Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 173/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_173/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 29. Juni 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
 A.________, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur. Martin Kessler,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Wiedererwägung),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 16. Januar 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________ bezog ab 1. November 2005 eine ganze, ab 1. Januar 2007 eine
Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung samt ...   Kinderrenten (Verfügung
der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 11. November 2008). Nach Bestätigung des
Rentenanspruchs bei einem unveränderten Invaliditätsgrad von 62 % (Mitteilung
vom 11. August 2011 und Verfügung vom 26. Januar 2012), stellte die Ehefrau von
A.________ im Juni 2012 das Gesuch um Revision der Rente wegen Verschlechterung
des Gesundheitszustandes. Nach Abklärungen (u.a. Expertise des
Begutachtungszentrums D._________ vom 16. Mai 2015) und nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren hob die IV-Stelle mit Verfügung vom 10. Dezember 2013 die
Dreiviertelsrente wiedererwägungsweise auf.

B. 
Die Beschwerde von A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
mit Entscheid vom 16. Januar 2015 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der Entscheid vom 16. Januar 2015 sei aufzuheben und ihm eine ganze Rente,
eventualiter eine Dreiviertelsrente zuzusprechen; subeventualiter sei die Sache
zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen, unter Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege.

Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Der Beschwerdeführer hat einen nach Erlass des angefochtenen Entscheids
erstellten ärztlichen Bericht vom 5. März 2015 ins Recht gelegt. Dieses
Dokument hat aufgrund des Verbots, im Beschwerdeverfahren echte Noven
beizubringen (statt vieler Urteil 8C_721/2014 vom 27. April 2015 E. 2), sowie
aufgrund der Bindung des Bundesgerichts an den vorinstanzlich festgestellten
Sachverhalt (Art. 105 Abs. 1 BGG) mit Beschränkung der Prüfung in tatsächlicher
Hinsicht auf die in Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG festgelegten
Beschwerdegründe unbeachtet zu bleiben (Urteil 9C_25/2015 vom 1. Mai 2015 E. 1
mit Hinweis).

2.

2.1. Der Versicherungsträger kann auf formell rechtskräftige Verfügungen oder
Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und
ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (Wiedererwägung; Art. 53 Abs. 2
ATSG). Vorausgesetzt ist, dass kein vernünftiger Zweifel an der Unrichtigkeit
der Verfügung möglich, also nur dieser einzige Schluss denkbar ist. Dies trifft
in der Regel zu, wenn eine Leistungszusprechung aufgrund falscher Rechtsregeln
erfolgte oder wenn massgebliche Bestimmungen nicht oder unrichtig angewandt
wurden. Soweit indessen ermessensgeprägte Teile der Anspruchsprüfung vor dem
Hintergrund der damaligen Sach- und Rechtslage einschliesslich der Rechtspraxis
in vertretbarer Weise beurteilt worden sind, scheidet die Annahme zweifelloser
Unrichtigkeit aus (Urteil 9C_121/2014 vom 3. September 2014 E. 3.2.1 mit
Hinweisen, in: SVR 2014 IV Nr. 39 S. 137).

2.2. Bei der Wiedererwägung einer formell rechtskräftigen Verfügung oder eines
formell rechtskräftigen Einspracheentscheides gilt es, wenn spezifisch
IV-rechtliche Aspekte zur Diskussion stehen, mit Wirkung ex nunc et pro futuro
einen rechtskonformen Zustand herzustellen      (Art. 85 Abs. 2, Art.
88bis Abs. 1 lit. c IVV). Um die Frage nach dem zukünftigen Rentenanspruch
prüfen zu können, muss die zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen
Rentenverfügung festgestellt sein. Ist dies der Fall und die Berichtigung von
erheblicher Bedeutung, was auf periodische Dauerleistungen regelmässig
zutrifft, sind die Anspruchsberechtigung und allenfalls der Umfang des
Anspruchs pro futuro zu prüfen. Dabei ist wie bei einer materiellen Revision
nach Art. 17 Abs. 1 ATSG auf der Grundlage eines richtig und vollständig
festgestellten Sachverhalts der Invaliditätsgrad im Zeitpunkt der Verfügung
oder des Einspracheentscheides zu ermitteln (Urteile 8C_818/2012 vom       11.
März 2013 E. 6.1, 9C_22/2012 vom 4. Mai 2012 E. 3.1 und 9C_11/2008 vom 29.
April 2008 E. 4.2.1 mit Hinweisen).

