Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 253/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_253/2015

Urteil vom 13. Juli 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Ivo Baumann,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

Pensionskasse B.________.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 26. Februar 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1966 geborene A.________ war zuletzt als Lagermitarbeiter/ Staplerfahrer
tätig. Am 27. Oktober 2004 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau liess den Versicherten in
der Klinik C.________ begutachten (Expertise vom 10. April 2006). Mit Verfügung
vom 10. Juli 2007 sprach die IV-Stelle A.________ rückwirkend ab 1. November
2004 eine ganze Invalidenrente zu.
Im Januar 2013 leitete die IV-Stelle eine Rentenrevision ein. Sie holte beim
medizinischen Abklärungsinstitut D.________ eine interdisziplinäre Expertise
vom 15. Oktober 2013 ein. Gestützt auf die von den Ärzten dabei gewonnenen
Erkenntnisse und auf eine weitere Stellungnahme des medizinischen
Abklärungsinstituts D.________ (vom 26. Mai 2014) hob die IV-Stelle am 3.
September 2014 die bisher ausgerichtete ganze Invalidenrente verfügungsweise
auf den 31. Oktober 2014 auf. Zur Begründung stützte sie sich auf die
Schlussbestimmung zur 6. IV-Revision, in Kraft seit 1. Januar 2012, wonach eine
Invalidenrente, die bei einem pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen
Beschwerdebild zugesprochen wurde, unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne
Änderung des Gesundheitszustandes aufgehoben werden könne.

B. 
Die hiegegen eingereicht Beschwerde, mit welcher der Versicherte die
Weitergewährung der ganzen Invalidenrente beantragt hatte, wies das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab (Entscheid vom 26. Februar 2015).

C. 
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten das
vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuern.
Die IV-Stelle, das Bundesamt für Sozialversicherungen sowie die im
vorinstanzlichen Verfahren beigeladene Pensionskasse B.________, Zug,
verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Laut lit. a Abs. 1 der Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 18. März
2011 (6. IV-Revision) werden Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch
unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage
gesprochen wurden, innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten dieser Änderung
überprüft. Sind die Voraussetzungen nach Art. 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die
Rente herabgesetzt oder aufgehoben, auch wenn die Voraussetzungen von Art. 17
Abs. 1 ATSG nicht erfüllt sind.

3.

3.1. Die Vorinstanz ging gestützt auf das der ursprünglichen Rentenzusprechung
vom 10. Juli 2007 zugrunde liegende Gutachten der Klinik C.________ vom 10.
April 2006 davon aus, dass die volle Arbeitsunfähigkeit und die um zwei Drittel
reduzierte Erwerbsfähigkeit auf dem psychischen Gesundheitsschaden basierten.
Sowohl die somatoforme Schmerzstörung als auch die dissoziativen Anteile des
zervikal betonten chronischen panvertebralen Schmerzsyndroms liessen sich
keinem organischen Befund zuordnen und gehörten daher zu den
pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne
nachweisbare organische Grundlage. Die von Dr. med. E.________ gestellte
Diagnose Angst und Depression gemischt    (ICD-10 F41.2) deute darauf hin, dass
nur relativ leichte ängstliche und depressive Symptome vorlagen. Die Ängste
hätten in sehr engem Zusammenhang mit der Schmerzstörung gestanden und seien
als deren Begleiterscheinung zu bewerten.

