Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 174/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_174/2015

Urteil vom 10. August 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hans-Martin Allemann,
Beschwerdeführer,

gegen

Sozialversicherungsanstalt des Kantons Graubünden, AHV-Ausgleichskasse,
Ottostrasse 24, 7000 Chur,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden
vom 25. November 2014.

Sachverhalt:

A. 
Der 1962 geborene türkische Staatsangehörige A.________ reiste 1984 in die
Schweiz ein. Er ist verheiratet und Vater von vier Kindern (geboren 1981, 1983,
1992 und 2000); die Ehefrau und die Kinder wohnen in der Türkei. Seit 1.
Februar 1996 bezieht er eine ganze resp. seit 1. Januar 2005 eine
Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung. Die AHV-Ausgleichskasse richtete
ihm seit 1. September 2005 Ergänzungsleistungen zur Invalidenrente aus. Nach
Abklärungen im Rahmen eines Revisionsverfahrens kam sie zum Schluss, im Jahr
2013 habe  A.________ 167 Tage in der Türkei verbracht, weshalb die Karenzfrist
unterbrochen worden sei; zudem sei auch das Erfordernis des Wohnsitzes und
gewöhnlichen Aufenthalts nicht erfüllt. Folglich verneinte sie mit Verfügung
vom 23. April 2014 den Anspruch auf Ergänzungsleistungen rückwirkend ab 1.
Januar 2013; gleichzeitig forderte sie zu Unrecht bezogene Ergänzungsleistungen
im Betrag von Fr. 8'448.- zurück. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom
20. Juni 2014 fest.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden mit Entscheid vom 25. November 2014 ab.

C. 
 A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten die
Aufhebung des Entscheids vom 25. November 2014 beantragen. Ferner ersucht er um
unentgeltliche Rechtspflege. Zudem verlangt er mittels "Beweisantrag" die
Einholung eines psychiatrischen Gutachtens.

Die AHV-Ausgleichskasse des Kantons Graubünden schliesst auf Abweisung der
Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Auf den Beweisantrag, der sich auf das bundesgerichtliche Verfahren bezieht
(vgl. MEYER/DORMANN, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011,
N. 7 zu Art. 107 BGG), ist nicht einzutreten: Es wird nicht dargelegt und ist
auch nicht ersichtlich, inwiefern erst der angefochtene Entscheid zu einem
psychiatrischen Gutachten Anlass gegeben haben soll (vgl. Art. 99 Abs. 1 BGG).
Zudem stellt das Bundesgericht - anders als das kantonale Gericht (vgl. Art. 61
lit. c ATSG) - den Sachverhalt in der Regel nicht selber fest: Es legt seinem
Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105
Abs. 1 BGG) und kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG).

2.

2.1. Personen mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt (Art. 13 ATSG) in der
Schweiz, die Anspruch haben auf eine Rente oder eine Hilflosenentschädigung der
Invalidenversicherung (IV), haben - sofern die weiteren
Anspruchsvoraussetzungen (vgl. insbesondere Art. 9 und 14 ELG [SR 831.30])
erfüllt sind - Anspruch auf Ergänzungsleistungen (Art. 4 Abs. 1 lit. c ELG).
Ausländerinnen und Ausländern wird eine Karenzfrist auferlegt in dem Sinne, als
sie sich unmittelbar vor dem Zeitpunkt, ab dem die Ergänzungsleistung verlangt
wird, während zehn Jahren ununterbrochen in der Schweiz aufgehalten haben
müssen (Art. 5 Abs. 1 ELG). Für Flüchtlinge und staatenlose Personen beträgt
die Karenzfrist fünf Jahre (Art. 5 Abs. 2 ELG). Ausländerinnen und Ausländern,
die gestützt auf ein Sozialversicherungsabkommen Anspruch auf ausserordentliche
Renten der AHV oder IV hätten, steht, solange sie die Karenzfrist nach Absatz 1
nicht erfüllt haben, eine Ergänzungsleistung höchstens in der Höhe des
Mindestbetrages der entsprechenden ordentlichen Vollrente zu (Art. 5 Abs. 3
ELG).

Türkische Staatsangehörige haben unter den gleichen Voraussetzungen wie
Schweizerbürger Anspruch auf die ausserordentlichen Renten der schweizerischen
Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung, solange sie in der Schweiz
Wohnsitz haben und sofern sie unmittelbar vor dem Zeitpunkt, von welchem an die
Rente verlangt wird, im Falle u.a. einer Invalidenrente ununterbrochen während
mindestens fünf Jahren in der Schweiz gewohnt haben (Art. 11 in Verbindung mit
Art. 1 Abs. 2 des Abkommens vom 1. Mai 1969 zwischen der Schweiz und der
Republik Türkei über soziale Sicherheit [nachfolgend: Abkommen; SR
0.831.109.763.1]). Türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Schweiz,
welche die Schweiz nicht länger als gesamthaft drei Monate je Kalenderjahr
verlassen, unterbrechen ihre Wohndauer in der Schweiz im Sinne von Artikel 11
des Abkommens nicht (Ziff. 6 des Schlussprotokolls zum Abkommen).

