462/2014 vom 16. September 2014 E. 3.2.2 mit Hinweisen).

4.2. Vorliegend führte der Psychiater des RAD keine eigene Untersuchung durch.
Indessen berücksichtigte er nicht nur die Observationsunterlagen; vielmehr
standen ihm sämtliche medizinischen Akten zur Verfügung. Insofern kann seiner
Stellungnahme der Beweiswert nicht abgesprochen werden. Aus diesen Unterlagen
ergab sich insofern ein lückenloser Befund, als der behandelnde Psychiater in
seinen Berichten vom 19. Juni 2012 und 31. Juli 2013 Gesundheitszustand und
Arbeitsfähigkeit unverändert im Wesentlichen gleich beurteilte wie Dr. med.
C.________ im Gutachten vom 22. Februar 2005, das Grundlage war für die
Zusprechung der ganzen Rente. Der RAD-Facharzt kam indessen zu gänzlich anderen
Schlüssen, indem er eine psychische Erkrankung und eine dadurch bewirkte
Arbeitsunfähigkeit überhaupt verneinte. Bei einer derart diametral abweichenden
Einschätzung kann - im Umkehrschluss - nicht mehr von einem  an sich
feststehenden medizinischen Sachverhalt gesprochen werden, der eine blosse
Aktenbeurteilung als genügend erscheinen lassen konnte. Zwar lassen sich die
Angaben des Beschwerdeführers anlässlich des Standortgesprächs vom 11. Oktober
2012, etwa er könne nicht allein Auto fahren und nicht ohne seine Frau aus dem
Haus gehen, nicht in Einklang bringen mit seinem im Observationsbericht vom 25.
Mai 2013 beschriebenen Verhalten. Nach den unbestrittenen Feststellungen der
Vorinstanz hatte sich der Beschwerdeführer jeweils ganztags im Umfeld eines
Ladens aufgehalten und dort im Freien Arbeiten erledigt (z.B. den Boden
wischen, die Gemüseauslage pflegen, mit Warenhändlern verhandeln). Dabei habe
er oft mit Drittpersonen kommuniziert. Von einem sozialen Rückzug kann somit
nicht gesprochen werden. Ebenso wenig lassen die Beobachtungen offensichtlich
depressive Züge erkennen, was jedoch nicht heissen will, dass keine psychische
Beeinträchtigung besteht. Sodann ist fraglich, ob die erwähnten Aktivitäten
einer eigentlichen erwerblichen Betätigung gleichgestellt werden können.
Jedenfalls kann daraus aufgrund der bestehenden medizinischen Aktenlage - zu
erwähnen ist, das nach der Rentenzusprechung im Juli 2005 ausschliesslich beim
behandelnden Psychiater ärztliche Berichte eingeholt worden waren - nicht ohne
zusätzliche Abklärungen auf das Fehlen eines die Arbeitsfähigkeit überhaupt
nicht einschränkenden psychischen Gesundheitsschadens geschlossen werden (vgl.
auch BGE 137 I 327 E. 7.2 S. 337 f.).

4.3. Nach dem Gesagten beruht der angefochtene Entscheid auf einem ungenügend
abgeklärten Sachverhalt bzw. auf unvollständiger Beweisgrundlage, was
Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG; Urteil 8C_234/2013 vom 9. Oktober
2013 E. 3). Die Vorinstanz wird ein Gerichtsgutachten einzuholen haben, mit
welcher auch eine MEDAS betraut werden kann (BGE 137 V 210 E. 4.4.1 S. 263 ff.;
Urteil 9C_953/2012 vom 5. April 2013 E. 3.3) und danach neu entscheiden.

5. 
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art.
68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Aargau vom 11. November 2014 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 1. Mai 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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