Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 211/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_211/2015

Urteil vom 21. September 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Fürsprecher Daniel Küng,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(Prozessvoraussetzung; kantonales Verfahren),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 26. Februar 2015.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügung vom 4. November 2011 verneinte die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen den Anspruch von A.________ auf eine Rente der Invalidenversicherung
(Invaliditätsgrad: 33 %).

B.

B.a. In einem mit 2. November 2011 datierten Schreiben an die IV-Stelle
(Eingangsstempel: 14. November 2011) äusserte sich der Hausarzt von A.________,
der mit einer Kopie der Verfügung bedient worden war, dahingehend, die
Beurteilung der Restarbeitsfähigkeit sei nicht gerecht. Im Antwortschreiben vom
15. November 2011 wurde u.a. festgehalten: "Sollte die versicherte Person mit
dem Entscheid nicht einverstanden sein, so verweisen wir auf die
Rechtsmittelbelehrung". Mit Eingabe vom 30. November 2011 erklärten sich die
Versicherte und ihre Tochter, B.________, mit dem "Entscheid IV Rente" nicht
einverstanden; sie stellten weitere Arztberichte in Aussicht und nannten die
Adressen mehrerer Ärzte, von denen die Diagnose verlangt werden könne. In ihrem
Schreiben vom 6. Dezember 2011 wies die IV-Stelle auf die Rechtsmittelbelehrung
in der Verfügung vom 4. November 2011 hin, welche sie im Wortlaut wiedergab.
Eine inhaltlich gleiche Eingabe der Versicherten und ihrer Tochter vom 22.
Dezember 2011 beantwortete sie am 28. Dezember 2011 erneut im Wesentlichen
unter Hinweis auf die Rechtsmittelbelehrung gemäss Verfügung vom 4. November
2011.

B.b. Am 3. Februar 2012 liess A.________ beim Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen eine "Beschwerde- (Ergänzung) " zu ihrem Schreiben an die IV-Stelle
vom 30. November 2011 einreichen. Dieses trat mit Entscheid vom 26 Februar 2015
nicht darauf ein.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 26 Februar 2015 sei aufzuheben und die Prozedur an die
Vorinstanz zur materiellen Entscheidung in der Sache zurückzuweisen.

Das kantonale Versicherungsgericht ersucht um Abweisung der Beschwerde. Die
IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Vernehmlassung.
Erwägungen:

1. 
Die Vorinstanz hat ihr Nichteintreten auf das Schreiben der Beschwerdeführerin
an die IV-Stelle vom 30. November 2011 und ihre "Beschwerde- (Ergänzung) " vom
3. Februar 2012 im Wesentlichen wie folgt begründet: Der Umstand allein, dass
die Erklärung, mit der Abweisung des Rentengesuchs nicht einverstanden zu sein
(und weitere Arztberichte in Aussicht zu stellen), während der laufenden
Beschwerdefrist abgegeben worden sei, könne die Eingabe vom 30. November 2011
noch nicht zur Beschwerde machen. Erforderlich sei die klare Willensäusserung,
die Beschwerdeinstanz um die entsprechend korrigierte Entscheidung zu ersuchen.
"Nur wer die nächsthöhere, d.h. die Rechtsmittelinstanz anruft, erhebt eine
Beschwerde." Das habe die Beschwerdeführerin nicht getan. Sie habe sich trotz
der Rechtsmittelbelehrung in der Verfügung vom 4. November 2011 und trotz des
klaren Hinweises im Schreiben der Beschwerdegegnerin vom 6. Dezember 2011 nicht
an das Versicherungsgericht gewendet, um eine Korrektur der Abweisungsverfügung
und der Zusprache einer Invalidenrente zu erreichen. Vielmehr habe sie dies von
der Beschwerdegegnerin verlangt. Das bedeute, dass sie nicht im Sinne von Art.
58 Abs. 3 ATSG irrtümlicherweise eine Beschwerde bei der unzuständigen
IV-Stelle erhoben habe. Diese habe daher die Eingabe vom 30. November 2011 im
Ergebnis zu Recht nicht an das Versicherungsgericht weitergeleitet. Die
Beschwerdeführerin habe erst am 3. Februar 2012 und damit verspätet gegen die
Verfügung vom 4. November 2011 Beschwerde erhoben.

