Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 146/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_146/2015

Urteil vom 19. Januar 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Fürsprecher Herbert Bracher,
Beschwerdeführerin,

gegen

GastroSocial Pensionskasse,
Bahnhofstrasse 86, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

IV-Stelle Bern,
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 16. Januar 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1974 geborene A.________ meldete sich im Mai 2009 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern ermittelte
einen Invaliditätsgrad von 100 % und sprach ihr mit Verfügung vom 22. Juni 2011
eine ganze Invalidenrente ab 1. November 2009 zu. Auf Beschwerde der
GastroSocial Pensionskasse (nachfolgend: Pensionskasse) hin hob das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Verfügung vom 22. Juni 2011 auf und
wies die Sache zur Vornahme von Abklärungen im Sinne der Erwägungen und neuen
Entscheidung an die Verwaltung zurück (Entscheid vom 1. Mai 2012). Nach
weiteren Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach sie
A.________ mit Verfügung vom 6. November 2013 wiederum eine ganze
Invalidenrente ab 1. November 2009 zu (Invaliditätsgrad von 70 %).

B. 
Dagegen erhob die Pensionskasse erneut Beschwerde. Nach Einholung eines
medizinischen Gutachtens hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die
Beschwerde gut und hob die Verfügung vom 6. November 2013 mit Entscheid vom 16.
Januar 2015 auf.

C. 
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten die
Aufhebung des Entscheids vom 16. Januar 2015 und die Zusprechung einer ganzen
Invalidenrente beantragen. Ferner ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege.
Die Pensionskasse und die IV-Stelle schliessen auf Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Die Vorinstanz hat dem durch sie selber eingeholten Gutachten der Frau Dr. med.
B.________, Fachärztin FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 8. November
2014 in Bezug auf den medizinischen Sachverhalt Beweiskraft beigemessen.
Hingegen hat sie die darin enthaltene Arbeitsfähigkeitsschätzung - die Expertin
attestierte eine Restarbeitsfähigkeit von 50 % für angepasste Tätigkeiten -
nicht übernommen mit der Begründung, der Gesundheitsschaden sei
invalidenversicherungsrechtlich nicht relevant. Folglich hat sie einen
Rentenanspruch verneint.

3.

3.1. Bei der Beurteilung der Arbeits (un) fähigkeit stützt sich die Verwaltung
und im Beschwerdefall das Gericht auf Unterlagen, die von ärztlichen und
gegebenenfalls auch anderen Fachleuten zur Verfügung zu stellen sind. Ärztliche
Aufgabe ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu
nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte
Person arbeitsunfähig ist (BGE 140 V 193 E. 3.2 S. 195).
Im Rahmen der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG [SR 830.1]; vgl. BGE
132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil I 865/06 vom 12. Oktober 2007 E. 4
mit Hinweisen) darf sich die Verwaltung - und im Streitfall das Gericht - weder
über die (den beweisrechtlichen Anforderungen genügenden; vgl. BGE 134 V 231 E.
5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis) medizinischen
Tatsachenfeststellungen hinwegsetzen noch sich die ärztlichen Einschätzungen
und Schlussfolgerungen zur (Rest-) Arbeitsfähigkeit unbesehen ihrer konkreten
sozialversicherungsrechtlichen Relevanz und Tragweite zu eigen machen. Die
rechtsanwendenden Behörden haben diesfalls mit besonderer Sorgfalt zu prüfen,
ob die ärztliche Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit auch invaliditätsfremde
Gesichtspunkte (insbesondere psychosoziale und soziokulturelle
Belastungsfaktoren) mitberücksichtigt, die vom invaliditätsrechtlichen
Standpunkt aus unbeachtlich sind (vgl. BGE 140 V 193; 130 V 352 E. 2.2.5 S. 355
f.). Wo psychosoziale Einflüsse das Bild prägen, ist bei der Annahme einer
rentenbegründenden Invalidität Zurückhaltung geboten (BGE 127 V 294 E. 5a S.
299; Urteile 9C_936/2012 vom 7. Juni 2013 E. 3.2; 9C_2010/2012 vom 9. Juli 2012
E. 3.3.2).

