Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 245/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_245/2015

Urteil vom 19. August 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber Furrer.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Elisabeth Tribaldos,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

 Bâloise-Sammelstiftung für die obligatorische berufliche Vorsorge,
Aeschengraben 21, 4051 Basel.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
17. Februar 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1968 geborene A.________, zuletzt als Fabrikationsmitarbeiter bei der
B.________ AG tätig gewesen, meldete sich am 14. September 1998 bei der
Invalidenversicherung (IV) zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons
Aargau (fortan: IV-Stelle) sprach A.________ nach erwerblichen und
medizinischen Abklärungen mit Verfügung vom 16. November 2001 eine ganze
Invalidenrente mit Wirkung ab 1. März 1999 zu (Invaliditätsgrad von 100 %). Der
Anspruch auf eine ganze Invalidenrente wurde mit Mitteilung vom 16. Oktober
2006 bestätigt.
Im Rahmen einer Überprüfung des Rentenanspruchs gestützt auf die am 1. Januar
2012 in Kraft getretenen Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 18. März
2011 (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket [AS 2011 5659]; nachfolgend:
SchlBest. IVG) veranlasste die IV-Stelle eine orthopädisch-psychiatrische
Begutachtung durch die medizinische Gutachterstelle C.________ (Expertise vom
14. Mai 2013) und hob - nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren - mit
Verfügung vom 25. Juli 2013 die Invalidenrente per Ende August 2013 hin auf.
Diese Verfügung wurde nicht angefochten. Da A.________ Anspruch auf
Wiedereingliederungsmassnahmen gemäss lit. a Abs. 2 SchlBest. IVG zuerkannt
wurde, verfügte die IV-Stelle am 29. August 2013 die Weiterausrichtung der
Rente mit Wirkung ab 1. September 2013. Gleichzeitig hielt sie fest, die Rente
werde ausgerichtet, wenn Massnahmen zur Wiedereingliederung durchgeführt
würden, längstens jedoch bis 31. August 2015. Die Weiterausrichtung der Rente
falle auf Ende des Monats dahin, in welchem die Massnahmen beendet oder
abgebrochen würden. Nach Durchführung eines Mahn- und Bedenkzeitverfahrens und
gestützt auf den Abschlussbericht Integration vom 14. Januar 2014 stellte die
IV-Stelle am 17. Januar 2014 die Einstellung der Wiedereingliederungsmassnahmen
und der Invalidenrente per 31. Januar 2014 in Aussicht, wogegen A.________
Einwände erhob. Am 21. Mai 2014 verfügte die IV-Stelle wie in Aussicht
gestellt.

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 17. Februar 2015 ab.

C. 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Antrag, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids seien die Rentenleistungen
wieder aufzunehmen. In formeller Hinsicht beantragt er, der Beschwerde sei
aufschiebende Wirkung zu erteilen.
Am 2. Juli 2015 lässt sich A.________ erneut vernehmen.

Erwägungen:

1. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Lit. a SchlBest. IVG sieht die Überprüfung der Renten vor, die bei
pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne
nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden. Gemäss Abs. 1 dieser
Bestimmung werden Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren
syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen
wurden, innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten dieser Änderung überprüft.
Sind die Voraussetzungen nach Art. 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die Rente
herabgesetzt oder aufgehoben, auch wenn die Voraussetzungen von Art. 17 Absatz
1 ATSG nicht erfüllt sind.
Wird die Rente herabgesetzt oder aufgehoben, so hat die Bezügerin oder der
Bezüger Anspruch auf Massnahmen zur Wiedereingliederung nach Art. 8a. Ein
Anspruch auf eine Übergangsleistung nach Art. 32 Absatz 1 Buchstabe c entsteht
dadurch nicht (Abs. 2). Werden Massnahmen zur Wiedereingliederung nach Art. 8a
durchgeführt, so wird die Rente bis zum Abschluss der Massnahmen weiter
ausgerichtet, längstens aber während zwei Jahren ab dem Zeitpunkt der Aufhebung
oder Herabsetzung (Abs. 3).

