Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 239/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_239/2015

Urteil vom 3. Juli 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Petra Oehmke,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 23. Februar 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1969, angelernte Verkäuferin, zuletzt im Gastgewerbe tätig,
meldete sich am 21. April 2010 unter Hinweis auf Hüftoperationen und Knie-
sowie Rückenprobleme bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit
Verfügung vom 26. August 2013 verneinte die IV-Stelle des Kantons Zürich den
Anspruch der Versicherten auf eine Invalidenrente.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 23. Februar 2015 ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen.
Sie beantragt, der angefochtene Entscheid sowie die Verfügung seien aufzuheben.
In Gutheissung der Beschwerde sei die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen,
damit sie eine neue interdisziplinäre (eventualiter nur eine neue
psychiatrische) Begutachtung vornehmen lasse und hernach neu über den
Rentenanspruch entscheide. Zudem ersucht sie um die Gewährung der
unentgeltlichen Prozessführung.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Das
Bundesgericht kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.

2.1. Im Rahmen der Abklärung des medizinischen Sachverhaltes wurden Frau Dr.
med. B.________, Innere Medizin FMH, speziell Rheumaerkrankungen, und Dr. med.
C.________, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, mit der Erstellung eines
rheumatologisch-psychiatrischen Gutachtens (vom 31. August und 9. September
2011) beauftragt. Mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit diagnostizierten sie
Hüftschmerzen, ein Lumbovertebralsyndrom und eine Problematik der
Ileosakralgelenke. Ohne Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit gaben sie eine
anhaltende somatoforme Schmerzstörung, Nikotinabusus, ausgedehnte chronische
Schmerzen, Kniegelenkschmerzen und Migräne an. Den Beginn der vollständigen
Arbeitsunfähigkeit in einer nicht-adaptierten Tätigkeit setzten sie auf den 6.
November 2009 fest. Für dem Leiden ideal angepasste Tätigkeiten sahen sie aus
rheumatologischer Sicht gewisse Einschränkungen vor, setzten die
Arbeitsfähigkeit aber auf 100 % fest. Aus psychiatrischer Sicht bestanden weder
ein Bedarf nach adaptierten Tätigkeiten noch Therapieoptionen.

2.2. Streitig ist, ob das psychiatrische Administrativgutachten des Dr. med.
C.________ vom 9. September 2011 einen Mangel aufweist, der die
(psychiatrische) Neubegutachtung der Beschwerdeführerin erforderlich macht.
Was die - unangefochten gebliebene - rheumatologische Seite betrifft, so hat
die Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich festgestellt (Art. 105 Abs. 1
und 2 BGG), dass der Beschwerdeführerin leichte, wechselbelastende Arbeiten mit
einer Gewichtslimite von 15 kg vollzeitlich zumutbar sind. Nicht offensichtlich
unrichtig oder sonstwie bundesrechtswidrig festgestellt ist zudem die
Statusfrage: Die Beschwerdeführerin wäre im Gesundheitsfall zu 80 % im Service
tätig und 20 % würden auf den Aufgabenbereich entfallen. Unangefochten
geblieben ist auch die Bemessung des hypothetisch erzielbaren Valideneinkommens
gestützt auf die vom Bundesamt für Statistik herausgegebene
Lohnstrukturerhebung.

2.3. Die Vorinstanz befand, das psychiatrische Gutachten des Dr. med.
C.________ weise einen wesentlichen Mangel auf. Seine Stellungnahme lasse sich
nur so interpretieren, dass er von den schriftlichen Ausführungen der Frau Dr.
med. D.________, Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
des Spitals E.________, nicht detailliert Kenntnis genommen habe. Diese habe im
Bericht vom 6. Juli 2011 die vorläufige Diagnose einer chronischen
Schmerzkrankheit mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10 F45.41)
gestellt. Sie habe sich aufgrund einer einmaligen Untersuchung ausser Stande
gesehen, zum Vorliegen eines spezifischen posttraumatischen Störungsbildes,
einer Angsterkrankung oder gar einer spezifischen Persönlichkeitsvariante
Stellung zu nehmen. Dazu habe sie eine weitere
psychiatrisch-psychotherapeutische Diagnostik empfohlen. Die Vorinstanz kam
jedoch zum Schluss, zwischen den fachärztlichen Beurteilungen der Dres. med.
D.________ und C.________ bestünden  im Ergebnis keine relevanten Diskrepanzen,
welche den Beweiswert des psychiatrischen Gutachtens zu schmälern vermöchten.
Trotz einer schwierigen Kindheit und Jugend sei es der Beschwerdeführerin
gelungen, ohne elterliche Unterstützung eine minimale berufliche Ausbildung zu
absolvieren, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und bis zur Trennung während
siebzehn Jahren eine Beziehung zum Vater der beiden jüngeren Kinder aufrecht zu
erhalten. Frau Dr. med. D.________ habe keine depressive Symptomatik mehr
festgestellt. An der von Dr. med. C.________ genannten Rückbildung der
Depression im Jahr 2010 sei nicht zu zweifeln.