3. 
Die Vorinstanz hat erwogen, die Zusprechung einer ganzen Rente vom 1. November
2005 bis 31. Dezember 2006 gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 100 %
widerspreche den fachärztlichen Einschätzungen, wonach im Zeitraum bis Oktober
2006 in angepasster Tätigkeit von keiner Arbeitsunfähigkeit auszugehen gewesen
sei, und müsse daher bereits in zeitlicher Hinsicht als aktenwidrig und damit
als zweifellos unrichtig bezeichnet werden. Die Aufhebung der Verfügung vom 11.
November 2008 unter dem Rückkommenstitel der Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2
ATSG sei somit zu Recht erfolgt. Gemäss dem Gutachten des Begutachtungszentrums
D._________ vom 16. Mai 2013 bestehe in einfach strukturierten, eher
repetitiven und körperlich leichten und wechselbelastenden Tätigkeiten eine
Arbeitsfähigkeit von 50 %. Darauf könne indessen nicht unbesehen abgestellt
werden. So beruhe die aus rheumatologischer Sicht attestierte
Arbeitsunfähigkeit von 70 % auf der diagnostizierten möglichen
undifferenzierten Kollagenose. Da im Bereich des Sozialversicherungsrechts der
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit gelte, sei indessen eine nur
möglicherweise vorliegende Diagnose nicht geeignet, eine Einschränkung der
Arbeits- und Erwerbsfähigkeit zu begründen. Weiter handle es sich bei der
Schmerzfehlentwicklung mit körperlichen und psychischen Faktoren (ICD-10
F45.41) um ein pathogenetisch-ätiologisch unklares syndromales Beschwerdebild.
Ob die aus psychiatrischer Sicht mit 50 % bezifferte Arbeitsunfähigkeit im
Rechtssinne invalidisierend sei, beurteile sich somit nach der mit BGE 130 V
352 begründeten Rechtsprechung. Diesbezüglich bestünden keinerlei Anzeichen
dafür, dass die ebenfalls diagnostizierte depressive Störung mittelgradigen
Ausmasses (ICD-10 F32.1) ein selbständiges, vom psychogenen Schmerzgeschehen
losgelöstes Leiden sei. Die Beschwerdegegnerin sei damit unter Berücksichtigung
der Kriterien zur Überwindbarkeit der Schmerzstörung (vgl. BGE 139 V 547 E. 9.1
und E. 9.1.1 S. 565) zu Recht von der fachärztlichen Beurteilung abgewichen und
habe eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit verneint. Der Beschwerdeführer sei
somit im Zeitpunkt der angefochtenen Verfügung vom 10. Dezember 2013 weder aus
somatischer noch aus psychiatrischer Sicht arbeitsunfähig gewesen.

4.

4.1. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht substanziiert, dass in Bezug auf die
ganze Rente vom 1. November 2005 bis 31. Dezember 2006 die
Wiedererwägungsvoraussetzung der zweifellosen Unrichtigkeit gegeben ist. Das
gelte jedoch nicht hinsichtlich der mit derselben Verfügung vom 11. November
2008 zugesprochenen Dreiviertelsrente ab 1. Januar 2007. Das seinerzeit
eingeholte Administrativgutachten vom 15. Juli 2008 sei ab Herbst 2006 von
einer Arbeitsunfähigkeit von 50 % aus rheumatologischer Sicht ausgegangen,
welcher Einschätzung sich der regionale ärztliche Dienst in seiner
Stellungnahme vom 25. Juli 2008 angeschlossen habe.