Dem hält die Beschwerdeführerin entgegen, mit dem Schreiben vom 30. November
2011 sei rechtzeitig innert der laufenden Rechtsmittelfrist (von 30 Tagen; Art.
60 ATSG) und klar erkennbar eine Korrektur der Verfügung vom 4. November 2011
angestrebt worden. Es habe für sie keinen Sinn gemacht, auf eine Überprüfung
dieses Verwaltungsaktes durch ein unabhängiges Gericht, welches umfassende
Kognition habe, zu verzichten zu Gunsten einer Wiedererwägung durch dieselbe
Behörde, die bereits verfügt und die darauf nicht einmal einzutreten habe. Das
Kostenrisiko sei bei Verfahrenskosten von Fr. 600.- im Falle eines
vollständigen Unterliegens nicht von Bedeutung. Für die Annahme eines Willens
zu einer Wiedererwägung hätte es einer ausdrücklichen Erklärung ihrerseits
bedurft.

2.

2.1. Die Beschwerdeführerin und ihre Tochter hatten sich im Schreiben vom 30.
November 2011 mit dem "Entscheid IV Rente" nicht einverstanden erklärt, weitere
Arztberichte in Aussicht gestellt und die Adressen mehrerer Ärzte angegeben,
von denen die Diagnose verlangt werden könne. Die Beschwerdegegnerin
betrachtete die Eingabe nicht als Wiedererwägungsgesuch im Sinne von Art. 53
Abs. 2 ATSG, was sie insbesondere durch den Hinweis auf die
Rechtsmittelbelehrung in der Verfügung vom 4. November 2011 zum Ausdruck
brachte. Sie wäre somit grundsätzlich verpflichtet gewesen, diese unverzüglich
an das zuständige kantonale Versicherungsgericht weiterzuleiten bzw. zu
überweisen (Art. 30 ATSG und Art. 58 Abs. 3 ATSG sowie Art. 8 Abs. 1 VwVG).
Davon durfte sie nicht absehen, etwa weil sie der Auffassung war, das Schreiben
vom 30. November 2011 genüge den formellen Anforderungen an eine Beschwerde in
Bezug auf Antrag und Begründung (Art. 61 lit. b ATSG) nicht, welche namentlich
bei nicht anwaltlich vertretenen Versicherten ohnehin nicht streng sind (vgl.
BGE 116 V 353 E. 2b S. 356; EVGE 1961 S. 286 E. 1). Das zuständige
Versicherungsgericht hat zu entscheiden, ob eine rechtzeitig, allenfalls bei
der verfügenden IV-Stelle eingereichte, nicht notwendigerweise als solche
bezeichnete Beschwerde den Formerfordernissen genügt, insbesondere ob ein
Anfechtungswille gegeben ist (Urteil 9C_ 758/2014 vom 26. November 2014 E. 2
mit Hinweisen).
Ist ein in prozessual gehöriger Form klar bekundeter Anfechtungswille (BGE 134
V 162 E. 2 S. 163) zu bejahen, hat die Beschwerdefrist nach Art. 60 Abs. 1 ATSG
mit dem Schreiben vom 30. November 2011 grundsätzlich als gewahrt zu gelten
(Art. 39 Abs. 2 ATSG [i.V.m. Art. 60 Abs. 2 ATSG] und Art. 21 Abs. 2 VwVG; BGE
120 V 413 E. 3b S. 416; 113 Ib 34 E. 3 S. 39 oben; 111 V 406 E. 2 S. 407;
Urteil 9C_ 885/2009 vom 1. Februar 2010 E. 4.1, in: SVR 2010 IV Nr. 57 S. 175).
Daran ändert der Umstand nichts, dass die Beschwerdegegnerin die betreffende
Eingabe nicht an die Vorinstanz weiterleitete bzw. an sie überwies.