3.2. Eine Dysthymie ist nach der im gebräuchlichen Klassifikationssystem ICD-10
enthaltenen Umschreibung eine chronische depressive Verstimmung, die weder
schwer noch hinsichtlich einzelner Episoden anhaltend genug ist, um die
Kriterien einer schweren, mittelgradigen oder leichten rezidivierenden
depressiven Störung zu erfüllen. Findet sich im Psychostatus nur eine
Dysthymie, so kann dies rechtsprechungsgemäss wohl eine Einbusse an
Leistungsfähigkeit mit sich bringen, kommt aber für sich allein betrachtet
nicht einem Gesundheitsschaden im Sinne des Gesetzes gleich. Diese
Schlussfolgerung, die sich auf medizinische Empirie abstützt und damit eine
Rechtsfrage darstellt, ist freilich nicht absolut zu setzen; eine dysthyme
Störung kann die Arbeitsfähigkeit im Einzelfall erheblich beeinträchtigen, wenn
sie zusammen mit anderen Befunden - wie etwa einer ernsthaften
Persönlichkeitsstörung - auftritt (SVR 2011 IV Nr. 17 S. 44, 9C_98/2010 E.
2.2.2; 2008 IV Nr. 8 S. 23, I 649/06 E. 3.3.1 mit Hinweisen; Urteil 8C_623/2013
vom 11. März 2014 E. 3.2). Diese Grundsätze wurden durch die Rechtsprechung
gemäss BGE 141 V 281 nicht relativiert (Urteil 8C_643/2015 vom 18. Dezember
2015 E. 5.2.1).

3.3. Die gerichtliche Gutachterin stellte folgende Diagnosen mit Auswirkungen
auf die Arbeitsfähigkeit: "Double Depression" im Sinne einer Dysthymie bei
neurotischer Fehlentwicklung und bei Status nach situationsbezogenen
mittelgradigen depressiven Episoden, im Sinne einer rezidivierenden depressiven
Störung verbunden mit starken regressiven Tendenzen F34.1, aktuell F33.4 bei
akzentuierten Persönlichkeitszügen (abhängig) Z73.1.
Das kantonale Gericht hat diesbezüglich festgestellt, dass die im Rahmen der
"double Depression" aufgetretene rezidivierende depressive Störung aktuell
remittiert sei. Die einzelnen depressiven Episoden seien nie über einen
mittleren Schweregrad hinausgegangen. Dabei habe es sich um reaktive Störungen
gehandelt; im Vordergrund hätten jeweils psychosoziale Belastungsfaktoren
gestanden. Dass diese Feststellungen offensichtlich unrichtig sein oder auf
einer Rechtsverletzung beruhen sollen, ist nicht ersichtlich und wird auch
nicht geltend gemacht. Sie bleiben für das Bundesgericht verbindlich (E. 1).

3.4. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin hat die Vorinstanz zu Recht
geprüft, ob die seit Jahren bestehende - grundsätzlich aber nicht
invalidisierende - Dysthymie (ICD-10: F34.1) zusammen mit einer anderen
ernsthaften gesundheitlichen Beeinträchtigung aufgetreten ist (vgl. E. 3.2).
Die reaktiven (vgl. BGE 127 V 294 E. 5a S. 299; Urteil 8C_582/2015 vom 8.
Oktober 2015 E. 2.2.1) depressiven Episoden der Versicherten konnten jeweils
therapeutisch zur vollständigen Remission gebracht werden. So steht mit der
Kodifizierung F33.4 nach ICD-10 fest, dass "in den letzten Monaten (...) keine
depressiven Symptome" bestanden (http://www.dimdi.de/static/de/klassi/
icd-10-who/kodesuche/onlinefassungen/htmlamtl2011/index.htm; vgl. auch Art. 88a
Abs. 1 IVV [SR 831.201]). Frau Dr. med. B.________ diagnostizierte aufgrund der
von ihr selber erhobenen Befunde allein eine Dysthymie, während sie andere
gravierende Beeinträchtigungen wie namentlich eine Persönlichkeitsstörung
(ICD-10: F60) explizit und mit einleuchtender Begründung ausschloss. Bei diesen
Gegebenheiten kann keine andauernde und erhebliche Arbeitsunfähigkeit als
ausgewiesen gelten. Ein invalidenversicherungsrechtlich relevanter psychischer
Gesundheitsschaden ist zu verneinen (vgl. Urteil 8C_623/2013 vom 11. März 2014
E. 3.3.3).
Daran ändert nichts, dass Frau Dr. med. B.________ in ihrem Gutachten die
Dysthymie zusätzlich als "Diagnose ohne Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit"
aufführte. An anderer Stelle ging sie denn auch davon aus, dass aus der
Dysthymie als "Grundstörung" bereits eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
von 30 % resultiere, was rechtlich nicht haltbar ist (E. 3.2). Die Beschwerde
ist unbegründet.

4. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin
grundsätzlich die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch
um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG).
Sie hat der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der
Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG). Die obsiegende Beschwerdegegnerin hat keinen
Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Fürsprecher Herbert Bracher wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle Bern, dem Verwaltungsgericht des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. Januar 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Dormann

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