Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 183/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_183/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 19. August 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Furrer.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Federspiel,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle für Versicherte im Ausland IVSTA, Avenue Edmond-Vaucher 18, 1203
Genf,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Februar
2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1961 geborene A.________, zuletzt von 1. Januar 1991 bis 31. August 1992
(letzter effektiver Arbeitstag: 21. Januar 1991) als Produktionsmitarbeiter bei
der B.________ AG angestellt gewesen, meldete sich am 8. Juni 1994 bei der
Invalidenversicherung (IV) zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons
Thurgau nahm erwerbliche und medizinische Abklärungen vor und sprach A.________
mit Verfügung vom 31. Oktober 1995 eine ganze Invalidenrente mit Wirkung ab 1.
September 1994 zu. Der Anspruch auf eine ganze Rente wurde in der Folge
mehrfach bestätigt.
Im Rahmen einer Revision von Amtes wegen veranlasste die nach der Ausreise des
A.________ in sein Heimatland zuständige IV-Stelle für Versicherte im Ausland
IVSTA eine polydisziplinäre Begutachtung durch das Zentrum C.________
(Expertise vom 5. Dezember 2011). Gestützt darauf und nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren hob sie mit Verfügung vom 6. August 2012 die
Invalidenrente mit Wirkung ab 1. Oktober 2012 auf.

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit
Entscheid vom 3. Februar 2015 ab.

C. 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei ihm ab 1. Oktober 2012
weiterhin eine volle (recte: ganze) Invalidenrente auszurichten. Eventualiter
sei die Rente bis zum Abschluss von Eingliederungsmassnahmen auszurichten.
Während die Beschwerdegegnerin auf Abweisung der Beschwerde schliesst, lässt
sich das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) nicht vernehmen.

Erwägungen:

1. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG),
doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und
Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), nur die geltend gemachten
Vorbringen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind. Hinsichtlich der Verletzung von Grundrechten gilt eine
qualifizierte Rügepflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 280 f.
mit Hinweisen).

2. 
Das Bundesverwaltungsgericht hat die für die Beurteilung der Streitsache
massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen gemäss Gesetz und
Rechtsprechung zutreffend dargelegt, worauf verwiesen wird.

3. 
Die Vorinstanz erwog, gestützt auf das voll beweiskräftige Gutachten des
Zentrums C.________ vom 5. Dezember 2011 sei erstellt, dass sich (seit der
rentenzusprechenden Verfügung) aus orthopädischer Sicht keine wesentlichen
Veränderungen der Beschwerden ergeben hätten, weshalb in der bisherigen und in
anderen schweren Tätigkeiten unverändert eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit und in
einer leichten bis mittelschweren Tätigkeit eine volle Arbeitsfähigkeit
bestehe. Aus psychischer Sicht sei indes von einer wesentlichen Verbesserung
des Gesundheitszustandes auszugehen. So hätten die Gutachter keine
invalidisierende Erkrankung mehr feststellen können, womit psychiatrischerseits
nunmehr eine volle Arbeitsfähigkeit bestehe. Zu einem allfälligen Anspruch auf
Eingliederungsmassnahmen führte das Gericht aus, im Zeitpunkt der
rentenaufhebenden Verfügung sei der Beschwerdeführer 51 Jahre alt gewesen und
habe die Invalidenrente seit 18 Jahren bezogen, womit die Selbsteingliederung
nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden könne. Indes habe die Verwaltung die
Zumutbarkeit der Selbsteingliederung mit Blick auf die konkreten Umstände
bejaht, was nicht zu beanstanden sei. Gestützt auf den Einkommensvergleich
liege keine Invalidität mehr vor, weshalb die Rente aufzuheben sei.

4.

4.1. Der Beschwerdeführer bemängelt zunächst, die Vorinstanz habe das
rechtliche Gehör verletzt, indem sie die von ihm im Beschwerdeverfahren
eingereichten Berichte nur teilweise berücksichtigt und damit eine Widerlegung
des Gutachtens des Zentrums C.________ vereitelt habe. Bezüglich
Grundrechtsverletzungen gilt eine qualifizierte Rügepflicht (E. 1 zweiter
Absatz hievor). Dieser kommt der Beschwerdeführer mit seiner pauschal
gehaltenen Kritik nicht nach, legt er doch in keiner Weise dar, mit welchen
angeblich unberücksichtigt gebliebenen Berichten er welchen Beweis hätte
erbringen wollen. Damit ist auf diese Rüge nicht einzutreten.