3. 
Die Vorinstanz erwog, gemäss Aktenlage sei die objektive
Eingliederungsfähigkeit nicht mehr gegeben gewesen, weshalb die Verwaltung die
Wiedereingliederungsmassnahmen nach durchgeführtem Mahn- und
Bedenkzeitverfahren habe abschliessen und die (akzessorische) Invalidenrente
einstellen dürfen. Der Beschwerdeführer rüge indes, die Verwaltung hätte über
die definitive Renteneinstellung erst im Rahmen der Einstellung der
Wiedereingliederungsmassnahmen (Verfügung vom 21. Mai 2014) befinden müssen.
Dabei verkenne er, dass die Rentenaufhebung mit Verfügung vom 25. Juli 2013
angeordnet worden sei, welche in Rechtskraft erwachsen sei. Damit habe die
Renteneinstellung nicht erneut überprüft werden müssen. Soweit er eine
Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG) der rentenaufhebenden Verfügung vom 25.
Juli 2013 beantrage, so liege dieser Entscheid im pflichtgemässen Ermessen der
Verwaltung. Diese könne durch das Gericht nicht zur Wiedererwägung verhalten
werden.

4.

4.1. Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend, die rentenaufhebende
Verfügung vom 25. Juli 2013 sei nichtig, weshalb fraglich sei, ob sie in
Rechtskraft habe erwachsen können. Er begründet die Nichtigkeit damit, dass
eine Revision gemäss SchlBest. IVG nicht zulässig sei, wenn bei der
Rentenzusprache nicht nur ein unklares Beschwerdebild, sondern auch ein
somatisches Leiden vorgelegen habe. Überdies sei der medizinische Sachverhalt
unvollständig abgeklärt gewesen, weil im Rahmen der Begutachtung der
medizinischen Gutachterstelle C.________ keine MRT-Abklärung durchgeführt
worden sei.
Fehlerhafte Verwaltungsakte sind in der Regel nicht nichtig, sondern bloss
anfechtbar, und sie erwachsen dementsprechend durch Nichtanfechtung in
Rechtskraft. Nichtigkeit der Verfügung oder des Entscheids tritt nach ständiger
Rechtsprechung ein, wenn der ihnen anhaftende Mangel besonders schwer ist, er
offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und zudem die
Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet
wird. Als Nichtigkeitsgründe fallen vorab funktionelle und sachliche
Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde sowie krasse Verfahrensfehler in
Betracht. Dagegen führen nur ausserordentlich schwerwiegende inhaltliche Mängel
zu Nichtigkeit (BGE 138 II 501 E. 3.1 S. 503 f.; 138 III 49 E. 4.4.3 S. 56; 137
I 273 E. 3.1 S. 275; Urteile 9C_333/2007 vom 24. Juli 2008 E. 2.1, in: SVR 2009
AHV Nr. 1 S. 1; 9C_320/2014 vom 29. Januar 2015 E. 4.1; je mit Hinweisen). Als
nichtig wäre namentlich eine Verfügung anzusehen, die einen unmöglichen Inhalt
hat, bei der die Fehlerhaftigkeit an ihr selbst zum Ausdruck kommt, bei
tatsächlicher Unmöglichkeit des Vollzugs oder wenn sie unklar oder unbestimmt
ist (Urteil 9C_95/2015 vom 27. Mai 2015 E. 5.2).
Ein die Nichtigkeit begründender Mangel im dargelegten Sinne vermag der
Beschwerdeführer nicht darzutun. Überdies hat das Bundesgericht - was die
Kritik betrifft, eine Revision gemäss SchlBest. IVG sei aufgrund des Vorliegens
somatischer Beschwerden unzulässig gewesen - mit BGE 140 V 197 E. 6.2.3 S. 200
klargestellt, dass auch Invalidenrenten überprüft werden können, die sowohl bei
"unklaren" als auch bei objektivierbaren gesundheitlichen Beschwerden
zugesprochen worden sind. Mithin ist die rentenaufhebende Verfügung vom 25.
Juli 2013 mangels Anfechtung in Rechtskraft erwachsen.