4.1.1. Im Gutachten vom 15. Juli 2008 wurden folgende rheumatologische und
psychiatrische Diagnosen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit gestellt:
Generalisiertes Schmerzsyndrom (ICD-10 R52.9), DD undifferenzierte Kollagenose;
leichte depressive Episode (ICD-10 F32.01). Weiter wurde ohne Auswirkung auf
die Arbeitsfähigkeit eine Schmerzverarbeitungsstörung (ICD-10 F54)
diagnostiziert. In der rheumatologischen Beurteilung wurde festgehalten, als
Grunderkrankung müsse mit hoher Wahrscheinlichkeit ein systemischer Lupus
erythematodes angenommen werden. Die Symptomatik und das Verhalten des
Exploranden entsprächen jedoch nicht den bei einem solchen Krankheitsbild
relativ häufigen typischen sekundären weichteilrheumatischen Beschwerden.
Sämtliche Untersuchungen zum Nachweis eines sekundären Organbefalls seien
bisher negativ ausgefallen. Der Versicherte zeige ein deutlich dysfunktionales
maladaptives passives Schmerz- und Krankheitsbewältigungsverhalten mit
Katastrophisierung, das nicht durch den Lupus erythematodes erklärt werden
könne. Es bestehe eine deutliche Schmerzverarbeitungsstörung sowie begleitend
auch eine psychische Problematik. Zusätzlich bestehe auch ein
lumbospondylogenes Schmerzsyndrom und ein zerviko-vertebrales bis
zerviko-zephales Schmerzsyndom bei Wirbelsäulenfehlform und -fehlhaltung,
allgemeiner muskulärer Dekonditionierung. In der klinischen Untersuchung hätten
sich keine Hinweise für eine zerviko- oder lumboradikuläre Reiz- oder
Ausfallsymptomatik gefunden.

4.1.2. Diagnosen und Befunde im Gutachten vom 15. Juli 2008, dessen Beweiswert
ausser Frage steht, zeigen, dass bei der Rentenzusprechung 2008 eine unter den
Begriff pathogenetisch-ätiologisch unklares syndromales Beschwerdebild ohne
organische Grundlage (vgl. zur Definition: BGE 139 547 E. 9.4 S. 568) fallende
Schmerzstörung vorlag. Sie vermochte daher aus rechtlicher Sicht für sich
allein den Nachweis einer gesundheitlichen Einschränkung mangels
Objektivierbarkeit nicht zu erbringen, und die darauf gestützte fachärztliche
Einschätzung der Arbeitsfähigkeit konnte nicht ohne weiteres Grundlage der
Ermittlung des Invaliditätsgrades bilden (Urteil 8C_654/2014 vom 6. März 2015
E. 5.1). Vielmehr hätte die Beschwerdegegnerin anhand der einschlägigen
Kriterien (vgl. BGE 139 V 547          E. 9.1.1 S. 565) prüfen müssen, ob
ausnahmsweise von einer nicht mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbaren
Schmerzstörung und somit von einem invalidisierenden Gesundheitsschaden
auszugehen ist (BGE 137 V 64 E. 1.2 S. 66), was sie indessen nicht tat. Die
Zusprechung (auch) der Dreiviertelsrente ab 1. Januar 2007 beruhte somit auf
einer rechtsfehlerhaften Invaliditätsbemessung und muss daher als zweifellos
unrichtig im wiedererwägungsrechtlichen Sinne bezeichnet werden. Es kann daher
offenbleiben, ob im Lichte von BGE 140 V 514 E. 5.2 S. 520 überhaupt auf die
(ursprünglich) zugesprochene ganze Rente (vgl. E. 4.1 vorne)
wiedererwägungsweise zurückgekommen werden durfte.

4.2. Weiter bringt der Beschwerdeführer vor, das Gutachten des
Begutachtungszentrums D._________ vom 16. Mai 2013 sei beweiskräftig. Es gäbe
keine konkreten Indizien, welche gegen die Zuverlässigkeit der Expertise
sprächen. Somit sei zumindest von einer Arbeitsunfähigkeit von 50 % auszugehen.
Die Feststellung der Vorinstanz, die Depressionssymptomatik sei nicht als von
der Schmerzfehlentwicklung unabhängiges Leiden zu betrachten, sei nicht
einsichtig und entbehre einer nachvollziehbaren Begründung. Da seine Depression
als eigenständiges Leiden zu betrachten sei, könne kein
pathogenetisch-ätiologisch unklares syndromales Beschwerdebild ohne organische
Grundlage gegeben sein.