4.2. Des Weiteren macht der Beschwerdeführer geltend, die Vorinstanz habe dem
Gutachten des Zentrums C.________ zu Unrecht vollen Beweiswert zuerkannt, was
als Rechtsfrage frei zu prüfen ist (Urteil I 974/06 vom 20. Juli 2007 E. 4.1).
Wie bereits im Verfahren vor Bundesverwaltungsgericht wendet er diesbezüglich
ein, im Zusammenhang mit der Begutachtung seien Verfahrensvorschriften verletzt
worden, zumal er bereits im Vorbescheidverfahren Ablehnungsgründe gegen die
Gutachter erhoben habe. Hiezu hat die V orinstanz unter Hinweis auf die
Rechtsprechung zutreffend festgehalten, formelle Ausstandsgründe (wozu
strukturelle Umstände nicht zählen: BGE 138 V 271) gegen die beteiligten
Gutachter habe der Beschwerdeführer keine vorgebracht. Darauf kann verwiesen
werden. Auch was die letztinstanzlich wiederholte Kritik betrifft, das
Gutachten des Zentrums C.________ beruhe auf unvollständigen Akten, kann den
Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts beigepflichtet werden. Namentlich
ist für den Beweiswert eines MEDAS-Gutachtens erforderlich, dass die Gutachter
sich mit den  wesentlichen Vorakten befassen, was eine hinreichende
Substanziierung der betreffenden Berichte voraussetzt (BGE 137 V 210 E. 6.2.4
S. 270). Letzteres ist bei den in Frage stehenden Kurzberichten, in welchen
lediglich Diagnosen angegeben werden (ohne Anamnese, Befunde etc.), nicht
gegeben. Soweit sich der Beschwerdeführer auf den Arztbericht des Dr. med.
D.________ vom 19. Februar 2013 beruft, ist nicht zu beanstanden, dass das
Bundesverwaltungsgericht erkannte, dieser vermöge die Expertise des Zentrums
C.________ nicht in Zweifel zu ziehen. In diesem Bericht werden keine
wichtigen, nicht rein subjektiver ärztlicher Interpretation entspringenden
Aspekte aufgeführt, die im Rahmen der Begutachtung unerkannt oder ungewürdigt
geblieben wären (Urteil I 514/06 vom 25. Mai 2007 E. 2.2.1, in: SVR 2008 IV Nr.
15 S. 44). Zusammenfassend hat die Vorinstanz das Gutachten des Zentrums
C.________, wonach in einer adaptierten Tätigkeit eine volle Arbeitsfähigkeit
besteht, zu Recht als voll beweiskräftig eingestuft.

5. 
Schliesslich rügt der Beschwerdeführer, die Vorinstanz habe Bundesrecht
verletzt, indem sie den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen verneint habe,
obschon er rund 20 Jahre nicht mehr gearbeitet habe und sich nicht ohne
Weiteres in die Arbeitswelt integrieren könne.
Nach ständiger Rechtsprechung ist im Regelfall eine medizinisch attestierte
Verbesserung der Arbeitsfähigkeit grundsätzlich auf dem Weg der
Selbsteingliederung zu verwerten. Bei Versicherten, die bei Herabsetzung oder
Aufhebung der Invalidenrente das 55. Altersjahrs vollendet haben oder die eine
Rentenbezugsdauer von mindestens 15 Jahren aufweisen, ist - von Ausnahmen
abgesehen - eine Selbsteingliederung indes nicht mehr zumutbar (Urteil 9C_228/
2010 vom 26. April 2011 E. 3, in: SVR 2011 IV Nr. 73 S. 220; Zusammenstellung
der Rechtsprechung in: PETRA FLEISCHANDERL, Behandlung der Eingliederungsfrage
im Falle der Revision einer langjährig ausgerichteten Invalidenrente, in: SZS
2012 S. 360 ff.).
Die von der Rechtsprechung stipulierten besonderen Voraussetzungen sind bei
einer Rentenbezugsdauer von knapp 18 Jahren zum Zeitpunkt der rentenaufhebenden
Revisionsverfügung unbestrittenermassen gegeben. Dennoch erachtete das
Bundesverwaltungsgericht eine Selbsteingliederung als zumutbar. Es erwog, der
Beschwerdeführer könne nach Ausführungen der Verwaltung einen strukturierten
Tagesablauf planen und durchführen, sei aus körperlicher Sicht in der Lage,
einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und sich mit dem Auto fortzubewegen bzw.
Kontakte zu pflegen. Inwiefern damit ein Ausnahmefall im Sinne der
Rechtsprechung vorliegen soll - weder ist die langjährige Abstinenz vom
Arbeitsmarkt auf invaliditätsfremde Gründe zurückzuführen (Urteil 9C_819/2014
vom 19. Juni 2015 E. 4 mit Hinweisen), noch erscheint der Beschwerdeführer
besonders agil und gewandt sowie im gesellschaftlichen Leben integriert (Urteil
9C_68/2011 vom 16. Mai 2011 E. 3.3), noch verfügt er über besonders breite
Ausbildungen und Berufserfahrungen (Urteil 8C_39/2012 vom 24. April 2012 E.
5.2) - legt die Vorinstanz nicht dar. Solches ist auch (anderweitig) nicht
ersichtlich. Mit anderen Worten fehlen vorliegend  konkrete Anhaltspunkte, die
den Schluss zuliessen, der Beschwerdeführer könne sich trotz 18-jähriger Absenz
vom Arbeitsmarkt ohne Hilfestellungen wieder in das Erwerbsleben integrieren.
Die Rentenaufhebung ohne vorherige Abklärungen bzw. ohne eine den Verhältnissen
angepasste Durchführung befähigender Massnahmen ist daher bundesrechtswidrig.
Mithin hat die Beschwerdegegnerin - die Motivation des Beschwerdeführers
vorausgesetzt (Art. 21 Abs. 4 ATSG) - die Verwertbarkeit der wiedergewonnenen
Arbeitsfähigkeit zu prüfen bzw. gegebenenfalls Eingliederungsmassnahmen an die
Hand zu nehmen. Anschliessend ist über die revisionsweise Aufhebung des
Rentenanspruchs neu zu verfügen.

6. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG), welche dem
Beschwerdeführer eine Parteientschädigung auszurichten hat (Art. 68 Abs. 1
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts
vom 3. Februar 2015 und die Verfügung der IV-Stelle für Versicherte im Ausland
IVSTA vom 6. August 2012 werden aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle für
Versicherte im Ausland IVSTA zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen
vorgehe und anschliessend neu verfüge.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Bundesverwaltungsgericht, Abteilung III,
zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesverwaltungsgericht, Abteilung III,
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. August 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Meyer

Der Gerichtsschreiber: Furrer

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