Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 162/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_162/2015

Urteil vom 12. August 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Williner.

Verfahrensbeteiligte
1.       A.________,
2.       B.________ AG,
beide vertreten durch Rechtsanwalt Felix Schürch,
Beschwerdeführer,

gegen

Spida AHV Ausgleichskasse,
Bergstrasse 21, 8044 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Nidwalden
vom 25. August 2014.

Sachverhalt:

A. 
Anlässlich einer Arbeitgeberkontrolle stellte die Spida AHV Ausgleichskasse
fest, dass die Firma B.________ AG, die bei ihr als Arbeitgeberin angeschlossen
ist, in den Jahren 2009 bis 2011 über Zahlungen von insgesamt Fr. 403'210.-,
die sie an A.________ und C.________ für in unselbständiger Erwerbstätigkeit
verrichtete Arbeiten ausgerichtet hatte, nicht abgerechnet habe. Mit Verfügung
vom 15. August 2012 verpflichtete die Ausgleichskasse die B.________ AG zur
Nachzahlung ausstehender Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von insgesamt
Fr. 62'392.85 (inkl. Verwaltungskosten und Zinsen). Daran hielt sie auf
Einsprache der B.________ AG fest (Entscheid vom 20. September 2013).

B. 
A.________ und die B.________ AG erhoben dagegen Beschwerde und beantragten, es
sei der Einspracheentscheid der Ausgleichskasse vom 20. September 2013
aufzuheben und festzustellen, dass A.________ durchgehend seit 2009
Selbständigerwerbender sei. Im Rahmen eines zweiten Schriftenwechsels (Replik
vom 10. März 2014) ersuchten sie um Durchführung einer öffentlichen, mündlichen
Gerichtsverhandlung. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Nidwalden
verzichtete auf eine solche und wies die Beschwerde mit Entscheid vom 25.
August 2014 ab.

C. 
A.________ und die B.________ AG führen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten und beantragen, es sei in Gutheissung der Beschwerde
festzustellen, dass A.________ seit 2009 AHV-rechtlich als selbständig
erwerbstätig zu qualifizieren sei. Eventualiter sei der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Nidwalden vom 25. August 2014 aufzuheben und
zur Neubeurteilung sowie zur Durchführung einer öffentlichen Parteiverhandlung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerdeführer rügen in formeller Hinsicht eine Verletzung von Art. 6
Ziff. 1 EMRK, weil sich das kantonale Gericht geweigert habe, die im
Schriftenwechsel beantragte öffentliche Parteiverhandlung durchzuführen.

2.

2.1. Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache
in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem
unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das
über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die
Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden
hat. Vorliegend sind zivilrechtliche Ansprüche im Sinne dieser Norm streitig (
BGE 122 V 47 E. 2a S. 50). Das kantonale Gericht, welchem es primär obliegt,
die Öffentlichkeit der Verhandlung zu gewährleisten (BGE 136 I 279 E. 1 S. 281;
122 V 47 E. 3 S. 54), hat bei Vorliegen eines klaren und unmissverständlichen
Parteiantrages grundsätzlich eine öffentliche Verhandlung durchzuführen (BGE
136 I 279 E. 1 S. 281; 122 V 47 E. 3, 3a und b S. 54 ff.). Ein während des
ordentlichen Schriftenwechsels gestellter Antrag gilt dabei als rechtzeitig (
BGE 134 I 331).

2.2. Von einer ausdrücklich beantragten öffentlichen Verhandlung kann dann
abgewichen werden, wenn der Antrag der Partei als schikanös erscheint oder auf
eine Verzögerungstaktik schliessen lässt und damit dem Grundsatz der
Einfachheit und Raschheit des Verfahrens zuwiderläuft oder sogar
rechtsmissbräuchlich ist. Gleiches gilt, wenn sich ohne öffentliche Verhandlung
mit hinreichender Zuverlässigkeit erkennen lässt, dass eine Beschwerde
offensichtlich unbegründet oder unzulässig ist. Als weiteres Motiv für die
Verweigerung einer beantragten öffentlichen Verhandlung fällt die hohe
Technizität der zur Diskussion stehenden Materie in Betracht, was etwa auf rein
rechnerische versicherungsmathematische oder buchhalterische Probleme zutrifft,
wogegen andere dem Sozialversicherungsrecht inhärente Fragestellungen
materiell- oder verfahrensrechtlicher Natur wie die Würdigung medizinischer
Gutachten in der Regel nicht darunterfallen. Schliesslich kann das kantonale
Gericht von einer öffentlichen Verhandlung absehen, wenn es auch ohne eine
solche aufgrund der Akten zum Schluss gelangt, dass dem materiellen
Rechtsbegehren der bezüglich der Verhandlung antragstellenden Partei zu
entsprechen ist (BGE 136 I 279 E. 1 S. 281 mit Hinweis auf BGE 122 V 47 E. 3b/
ee und 3b/ff S. 57 f.).