4.2.1. Im polydisziplinären Gutachten (psychiatrisch, internistisch,
rheumatologisch) vom 16. Mai 2013 wurden folgende Diagnosen mit Auswirkungen
auf die Arbeitsfähigkeit gestellt: 1. Undifferenzierte Kollagenose möglich, mit
seit Jahren gemäss Akten und klinisch ohne labormässige, radiologische und
klinische Aktivitätszeichen, deutlichen Zeichen einer Schmerzfehlverarbeitung
und von Selbstlimitierungen; 2. depressive Störung mittelgradigen Ausmasses
(ICD-10 F32.1);      3. Schmerzfehlentwicklung mit körperlichen und psychischen
Faktoren (ICD-10 F45.41). In der Beurteilung wurde festgehalten, der
Gesundheitszustand aus psychiatrischer Sicht habe sich seit Mai 2012
verschlechtert; das klinische Bild aus rheumatologischer Sicht erscheine seit
Jahren mehr oder weniger unverändert mit deutlich im Vordergrund stehendem
multilokulärem Schmerzsyndrom, das in dieser Art im engeren Sinne keinem
rheumatologischen Krankheitsbild entspreche. Dem Versicherten könne für eine
einfach strukturierte, eher repetitive und körperlich leichte und
wechselbelastende Tätigkeit eine Arbeitsfähigkeit von 50 % zugemutet werden.
Dabei spielten heute vor allem die psychischen Einschränkungen eine Rolle. Aus
rheumatologischer Sicht ohne Einbezug des multilokulären Schmerzsyndroms, das
überwiegend als nicht-somatisch bedingt beurteilt werde, bestehe in einer
angepassten Tätigkeit eine Arbeitsfähigkeit von etwa 70 %. Die diesbezügliche
Einschränkung sei in der psychiatrisch bedingten mitberücksichtigt.

4.2.2. Aufgrund der Diagnosen ist für die Frage, ob auch im Zeitpunkt der
streitigen Rentenaufhebung, d.h. ab Dezember 2013, von einem
pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebild ohne organische
Grundlage auszugehen ist, entscheidend, ob die depressive Störung
mittelgradigen Ausmasses (ICD-10 F32.1) lediglich als Begleiterscheinung der
Schmerzfehlentwicklung mit körperlichen und psychischen Faktoren (ICD-10
F45.41) oder als ein selbständiges, davon losgelöstes Leiden anzusehen ist. Im
zweiten Fall liegt kein "unklares Beschwerdebild" (BGE 140 V 290 E. 3.3.2 S.
297) vor (Urteil 9C_420/2014 vom 27. November 2014 E. 3 mit Hinweisen).

Die Vorinstanz hat festgestellt und erwogen, es bestünden keinerlei Anzeichen
für eine Eigenständigkeit der depressiven Symptomatik. Daher sei die
Beschwerdegegnerin zu Recht unter Berücksichtigung der Kriterien zur
Überwindbarkeit diagnostizierten Schmerzstörung aus rechtlicher Sicht von der
fachärztlichen Beurteilung der Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeit abgewichen. Wenn
diese Feststellung - keine eigenständige, sondern reaktive Depression - auch
knapp und diskutabel erscheint, so kann diese nicht als offensichtlich
unrichtig bezeichnet werden. Der Beschwerdeführer bestreitet diese Feststellung
nicht substantiiert und legt nicht dar, inwiefern sie bundesrechtswidrig sein
soll. Jedenfalls kann sie nicht ernsthaft in Frage gestellt werden mit den
Hinweisen, er ziehe sich familiär und sozial zurück, er sei wieder in
psychiatrischer Behandlung bzw. es liege ein Krankheitsgewinn vor, da er jede
Verantwortung aufgegeben habe.