2.2. Die Beschwerde ist eine prozessuale Willenserklärung, worin erkennbar zum
Ausdruck kommt, dass die betreffende Person mit der erlassenen Verfügung nicht
einverstanden ist und diese durch die Rechtsmittelinstanz überprüft haben will
(Urteil 9C_553/2008 vom 6. Juli 2009 E. 2.2 mit Hinweis u.a. auf BGE 117 Ia 126
E. 5c S. 131; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 78/01 vom 30. November
2001 E. 2a). Gegen das Vorliegen eines solchen Willens spricht vorliegend der
Umstand, dass die Beschwerdeführerin trotz der Rechtsmittelbelehrung in der
Verfügung vom 4. November 2011, wonach gegen diesen Verwaltungsakt Beschwerde
beim kantonalen Versicherungsgericht erhoben werden konnte (vgl. Art. 69 Abs. 1
lit. a IVG), an die Beschwerdegegnerin gelangte und dieser gegenüber ihr
Nichteinverständnis mit dem "Entscheid IV Rente" äusserte. Jedoch erfolgte ihre
Eingabe rechtzeitig, das Nichteinverständnis mit der Ablehnung ihres
Leistungsbegehrens war klar und unbedingt formuliert und es wurden sinngemäss
weitere medizinische Abklärungen als notwendig erachtet. Nichts deutet darauf
hin, dass die rechtsunkundige Beschwerdeführerin lediglich die Verfügung noch
einmal angesehen haben wollte, ob wirklich nichts übersehen und alles
berücksichtigt wurde. Die Beschwerdegegnerin selber ging denn auch nicht von
einem blossen Wiedererwägungsgesuch aus, weshalb sie - richtig - auf die
(einzige) Möglichkeit der Beschwerde gemäss Rechtsmittelbelehrung hinwies, um
sich gegen den negativen Bescheid zur Wehr zu setzen. Da Anhaltspunkte für ein
rechtsmissbräuchliches Verhalten der Beschwerdeführerin fehlen, ist aufgrund
des Vorstehenden ein Anfechtungswille zu bejahen.

2.3. Der Mangel einer von der verfügenden IV-Stelle zu Unrecht nicht
weitergeleiteten oder überwiesenen Eingabe an das zuständige kantonale
Versicherungsgericht berechtigt die betroffene Person jedoch nicht, beliebig
lange mit der Erhebung von Beschwerde zuzuwarten. Vielmehr ist sie nach dem
verfassungsmässigen Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV), der auch
für Private im Verkehr mit Behörden gilt (BGE 137 V 394 E. 7.1 S. 403; im
Prozess im Besonderen: BGE 125 V 373 E. 2b/aa S. 375), gehalten, innerhalb
einer nach den Umständen bemessenen vernünftigen Zeitspanne zu handeln (Urteil
9C_758/2014 vom 26. November 2014 E. 3; vgl. auch Urteil 8C_738/2007 vom 26.
März 2008 E. 6.2). Vorliegend fällt speziell ins Gewicht, dass die
Beschwerdeführerin zwei Wochen nach Erhalt der Antwort auf ihr Schreiben vom
30. November 2011 erneut mit Eingabe vom 22. Dezember 2011 der
Beschwerdegegnerin gegenüber ihr Nichteinverständnis mit der Ablehnung ihres
Rentenbegehrens erklärt hatte. Nachdem ihr die Verwaltung mit Schreiben vom 28.
Dezember 2011 wiederum im Wesentlichen mit dem Hinweis auf die
Rechtsmittelbelehrung in der Verfügung vom 4. November 2011 geantwortet hatte
(vgl. Sachverhalt B.a), liess sie, nunmehr anwaltlich vertreten, rund einen
Monat später (am 3. Februar 2012) eine "Beschwerde- (Ergänzung) " zur Eingabe
vom 30. November 2011 einreichen. Dies kann angesichts des Jahreswechsels und
der damit verbundenen Fristenregelung - im Unterschied zu dem mit Urteil 9C_758
/2014 vom 26. November 2014 beurteilten Sachverhalt - nicht als verspätet
bezeichnet werden.

2.4. Der vorinstanzliche Nichteintretensentscheid verletzt somit Bundesrecht
(Art. 95 lit. a BGG). Die Beschwerde ist begründet.

3. 
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen
(Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 26. Februar 2015 wird aufgehoben. Die Sache wird an die
Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie die Beschwerde gegen die Verfügung vom 4.
November 2011 materiell behandle.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 21. September 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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