3.

3.1. Die Beschwerdeführer liessen im Rahmen des zweiten Schriftenwechsels vor
dem kantonalen Gericht (Replik vom 10. März 2014) und damit rechtzeitig (vgl.
E. 2.1 hievor) beantragen, es sei eine öffentliche, mündliche
Gerichtsverhandlung vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden
durchzuführen. Als Begründung führten sie unter Hinweis auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK
und Art. 29 Abs. 1 BV an, die gerichtliche Beurteilung der Art der
Erwerbstätigkeit einer versicherten Person hänge zu grossen Teilen von den
tatsächlich ausgeführten Geschäftstätigkeiten ab. Solche Lebensvorgänge würden
sich jedoch schriftlich oft nicht abschliessend und realitätsnah schildern
lassen. Im vorliegenden Fall würden zudem die Zeugenaussagen des Buchhalters
D.________ und die Parteiaussagen der Beschwerdeführer erheblich zur Aufklärung
der Sachlage beitragen. Zu dessen genauerer Erläuterung und zur wirksamen
Ausübung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sei es deshalb zweckmässig, eine
öffentliche, mündliche Verhandlung durchzuführen.

3.2. Die Vorinstanz begründete die Verweigerung einer öffentlichen Verhandlung
damit, dass es den Beschwerdeführern mehr um eine eigentliche Befragung im
Sinne einer Beweismassnahme und weniger darum gehe, vor einem unabhängigen
Gericht ihren persönlichen Standpunkt zum Beweisergebnis im Allgemeinen und zur
Auftragslage im Speziellen mündlich vortragen zu können. Nach Auffassung des
Gerichts sei die Sachlage ausreichend dokumentiert und klar. Die
Verfahrensbeteiligten hätten ihre Standpunkte in einem doppelten
Schriftenwechsel sowohl in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht umfassend
und hinreichend klar darlegen können. Weder die beantragte Parteibefragung noch
die Zeugeneinvernahme seien zur Klärung des streitigen Punktes notwendig. Eine
mündliche Verhandlung verspreche keine erheblichen Informationen für die
Falllösung, weshalb die Durchführung einer solchen weder zweckmässig noch
prozessökonomisch erscheine. Es rechtfertige sich daher, von einer öffentlichen
Verhandlung abzusehen.

4.

4.1. Das kantonale Gericht hat ausser Acht gelassen, dass hier ein klarer und
unmissverständlicher Parteiantrag auf eine öffentliche Verhandlung vorliegt. So
hatten die Beschwerdeführer einen solchen in der Replik vom 10. März 2014 nicht
nur explizit gestellt, sondern mit Hinweis auf die aus ihrer Sicht nicht
einfache Sachlage klarerweise zum Ausdruck gebracht, dass ihnen - zumindest
auch - an der mündlichen Darlegung ihrer Argumente vor einem unabhängigen
Gericht gelegen ist. Soweit es den Beschwerdeführern um die Abnahme bestimmter
Beweismittel geht, besteht jedoch kein Anspruch darauf, dass entsprechende
Beweismassnahmen, wenn erforderlich, öffentlich durchgeführt werden (8C_648/
2012 vom 29. November 2012 E. 3.2).

4.2. Von der klar und unmissverständlich beantragten öffentlichen Verhandlung
hätte das kantonale Gericht nur bei Vorliegen von in Erwägung 2.2 genannten
Gründen absehen dürfen. Dass aber der Antrag auf eine öffentliche Verhandlung
hier schikanös wäre oder dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit des
Verfahrens zuwiderlaufen würde, hat die Vorinstanz zu Recht nicht erwogen.
Sodann schloss sie weder auf eine offensichtliche Unbegründetheit oder
Unzulässigkeit der Beschwerde noch auf eine hohe Technizität der Materie,
welche eine Ablehnung der beantragten Verhandlung ausnahmsweise zu
rechtfertigen vermöchte. Offensichtlich hat sie dem materiellen Rechtsbegehren
der Beschwerdeführer auch nicht entsprochen.

4.3. Indem die Vorinstanz auf die Durchführung der öffentlichen Verhandlung
verzichtet hat, trug sie der in Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleisteten
Verfahrensgarantie nicht Rechnung. Die Sache ist daher an das kantonale
Versicherungsgericht zurückzuweisen, damit es den Verfahrensmangel behebt und
die verlangte öffentliche Verhandlung durchführt. Anschliessend wird es über
die Beschwerde materiell neu zu befinden haben.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat den
Beschwerdeführern zudem eine Parteientschädigung für das bundesgerichtliche
Verfahren zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Nidwalden vom 25. August 2014 aufgehoben. Die
Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. August 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Williner

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