2.4. Die Beschwerdeführerin rügt, auch die Vorinstanz gehe davon aus, dass das
psychiatrische Gutachten des Dr. med. C.________ vom 9. September 2011 einen
wesentlichen Mangel aufweise. Die Auffassung, der Mangel sei für die Diagnose
und die Schlussfolgerungen punkto Arbeitsfähigkeit ohne Relevanz, sei
willkürlich und beruhe auf aktenwidrigen Annahmen. Denn es stelle sich die
Frage, ob die Beschwerdeführerin durch ihre traumatische Vergangenheit
eingeholt und dadurch arbeitsunfähig geworden sei. Wenn sie trotz ihrer
frühkindlichen schweren Traumata über viele Jahre einigermassen funktioniert
habe, so habe doch der Umstand, dass sich bei ihrer kleinen Tochter der
sexuelle Missbrauch wiederholt habe, ihre Traumata aufleben lassen; als Kind
sei sie von ihrem Adoptivvater sexuell missbraucht worden. Es komme hinzu, dass
die Tochter vom Halbbruder missbraucht worden sei; diesen habe die
Beschwerdeführerin nach einer Vergewaltigung mit sechzehn Jahren austragen
müssen, weil sie von ihren verhassten Adoptiveltern dazu gezwungen worden sei.
Selbst der Gutachter gehe davon aus, dass die sexuellen Übergriffe des Sohnes
auf die kleine Schwester bei der Beschwerdeführerin zumindest eine
"kurzdauernde Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion" ausgelöst hätten. Wie
bereits die Vorinstanz festgestellt habe, sei das Gutachten mangelhaft, weil es
ausblende, dass auch diese im Kindesalter sexuell missbraucht worden sei. Dr.
med. C.________ habe naheliegende Verdachtsdiagnosen (posttraumatische
Belastungsstörung und Persönlichkeitsstörung) nicht geprüft. Wenn die
Vorinstanz zur sozialen Bindungsfähigkeit der Beschwerdeführerin argumentiere,
diese habe über siebzehn Jahre eine Beziehung zum Vater ihrer beiden jüngeren
Kinder unterhalten können, blende sie aus, dass der Kontakt zur Adoptivfamilie
gänzlich abgebrochen und die Beziehung zum Ehemann von Gewalt- und
Drogenexzessen geprägt gewesen sei; die Polizei habe mehrfach wegen dessen
Gewalttätigkeiten einschreiten müssen.

3. 
Die vorinstanzliche Feststellung, das Gutachten C.________ weise einen
wesentlichen Mangel auf, beruht darauf, dass in der Expertise der Bericht der
Frau Dr. med. D.________ zwar bei den für die psychiatrische Begutachtung
relevanten Dokumenten aufgeführt worden war, sich Dr. med. C.________ aber
inhaltlich nicht damit befasste. Er überging die Lebensgeschichte in
wesentlichen Punkten und erklärte, die Kindheit bzw. Persönlichkeitsentwicklung
der Beschwerdeführerin sei geprägt gewesen von einem "subjektive (n) Mangel an
Liebe und Geborgenheit", jedoch "ohne gravierende traumatische Ereignisse"
verlaufen. Deshalb würden sich "keine Hinweise auf die Bildung einer
Persönlichkeitsstörung" ergeben. Dies kontrastiert zu folgendem Teil der
Lebensgeschichte, die die Beschwerdeführerin gegenüber Frau Dr. med. D.________
schilderte: Sie weiss trotz Abklärungen nach wie vor nicht, wer ihre leiblichen
Eltern sind. Sie verbrachte das erste Lebensjahr in einem Kinderheim. Dann
wurde sie von einem Ehepaar adoptiert und war wiederholt Opfer sexuellen
Missbrauchs. Dass Frau Dr. med. D.________ und Dr. med. C.________ im Ergebnis
keine Diskrepanz aufweisen, bezieht sich ausschliesslich auf die Frage nach
einer möglichen Depression. Darüber hinaus lässt sich keine "Parallelität"
ausmachen, weil Erstere dazu - in Anbetracht der einmaligen Untersuchung -
keine abschliessende Meinung äussern konnte resp. wollte. Letzterer schloss
dagegen die Bildung einer Persönlichkeitsstörung wie auch sonstige psychische
Probleme mit Krankheitswert in der Kindheit (Pubertät und frühes
Erwachsenenalter) aufgrund einer unvollständig erhobenen Anamnese aus. Die
vorinstanzliche Folgerung, zwischen den fachärztlichen Beurteilungen D.________
und C.________ bestünden keine relevanten Diskrepanzen, welche den Beweiswert
des psychiatrischen Gutachtens zu schmälern vermöchten, überzeugt daher nicht.
Die Sache ist zur Klärung des medizinischen Sachverhaltes an das kantonale
Gericht zurückzuweisen, damit es ein neues psychiatrisches Gutachten in Auftrag
gebe und neu entscheide.

4. 
Eine Rückweisung zu erneutem Entscheid mit offenem Ausgang gilt als Obsiegen
(Urteil 2C_60/2011 vom 12. Mai 2011 E. 2.4 mit Hinweis auf BGE 131 II 72 E. 4
S. 80 betreffend das öffentliche Recht). Das Verfahren ist kostenpflichtig
(Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdegegnerin
auferlegt (Art. 65 Abs. 4 lit. a in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 BGG).
Ausserdem hat sie der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung auszurichten
(Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 23. Februar 2015 wird
aufgehoben. Die Sache wird im Sinne der Erwägungen zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. Juli 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Schmutz

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