4.2. Weiter trägt der Beschwerdeführer vor, das Gesetz regle nicht
ausdrücklich, was im Falle des Scheiterns der Eingliederungsmassnahmen
geschehe. Indes lege der Gesetzeswortlaut nahe, dass in einem solchen Fall die
Rente wieder gewährt werden müsse. Dass erst nach Beendigung des Versuches
einer (Re-) Integration in den Arbeitsmarkt abschliessend beurteilt werden
könne, ob der versicherten Person eine Erwerbstätigkeit zumutbar sei, ergebe
sich auch aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (Urteil 8C_773/2013 vom 6.
März 2014).
Das Bundesgericht hat sich mit dem Einwand, die Revisionsvoraussetzungen seien
(erst) nach Abschluss der Wiedereingliederungsmassnahmen definitiv zu prüfen
bzw. die Rentenaufhebung nach lit. a SchlBest. IVG stelle bloss einen
Zwischenentscheid dar, der nicht in Rechtskraft erwachse, bereits mit Urteil
9C_64/2015 vom 27. April 2015 einlässlich auseinandergesetzt. Es gelangte
gestützt auf die Materialien, den Wortlaut von lit. a SchlBest. IVG sowie unter
Berücksichtigung der Lehre zum Schluss, der (End-) Entscheid über die
Rentenreduktion bzw. -aufhebung finde  vor der Durchführung der Massnahmen zur
Wiedereingliederung nach Art. 8a IVG statt. In Konstellationen wie der hier
gegebenen sei einzig noch über die Rechtmässigkeit des Abbruchs der
Wiedereingliederungsmassnahmen und der Einstellung der (akzessorischen)
Invalidenrente zu entscheiden und nicht mehr über die Revisionsvoraussetzungen
an sich (E. 4.1 mit Hinweisen). Aus dem Urteil 8C_773/2013, in welchem diese
Frage nicht entschieden werden musste, lässt sich nichts Gegenteiliges
entnehmen.
Weil nach dem Gesagten bereits ein rechtskräftiger Endentscheid über die
Rentenaufhebung vorliegt, ist der Rentenanspruch - entgegen dem
Beschwerdeführer - nicht nach der seit 3. Juni 2015 geänderten Rechtsprechung
(Urteil 9C_492/2014; zur Publikation vorgesehen) zu prüfen.

4.3. Schliesslich rügt der Beschwerdeführer, die Vorinstanz verletze
Bundesrecht, indem sie annehme, der Entscheid über eine Wiedererwägung liege im
alleinigen Ermessen der Verwaltung. Die Vornahme der Wiedererwägung habe
willkürfrei, unter Beachtung des Gebots der Rechtsgleichheit sowie der übrigen
verfassungsmässigen Prinzipien zu erfolgen.
Wie das Bundesgericht in BGE 133 V 50 E. 4 festgestellt hat, wurde die - vor
dem Inkrafttreten des ATSG ergangene - Rechtsprechung, wonach kein gerichtlich
durchsetzbarer Anspruch auf Wiedererwägung besteht (BGE 117 V 8 E. 2a S. 13 mit
Hinweisen), in Art. 53 Abs. 2 ATSG ("Kann-Vorschrift") gesetzlich verankert
(vgl. auch MEYER/ REICHMUTH, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG],
3. Aufl. 2014, Rz. 75 zu Art. 30-31 IVG). Damit liegt das Zurückkommen auf
formell rechtskräftige Verfügungen beim Fehlen eigentlicher Revisionsgründe
weiterhin im Ermessen des Versicherungsträgers. Inwiefern die Vorinstanz
Bundesrecht verletzt haben soll, ist nach dem Gesagten nicht ersichtlich.

4.4. Zusammenfassend hält der angefochtene Entscheid in allen Teilen vor
Bundesrecht stand. Die dagegen erhobene Beschwerde ist abzuweisen. Mit dem
Entscheid in der Hauptsache wird das Gesuch um Gewährung der aufschiebenden
Wirkung gegenstandslos.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Bâloise-Sammelstiftung für die
obligatorische berufliche Vorsorge, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. August 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Furrer

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