Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 106/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
9C_106/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 1. April 2015

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Anita Hug,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 9. Dezember 2014.

Sachverhalt:

A.

A.a. A.________, geboren 1961, angelernter Gipser, erlitt am 1. Juli 1999 bei
einem Verkehrsunfall diverse Kontusionen, Schürfungen und eine
Gehirnerschütterung. In der Folge wurde auch die Diagnose eines
HWS-Schleudertraumas gestellt. Am 22. September 2000 meldete er sich bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aarau
tätigte beruflich-erwerbliche sowie medizinische Abklärungen. Sie sprach
A.________ mit Verfügung vom 22. Juni 2001 ab 1. Juli 2000 eine ganze Rente zu
(Invaliditätsgrad von 100 %). Mit Verfügung vom 3. August 2004 richtete ihm die
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) eine Komplementärrente sowie
eine Integritätsentschädigung aus. IV-Rentenrevisionen in den Jahren 2005 und
2010 zeigten keine Änderungen.

A.b. Im Jahre 2012 leitete die IV-Stelle erneut eine revisionsweise Überprüfung
des Rentenanspruches ein. Sie holte u.a. beim Zentrum B.________ ein
polydisziplinäres Gutachten (Psychiatrie, Neurologie, Neuropsychologie, Innere
Medizin, Rheumatologie/Orthopädie) vom 3. Mai 2013 ein. Nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren hob sie die Rente mit Verfügung vom 19. März 2014 auf.

B. 
Die von A.________ erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau mit Entscheid vom 9. Dezember 2014 ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen.
Er beantragt die Aufhebung des kantonalen Entscheides. Es sei ihm weiterhin für
eine 100%ige Invalidität eine ganze Invalidenrente zuzusprechen, eventualiter
für mindestens eine 50%ige Invalidität eine halbe.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es legt seinem
Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105
Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz auf Rüge hin
oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht,
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG und Art. 97 Abs. 1 BGG).

2.

2.1. Die Aufhebung der Invalidenrente erfolgte in Anwendung von lit. a Abs. 1
der am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen Schlussbestimmungen der Änderung des
IVG vom 18. März 2011 (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket [AS 2011 5659;
BBl 2011 2723 und 2010 1817]; nachfolgend: SchlBest. zur 6. IV-Revision).
Danach werden Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen
Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden,
innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten der Änderung überprüft. Sind die
Voraussetzungen nach Art. 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die Rente herabgesetzt
oder aufgehoben, auch wenn die Voraussetzungen von Art. 17 Abs. 1 ATSG nicht
erfüllt sind. Abs. 1 findet keine Anwendung auf Personen, die im Zeitpunkt des
Inkrafttretens der Änderung das 55. Altersjahr zurückgelegt haben oder im
Zeitpunkt, in dem die Überprüfung eingeleitet wird, seit mehr als 15 Jahren
eine Rente der Invalidenversicherung beziehen (Abs. 4).

2.2. Nach BGE 140 V 197 E. 6 S. 198 sind vom Anwendungsbereich von lit. a Abs.
1 SchlBest. zur 6. IV-Revision laufende Renten nur auszunehmen, wenn und soweit
sie auf erklärbaren Beschwerden beruhen. Lassen sich unklare Beschwerden von
erklärbaren Beschwerden trennen, können die Schlussbestimmungen der 6.
IV-Revision auf erstere Anwendung finden. Gemäss Urteil 8C_34/2014 vom 8. Juli
2014 E. 4.2 fällt eine Herabsetzung oder Aufhebung unter dem Titel von lit. a
Abs. 1 SchlBest. zur 6. IV-Revision lediglich ausser Betracht, wenn unklare und
erklärbare Beschwerden zwar diagnostisch unterscheidbar sind, aber bezüglich
der darauf zurückzuführenden Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit keine exakte
Abgrenzung erlauben.

3. 
Streitgegenstand bildet die Frage der Weiterausrichtung der bisherigen
IV-Rente. Die Vorinstanz hat die einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend
dargelegt.