4.2.3. Das kantonale Gericht hat in Anwendung der bisherigen Rechtsprechung zu
den Schmerzstörungen (BGE 139 V 547) gestützt auf das Adminstrativgutachten
erwogen, der Beschwerdeführer sei weder aus psychiatrischer noch aus
somatischer Sicht arbeitsunfähig gewesen (E. 3 hievor). An diesem Ergebnis
ändert die seit dem 3. Juni 2015 geänderte bundesgerichtliche Rechtsprechung zu
den psychosomatischen Leiden nichts (vgl. zur Publikation vorgesehenes Urteil
9C_492/2014 vom 3. Juni 2015; zur Anwendbarkeit auf laufende Verfahren vgl. E.
8 mit Hinweis auf BGE 137 V 210 E. 6 S. 266), dies aus folgenden Gründen:

4.2.4. Der psychiatrische Teilgutachter ging im Jahr 2013 von einer psychisch
bedingten reduzierten Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers von 50 % aus wegen
"einer depressiven Störung mittelgradigen Ausmasses (ICD-10 F32.1) und einer
Schmerzfehlentwicklung mit körperlichen und psychischen Faktoren (ICD-10
F45.41) ", welche "aufgrund seiner Schilderungen schon seit Jahren zu
persistieren scheint". Es liege, so der Gutachter weiter, "ein etwas
akzentuierteres Bild" vor als im Zeitpunkt der Erstbegutachtung im Jahr 2008.
Die objektiven Befunde würden allerdings nicht so recht zu einer schweren
depressiven Störung passen. Die Motivation müsse hinterfragt werden, denn der
Versicherte wirke affektiv moduliert, sei psychomotorisch nicht beeinträchtigt,
ebenso wenig kognitiv. Psychosozial Belastendes sei nicht zu eruieren. Nicht
ganz klar sei, weshalb eine ambulante psychotherapeutische Behandlung erst seit
Frühling 2012 in Angriff genommen worden sei, obwohl nach seinen Angaben sein
Zustand schon vorher in ähnlicher Weise schlecht gewesen sei. Dies erwecke den
Verdacht von strategischen Überlegungen. Der Versicherte müsse dringend den
Tagesablauf besser strukturieren und sich vermehrt aktivieren; er verhalte sich
völlig inadäquat. Er gebe ja selber an, dass das lange Liegen seine Schmerzen
verstärke. Er befinde sich durch den ausgesprochen passiven Tagesablauf in
einem Teufelskreis, werde zunehmend unzufrieden. Es bestehe auch eine
verstärkte Selbstbeobachtung und Selbstwahrnehmung und dadurch auch eine
subjektive Zunahme der Körperbeschwerden, was sich wiederum ungünstig auf seine
Stimmungslage auswirke und das gereizt-dysphorische Verhalten weitgehend
erkläre.

4.2.5. Aufgrund dieser gutachterlichen Ausführungen bestehen schon auf der
Ebene der Diagnosestellung nicht auszuräumende Zweifel an der Schwere und
Dauerhaftigkeit des Schmerzleidens und der Depression. Dies aufgrund der
gleichzeitigen Bemerkung des Gutachters, bei aktiverem eigenen Zutun könnte der
Beschwerdeführer "aus dem Teufelskreis" von Schmerzen und Unzufriedenheit
herauskommen. Dringend indiziert wäre, so der Gutachter Dr. B.________ weiter,
"dass der Explorand seinen Tagesablauf besser strukturiert und Verantwortung
übernimmt, allenfalls wäre bei geeigneter Motivation eine Behandlung in einer
Tagesklinik in Erwägung zu ziehen, solange er keiner Arbeit nachgeht." Diese
die Diagnose ausschliessende Einschätzung weist darauf hin, dass der Gutachter
dem Beschwerdeführer angesichts von doch noch vorhandenen Ressourcen eine
gewisse Eigenanstrengung zur Milderung des Leidens zumutet. Das - nicht nur
krankheitsbedingte - völlig passive Verhalten des Beschwerdeführers in allen
Bereichen ist auffallend und wird von den Gutachtern durchwegs als inadäquat
bezeichnet (Die Ehefrau des Beschwerdeführers ist zu 100 % erwerbstätig und
führt ohne seine Hilfe den 7-köpfigen Haushalt). Das viele Liegen wirkt nach
den eigenen Angaben des Beschwerdeführers schmerzverstärkend.
Es erscheint bei diesen Gegebenheiten nicht nur überwiegend wahrscheinlich,
sondern geradezu offensichtlich, dass der Beschwerdeführer in der Lage wäre,
auch durch eigenes aktives Tun (Tagesstruktur, Mithilfe im Haushalt) dem
leidensverstärkenden regressiven Verhalten entgegenzuwirken. Sein passives
Verhalten erscheint nach Lage der Akten nicht ausschliesslich
krankheitsbedingt, sondern hat (auch) mit fehlender Motivation zu tun.