3.2. Der Beschwerdeführer wendet ein, die Diagnose Angst und Depression
gemischt (ICD-10 F41.2) zähle nicht zu den pathogenetisch-ätiologisch unklaren
syndromalen Beschwerdebildern. Entgegen den Ausführungen der Vorinstanz handle
es sich um eine eigenständige objektivierbare Diagnose, die bei Vorliegen und
in Kombination beider Beschwerdebilder zur Anwendung gelangt. Aus medizinischem
Gesichtswinkel fehle es an einer hinreichenden Grundlage, um diese Diagnose als
Begleiterscheinung zu den Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische
Grundlage zu qualifizieren. Dem Gutachten der Klinik C.________ lasse sich
nicht entnehmen, dass Bewegungsangst, phobischer Schwankschwindel sowie die
hypochondrisch-ängstliche Selbstbeobachtung in sehr engem Zusammenhang mit der
Schmerzstörung stehen. Mit der Aufteilung der Diagnose Angst und Depression
gemischt in zwei separate Krankheitsbilder habe die Vorinstanz das ihr
zustehende Ermessen überschritten. Sodann bestehe für die Annahme, die
depressive Symptomatik führe in Verbindung und in Kombination mit der
Angstsymptomatik zu einem überwindbaren Leiden im Sinne einer somatoformen
Schmerzstörung, keine Grundlage. Wenn eine Invalidenrente sowohl für unklare
als auch für erklärbare Beschwerden zugesprochen wurde, welche diagnostisch
zwar unterscheidbar sind, bezüglich der damit verbundenen Arbeits- und
Erwerbsunfähigkeit aber keine exakte Abgrenzung erlauben, falle eine Aufhebung
oder Herabsetzung der Invalidenrente nach lit. a Abs. 1 der Schlussbestimmungen
zur 6. IV-Revision ausser Betracht.

4. 
Der vom Beschwerdeführer vertretenen Auffassung ist beizupflichten. Im
Gutachten der Klinik C.________ vom 10. April 2006 ist neben dem chronischen
panvertebralen Schmerzsyndrom zervikal betont mit Status nach Rückenkontusion
am 3. November 2003, einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und
dissoziativen Anteilen separat die Diagnose Angst und Depression gemischt
(ICD-10 F41.2) aufgeführt. Dabei handelt es sich um eine eigenständige
psychiatrische Diagnose, die nicht im Rahmen der rechtlichen Beurteilung
aufgeteilt werden kann. Dass diese Diagnose im Zusammenhang mit der
somatoformen Schmerzstörung stehen soll, wie die Vorinstanz annimmt,
erschliesst sich aus dem psychosomatischen Gutachten nicht. Dieses enthält
keine Aussagen, welche die vorinstanzliche Schlussfolgerung in irgendeiner Form
stützen würden. Die vom kantonalen Gericht für seine These vorgetragenen
Argumente überzeugen nicht. Namentlich ist nicht erkennbar, inwiefern die im
angefochtenen Entscheid als relativ leicht bezeichneten Ängste des
Beschwerdeführers (Bewegungsangst, phobischer Schwankschwindel und eine
hypochondrisch-ängstliche Selbstbeobachtung) in sehr engem Zusammenhang mit der
Schmerzstörung stehen sollen, geht es doch bei dieser um ein psychogenes
Schmerzempfinden und nicht um Symptome einer Angst oder einer (leichten)
Depression. Ob die Symptomatik zum Zeitpunkt der Rentenzusprechung eher leicht
war, ist angesichts der gestellten Diagnose (Angst und Depression gemischt)
unerheblich. Soweit die Vorinstanz ohne schlüssige Anhaltspunkte in den
medizinischen Unterlagen zur Ansicht gelangt ist, dieser Diagnose komme keine
eigenständige Bedeutung zu, sondern sie gehe gleichsam in der somatoformen
Schmerzstörung auf und sei dementsprechend auch rechtlich gleich zu behandeln,
hat sie Bundesrecht verletzt.

5. 
Wie das Bundesgericht im Urteil 8C_34/2014 vom 8. Juli 2014 E. 4.2 (bestätigt
im Urteil 8C_697/2014 vom 23. März 2015 E. 5.1) erkannt hat, fällt eine
Herabsetzung oder Aufhebung unter dem Titel von lit. a Abs. 1 der
Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 18. März 2011 ausser Betracht,
wenn die Invalidenrente sowohl für unklare als auch für erklärbare Beschwerden
zugesprochen wurde, die diagnostisch zwar unterscheidbar sind, die aber
bezüglich der darauf zurückzuführenden Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit keine
exakte Abgrenzung erlauben. In Anwendung dieser Rechtsprechung ist der
angefochtene Entscheid, mit dem die Invalidenrente gestützt auf die
Schlussbestimmung der Änderung des IVG vom 18. März 2011 eingestellt wurde,
zufolge Verletzung von Bundesrecht aufzuheben.

6. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat dem
Beschwerdeführer überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1
und 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
In Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Aargau vom 26. Februar 2015 und die Verfügung der IV-Stelle des
Kantons Aargau vom 3. September 2014 aufgehoben.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Pensionskasse B.________, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. Juli 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Widmer

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