Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 118/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9C_118/2015

Urteil vom 9. Juli 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner,
Gerichtsschreiber Williner.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. Ueli Kieser,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 7. Januar 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1952 geborene A.________, welche über keine Berufsbildung verfügt, war seit
1991 als Pflegehelferin erwerbstätig, zuletzt von Januar bis März 2006 im
Alters- und Pflegeheim B.________. Im Januar 2011 meldete sie sich unter
Hinweis auf eine Depression bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug
an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich führte erwerbliche und medizinische
Abklärungen durch, namentlich veranlasste sie eine polydisziplinäre
Begutachtung im Zentrum C.________ (Gutachten vom 6. Januar 2013) sowie eine
Abklärung der beeinträchtigten Arbeitsfähigkeit in Beruf und Haushalt (Bericht
vom 15. August 2013). Dies, nachdem sie das Abklärungsverfahren
zwischenzeitlich sistiert und A.________ unter Hinweis auf die ihr obliegende
Schadenminderungspflicht zu einer sechsmonatigen Alkoholabstinenz aufgefordert
hatte (Einschreiben vom 22. August 2011). Mit Verfügung vom 29. September 2013
verneinte die IV-Stelle den Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung.

B. 
In Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde der A.________ hob das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 7. Januar 2015
die Verfügung vom 29. September 2013 auf und sprach der Versicherten ab dem 1.
Juli 2011 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zu.

C. 
Die IV-Stelle des Kantons Zürich führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids.

A.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde, während das Bundesamt für
Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2. Tatsächlicher Natur sind die Feststellungen zum Gesundheitszustand einer
versicherten Person und der daraus resultierenden Arbeits (un) fähigkeit, die
das Sozialversicherungsgericht gestützt auf medizinische Untersuchungen trifft.
Soweit die Beurteilung der Zumutbarkeit von Arbeitsleistungen auf die
allgemeine Lebenserfahrung gestützt wird, geht es um eine Rechtsfrage (BGE 132
V 393 E. 3.2 S. 397 ff.; Urteil 9C_133/2011 vom 29. April 2011 E. 1).
Rechtsfrage ist auch, nach welchen Gesichtspunkten die Entscheidung über die
Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit erfolgt (Urteil 9C_190/2009 vom 11. Mai
2009 E. 3.3).

2.

2.1. Das trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigung zumutbarerweise erzielbare
Einkommen ist bezogen auf einen ausgeglichenen Arbeitsmarkt zu ermitteln, wobei
an die Konkretisierung von Arbeitsgelegenheiten und Verdienstaussichten keine
übermässigen Anforderungen zu stellen sind (SVR 2008 IV Nr. 62 S. 203, 9C_830/
2007 E. 5.1). Das fortgeschrittene Alter wird, obgleich an sich ein
invaliditätsfremder Faktor, in der Rechtsprechung als Kriterium anerkannt,
welches zusammen mit weiteren persönlichen und beruflichen Gegebenheiten dazu
führen kann, dass die einer versicherten Person verbliebene
Resterwerbsfähigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt realistischerweise
nicht mehr nachgefragt wird, und dass ihr deren Verwertung auch gestützt auf
die Selbsteingliederungslast nicht mehr zumutbar ist. Fehlt es an einer
wirtschaftlich verwertbaren Resterwerbsfähigkeit, liegt eine vollständige
Erwerbsunfähigkeit vor, die einen Anspruch auf eine ganze Invalidenrente
begründet (Urteile 9C_954/2012 vom 10. Mai 2013 E. 2; I 831/05 vom 21. August
2006 E. 4.1.1 mit Hinweisen).

2.2. Der Einfluss des Lebensalters auf die Möglichkeit, das verbliebene
Leistungsvermögen auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt zu verwerten, lässt sich
nicht nach einer allgemeinen Regel bemessen, sondern hängt von den Umständen
des Einzelfalls ab. Massgebend können die Art und Beschaffenheit des
Gesundheitsschadens und seiner Folgen, der absehbare Umstellungs- und
Einarbeitungsaufwand und in diesem Zusammenhang auch Persönlichkeitsstruktur,
vorhandene Begabungen und Fertigkeiten, Ausbildung, beruflicher Werdegang oder
Anwendbarkeit von Berufserfahrung aus dem angestammten Bereich sein (BGE 138 V
457 E. 3.1 S. 460; Urteile 9C_153/2011 vom 22. März 2012 E. 3.1; 9C_918/2008
vom 28. Mai 2009 E. 4.2.2 mit Hinweisen). Somit hängt die Verwertbarkeit nicht
zuletzt davon ab, welcher Zeitraum der versicherten Person für eine berufliche
Tätigkeit und vor allem auch für einen allfälligen Berufswechsel noch zur
Verfügung steht (BGE 138 V 457 E. 3.2 S. 460).