4.2.6. Hinzu kommt die offensichtlich unzureichende Befolgung von
therapeutischen Empfehlungen: Beide psychiatrischen Gutachter (von 2008 und von
2013) beschrieben dysfunktionales, regressives Verhalten des Beschwerdeführers
und dessen zunehmende Dekonditionierung. Durch eine bereits im Jahre 2007 (vgl.
EPD = Externer Psychiatrischer Dienst Baden vom 20. Februar 2007) dringend
empfohlene psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung, so befand
bereits der damalige Gutachter, könne dieser Zustand durchbrochen werden. Indes
hat der Beschwerdeführer erst im Frühling 2012 eine wenig intensive ambulante
Behandlung aufgenommen, was, wie der Psychiater im Gutachten 2013 anmerkte,
Verdacht auf strategisches Verhalten wecke. Schon der im Jahr 2008 beauftragte
Erstgutachter hatte von "bei weitem nicht ausgenützt (-en) "
Behandlungsmöglichkeiten gesprochen. Der Beschwerdeführer wurde auch im
psychiatrischen Gutachten aus dem Jahr 2008 von Dr. C.________ als
bewusstseinsklar, voll orientiert beschrieben, ohne Merkfähigkeitsstörungen,
mit unauffälligem Langzeitgedächtnis.

4.2.7. Überzeugend hat das kantonale Gericht auch den rheumatologischen Teil
des Gutachtens gewürdigt: Das Verhalten des Beschwerdeführers sei inkonsistent.
Dies zeigten auch pseudoneurologische Veränderungen und variable
Bewegungsausmasse einzelner Gelenke, respektive von Wirbelsäulenabschnitten
während und ausserhalb der eigentlichen Untersuchungssituation; überdies müsse
bei allen Gelenken eine Gegeninnervation überwunden werden, was bei wirklichen
Gelenkleiden aussergewöhnlich sei. Zudem bestehe lediglich ein Verdacht einer
Kollagenose, welches Krankheitsbild labormässig trotz vieler Untersuchungen und
Behandlungen, auch stationären, nicht habe verifiziert werden können. Weder
habe seit vielen Jahren labormässig eine relevante Entzündungsaktivität noch
eine Organbeteiligung ausgewiesen werden können. Durch das Absetzen der
Medikamente im Jahre 2012 hätten sich die körperlichen Symptome des
Beschwerdeführers gemäss seinen eigenen Angaben nicht verändert. Aus all diesen
Gründen könne die vom rheumatologischen Gutachter attestierte 70 %ige
Arbeitsfähigkeit nicht übernommen werden. Vielmehr sei - rheumatologisch - von
einer 100 %igen Arbeitsfähigkeit auszugehen.

4.3. Zusammenfassend überwiegen die Gründe, die keine massgebliche
Arbeitsunfähigkeit annehmen lassen, klar. Die Schmerzstörung und die reaktive
mittelgradige depressive Störung werden unter anderem durch das passive,
inadäquate Verhalten des Beschwerdeführers unterhalten. Der Gutachter mutet dem
Beschwerdeführer (mehr) Initiative zu und äussert Zweifel an dessen Motivation.
Der Beschwerdeführer hat Therapieoptionen seit Jahren - trotz ärztlicher
Empfehlungen - nicht wahrgenommen. Liegt aber ein Ausschlussgrund vor, erübrigt
sich die Durchführung eines strukturierten Beweisverfahrens nach den
massgeblichen Standardindikatoren gemäss dem Urteil 9C_492/2014 vom 3. Juni
2015 (vgl. E. 2.2).

Im somatischen Bereich wird lediglich der Verdacht auf eine entzündliche
Erkrankung diagnostiziert, und das Verhalten des Beschwerdeführers zeigt sich
in verschiedener Hinsicht inkonsistent.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat grundsätzlich der Beschwerdeführer
die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE
125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG
hingewiesen, wonach er der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später
dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird gutgeheissen und es wird dem Beschwerdeführer Rechtsanwalt Martin Kessler
als Rechtsbeistand beigegeben.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.-
ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. Juni 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Fessler

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