2.2. Der Anspruch auf eine jährliche Ergänzungsleistung besteht ab Beginn des
Monats, in dem die Anmeldung eingereicht worden ist, sofern sämtliche
gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 12 Abs. 1 ELG). Der Anspruch
erlischt am Ende des Monats, in dem eine der Voraussetzungen dahingefallen ist
(Art. 12 Abs. 3 ELG).

3.

3.1. Die Vorinstanz hat zutreffend dargelegt, dass während der Karenzfrist
gemäss Art. 5 Abs. 1 ELG resp. Art. 11 Abkommen ein "ununterbrochener
Aufenthalt" resp. "ununterbrochenes Wohnen" erforderlich ist, und dass sich die
Auslegung dieser Begriffe in concreto an Ziff. 6 des Schlussprotokolls zum
Abkommen orientiert, während sich jene des "Wohnsitzes und gewöhnlichen
Aufenthalts" gemäss Art. 4 Abs. 1 ELG nach Art. 13 ATSG richtet. Weiter hat sie
verbindlich (E. 1) festgestellt, der Versicherte habe sich 2013 an insgesamt
167 Tagen (davon 24 im März, 30 im April, 29 im Mai, 16 im August, 30 im
September, 31 im Oktober und 7 im November) nicht in der Schweiz aufgehalten,
ohne dass es dafür einen triftigen Grund gegeben habe.

3.2. Sodann hat das kantonale Gericht aus der insgesamt 167-tägigen Abwesenheit
den rechtlichen Schluss gezogen, die (fünfjährige) Karenzfrist sei Ende
Dezember 2012 nicht mehr erfüllt gewesen, weshalb der Anspruch auf
Ergänzungsleistungen zu diesem Zeitpunkt erloschen sei. Folglich hat es die
rückwirkende Aufhebung des Anspruchs und die entsprechende Rückforderung
bestätigt.

3.3. Ob als zeitlicher Aspekt zu berücksichtigen ist, dass die
Landesabwesenheit von insgesamt mindestens 92 Tagen (Ziff. 6 des
Schlussprotokolls zum Abkommen; vgl auch Rz. 2440.02 der Wegleitung des BSV
über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV [WEL; http://www.bsv.admin.ch/
vollzug/documents/view/1638/lang:deu/category:59]) nicht bereits Ende Dezember
2012, sondern erst im August 2013 erreicht wurde (vgl. E. 2.2), braucht hier
nicht beantwortet zu werden.

Dem vorinstanzlichen Standpunkt kann schon in grundsätzlicher Hinsicht nicht
beigepflichtet werden: Nach dem klaren Wortlaut der massgeblichen Bestimmungen
(E. 2.1; ebenso in der französischen und italienischen Fassung) ist die
Karenzfrist unmittelbar  vor Anspruchsbeginn zu erfüllen. Sie ist denn auch nur
Kriterium für die Entstehung des Anspruchs und als solches nicht geeignet, eine
bereits bestehende Bezugsberechtigung erlöschen zu lassen (vgl. Urteil P 23/00
vom 26. Juli 2001 E. 6). Da der Beschwerdeführer seit September 2005
ununterbrochen Ergänzungsleistungen bezieht, ist die Karenzfrist hier nicht von
Belang. Deren Berücksichtigung im konkreten Fall verletzt Bundesrecht; in
diesem Sinn ist die Beschwerde offensichtlich begründet (vgl. Art. 109 Abs. 2
lit. b BGG).

Daran ändert nichts, dass in Rz. 2330.01 WEL ebenfalls eine Frist von drei
Monaten resp. 92 Tagen erwähnt wird: Die entsprechende Weisung konkretisiert
den Begriff des "gewöhnlichen Aufenthalts" (Art. 4 Abs. 1 ELG) und bezieht sich
auf den Fall, dass eine Person länger als 92 Tage  am Stück (d'une traite, di
fila) landesabwesend ist, was hier nicht zutrifft (E. 3.1).

3.4. Mit der beantragten Aufhebung des angefochtenen Entscheids allein hat es
indessen nicht sein Bewenden. Angesichts des Auslandaufenthalts des
Beschwerdeführers und der Begründung der AHV-Ausgleichskasse in ihrer Verfügung
vom 23. April 2014 ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie
Feststellungen in Bezug auf den Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt im Jahr
2013 treffe und über ein allfälliges Erlöschen des Anspruchs (E. 2.2) neu
entscheide.

4. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdeführer hat
Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 25. November 2014 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im
Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden,
Kammer 2 als Versicherungsgericht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. August 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Dormann

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