2.3. Für den Zeitpunkt, in welchem die Frage nach der Verwertbarkeit der
(Rest-) Arbeitsfähigkeit bei vorgerücktem Alter beantwortet wird, ist auf das
Feststehen der medizinischen Zumutbarkeit einer (Teil-) Erwerbstätigkeit
abzustellen (BGE 138 V 457 E. 3.3 S. 462).

3.

3.1. Das kantonale Gericht hat für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich
(vgl. E. 1 hievor) festgestellt, gestützt auf das polydisziplinäre Gutachten
des Zentrums C.________ vom 6. Januar 2013 sei von einer Arbeitsfähigkeit von
50 % in der angestammten Tätigkeit und von 70 % in leidensangepasster Tätigkeit
auszugehen. Die Vorinstanz ist indessen der Auffassung, die Beschwerdegegnerin
würde die Restarbeitsfähigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt überwiegend
wahrscheinlich nicht mehr verwerten können, womit eine vollständige
Erwerbsunfähigkeit und damit Anspruch auf eine ganze Rente der
Invalidenversicherung bestehe.

3.2. Streitig und zu prüfen ist einzig die wirtschaftliche Verwertbarkeit der
Resterwerbsfähigkeit der Beschwerdegegnerin. Einigkeit besteht demgegenüber in
Bezug auf die Arbeitsfähigkeit (50 % in angestammter und 70 % in angepasster
Tätigkeit) und darüber, dass die Beschwerdegegnerin als Teilerwerbstätige mit
einem ausserhäuslichen Erwerbspensum von 70 % zu qualifizieren ist.

4.

4.1. In Bezug auf die konkreten Umstände hat das kantonale Gericht
festgestellt, die Beschwerdegegnerin habe im massgeblichen Zeitpunkt knapp drei
Jahre vor ihrer Pensionierung gestanden. Sie verfüge über keine Berufsbildung,
sei zudem jahrelang nicht oder nur in geringem Umfang erwerbstätig gewesen und
könne ihre beruflichen Erfahrungen aus früheren Tätigkeiten als Hilfspflegerin
aufgrund neuropsychologischer Beeinträchtigungen nicht mehr anwenden.
Betreffend das Tätigkeitsprofil stellte die Vorinstanz gestützt auf das
Gutachten des Zentrums C.________ vom 6. Januar 2013 fest, es seien der
Beschwerdegegnerin aufgrund ihrer neuropsychologischen Funktionsstörung
Tätigkeiten mit komplexen Anforderungen nicht mehr zumutbar; zudem sollten die
feinmotorischen Anforderungen gering sein.

4.2. Die Beschwerdeführerin rügt in Bezug auf mehrere dieser Feststellungen
eine offensichtliche Unrichtigkeit. Eine solche liegt insoweit vor, als die
Vorinstanz zwar richtig den Zeitpunkt der Erstattung des Gutachtens des
Zentrums C.________ vom 6. Januar 2013 als massgebend für die Frage nach der
Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit bei vorgerücktem Alter bezeichnet (vgl.
E. 2.3 hievor), die verbleibende Aktivitätsdauer in der Folge jedoch falsch
ermittelt hat. So war die am 16. Mai 1952 geborene Beschwerdegegnerin im
Zeitpunkt der Expertise vom 6. Januar 2013 60 Jahre und knapp 8 Monate alt,
womit bis zur regulären Pensionierung noch eine Restaktivitätsdauer von 3
Jahren und gut 4 Monaten verblieb.

4.3. Die Vorinstanz hat für die vom Bundesgericht frei überprüfbare (vgl. E.
1.2 hievor) Rechtsfrage, ob die Beschwerdegegnerin angesichts ihres
fortgeschrittenen Alters nach allgemeiner Lebenserfahrung in einem als
ausgeglichen unterstellten Arbeitsmarkt (vgl. Art. 7 Abs. 1 und Art. 16 ATSG)
noch als vermittelbar gelten und die ihr verbliebene Leistungsfähigkeit
erwerblich verwerten kann, auf die (falsch ermittelte; vgl. E. 4.2 hievor)
verbleibende Aktivitätsdauer bis zur ordentlichen Pensionierung, die fehlende
berufliche Ausbildung, die lang währende (teilweise) Abstinenz vom Arbeitsmarkt
sowie auf die neuropsychologisch bedingten Einschränkungen abgestellt. Wie die
Beschwerdeführerin zu Recht einwendet, fehlt es damit an einer überzeugenden
Begründung für die Annahme einer Unverwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit. Das
kantonale Gericht hat ausser Acht gelassen, dass gemäss den eigenen - für das
Bundesgericht verbindlichen - Feststellungen in angestammter Tätigkeit eine
Arbeitsfähigkeit von 50 % besteht. Unter Berücksichtigung dessen rechtfertigt
sich der Schluss nicht, die beruflichen Erfahrungen aus der Tätigkeit als
Hilfspflegerin liessen sich nicht mehr anwenden. Unter Berücksichtigung der
Arbeitsfähigkeit im angestammten Bereich fällt zudem die fehlende berufliche
Ausbildung aufgrund der ab 1991 gesammelten jahrelangen einschlägigen Erfahrung
im Pflegebereich deutlich geringer ins Gewicht; darüber hinaus verfügt die
Beschwerdegegnerin über ein Diplom Pflegehelferin SRK.

4.4. Als persönliche und berufliche Gegebenheiten, welche zusammen mit dem
fortgeschrittenen Alter dazu führen können, dass die der Beschwerdegegnerin
verbliebene Restarbeitsfähigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt
realistischerweise nicht mehr nachgefragt sein könnte (vgl. E. 2.1 hievor),
verbleiben damit einzig die relativ lange (teilweise) Abwesenheit vom
Arbeitsmarkt und die neuropsychologisch begründeten Einschränkungen in Bezug
auf Tätigkeiten im angestammten Pflegebereich. Wie die Vorinstanz gestützt auf
das Gutachten des Zentrums C.________ vom 6. Januar 2013 festgestellt hat, sind
nur noch Tätigkeiten im Team mit delegierten Arbeiten ohne Verantwortung
möglich, wobei die Beschwerdegegnerin vermehrt mit hauswirtschaftlichen
Routineaufgaben betraut werden sollte; zudem ist ihr die Pflegetätigkeit im
Nachtdienst nicht mehr zumutbar. Diese Punkte allein genügen jedoch nicht.
Abgesehen von den generell relativ hohen Hürden, welche das Bundesgericht für
die Unverwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit älterer Menschen entwickelt hat
(Urteil 9C_918/2008 vom 28. Mai 2009 E. 4.3), fällt insbesondere die
verbleibende Restarbeitsfähigkeit in angestammter Tätigkeit ins Gewicht. So
kann die Beschwerdegegnerin - trotz fehlender beruflicher Ausbildung - auf dem
als ausgeglichen unterstellten Arbeitsmarkt von ihrer jahrelangen beruflichen
Erfahrung profitieren und somit den Umstellungs- und Einarbeitungsaufwand
minimal halten. Daran vermag nicht grundsätzlich etwas zu ändern, dass in Bezug
auf die angestammte Hilfspflegetätigkeit weniger in zeitlicher (50 %) als
vielmehr in funktioneller Hinsicht (delegierte Arbeiten ohne Verantwortung;
kein Nachtdienst) doch erhebliche Einschränkungen bestehen.

4.5. Wie die Beschwerdeführerin richtig einwendet, resultiert kein
rentenbegründender Gesamtinvaliditätsgrad, wenn im Rahmen der gemischten
Methode im erwerblichen Bereich auf die Restarbeitsfähigkeit von 50 % in
angestammter Tätigkeit (statt auf die 70 % in angepasster Tätigkeit) abgestellt
wird. Es kann diesbezüglich auf die Ausführungen in der Beschwerde verwiesen
werden, welche auch die Beschwerdegegnerin als zumindest "theoretisch richtig"
bezeichnet. Sie bemängelt einzig, dass ihr fortgeschrittenes Alter (wiederum)
nicht berücksichtigt worden sei. Diesbezüglich bleibt festzuhalten, dass im
Rahmen der gemischten Methode selbst dann kein rentenbegründender
Gesamtinvaliditätsgrad resultieren würde, wenn dem fortgeschrittenen Alter im
erwerblichen Bereich zusätzlich mit einem leidensbedingten Abzug von 10 bis 15
% Rechnung getragen würde.

4.6. Bei diesem Ergebnis kann offen bleiben, ob ein
invalidenversicherungsrechtlich erheblicher fehlender Zugang der
Beschwerdegegnerin zum Arbeitsmarkt dann zu bejahen wäre, wenn einzig das
Leistungsvermögen in angepasster Tätigkeit berücksichtigt würde.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend werden die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Eine Parteientschädigung ist
nicht geschuldet (Art. 68 Abs. 3 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 7. Januar 2015 wird aufgehoben und die Verfügung der
IV-Stelle des Kantons Zürich bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
zurückgewiesen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. Juli 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Williner

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