4. 
Das kantonale Gericht hat erkannt, die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit
der Bestimmungen des ersten Massnahmepakets der 6. IV-Revision seien erfüllt.
Gemäss der Rechtsprechung zählten spezifische und unfalladäquate
HWS-Verletzungen (Schleudertrauma) ohne organisch nachweisbare
Funktionsausfälle und dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen zu
den pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne
nachweisbare organische Grundlage (vgl. vorne E. 2.1). In Bezug auf die
Arbeitsfähigkeit sei dem Gutachten zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer
sowohl aus neurologischer, neuropsychologischer wie auch rheumatologischer
Sicht für jede Arbeit voll arbeitsfähig sei. Aus psychiatrischer Sicht könne er
aufgrund der gezeigten Symptome (Beinezittern und Sensibilitätsstörungen)
körperliche Schwerarbeiten nicht verrichten, insbesondere auch nicht die
mittelschwere Tätigkeit als Gipser. Medizinisch-theoretisch könnten ihm
allenfalls leichte Tätigkeiten zugemutet werden. Laut dem Gutachten liege eine
50%ige Leistungseinschränkung für eine einfach strukturierte Tätigkeit vor.
Diese bestehe vermutlich seit dem Unfall im Jahre 1999. Die Vorin-stanz kam zum
Schluss, das Zentrum B.________ habe einen Verdacht auf dissoziative Störung
(ICD-10 F44.4) mit möglichen dissoziativen Sensibilitätsstörungen (ICD-10
F44.6) diagnostiziert. Verdachts- oder Differenzialdiagnosen seien aber
grundsätzlich irrelevant und für den Nachweis eines Gesundheitsschadens mit
Auswirkung auf die Er-werbsfähigkeit untauglich. Selbst wenn eine dissoziative
Störung be-stehen würde, müsste von einer vollen Arbeitsfähigkeit des
Beschwerdeführers ausgegangen werden, da gemäss dem psychiatri-schen Gutachten
keine mitwirkende, psychisch ausgewiesene Komorbidität von erheblicher Schwere,
Intensität, Ausprägung und Dauer vorliege. Auch die übrigen Kriterien lägen
nicht gehäuft und ausgeprägt vor. Ohne Zweifel seien die Behandlungsergebnisse
unbefriedigend, dies genüge jedoch nicht, um ausnahmsweise von der
Unzumutbarkeit einer willentlichen Schmerzüberwindung und eines Wiedereinstiegs
in den Arbeitsprozess auszugehen.

5. 
Der Beschwerdeführer rügt, das polydisziplinäre Gutachten des Zentrums
B.________ halte zwar fest, dass das eingeschränkte Gangbild und insbesondere
das starke Zittern als Folge einer dissoziativen Sensibilitätsstörung zu
betrachten seien. Da gemäss Ansicht der Beschwerdegegnerin eine solche Störung
nach neuester Gerichtspraxis nicht zu den Gesundheitsschädigungen gehöre,
welche eine bleibende oder über eine längere Zeit andauernde Arbeits- und
Erwerbsunfähigkeit zu begründen vermögen, sei die Rente aufgehoben worden.
Tatsache sei aber, dass das Gutachten in Bezug auf die Diagnose und
insbesondere die Arbeitsfähigkeit nicht eindeutig sei. Es halte nämlich fest,
dass körperliche Ursachen für das Zittern und das eingeschränkte Gangbild nicht
ganz ausgeschlossen werden könnten. Der psychiatrische Teilgutachter sei zum
Schluss gekommen, es liege sicher eine 50%ige Leistungseinschränkung auch für
einfache Tätigkeiten vor. Die Beschwerdegegnerin und die Vorinstanz übersähen
diesen Sachverhalt und erklärten den Beschwerdeführer für leichte Tätigkeiten
einfach zu 100 % arbeitsfähig. Es wäre jedoch ein Einkommensvergleich
vorzunehmen gewesen, da nicht klar erstellt sei, dass die dissoziativen
Bewegungsstörungen keine körperliche Ursache hätten bzw. sich nicht körperlich
auswirkten. Es sei willkürlich, dass die Beschwerdegegnerin ein
polydisziplinäres Gutachten veranlasse und dann jenen Teil, welcher sich zu
Gunsten des Betroffenen äussere, nicht berücksichtige. Die Aufhebung der Rente
sei auch wegen des Zeitablaufs fragwürdig, beziehe er doch seit Mai 2000 eine
Invalidenrente und werde er dieses Jahr 54-jährig. Es habe somit die Grenzen
beinahe erreicht, bei welchen die Gesetzesänderung nicht mehr anzuwenden sei.

6.

6.1. Die Anwendung der Vorschriften der 6. IV-Revision setzt eine fachgerechte,
dem Abklärungsbedarf des jeweiligen Einzelfalles entsprechende medizinische
Begutachtung der betroffenen Versicherten voraus (BGE 139 V 547 E. 9.4 S. 568;
Urteil 8C_505/2013 vom 8. Januar 2014 E. 4.2). Mit Auswirkungen auf die
Arbeitsfähigkeit leidet der Beschwerdeführer gemäss dem Gutachten des Zentrums
B.________ an einem Verdacht auf dissoziative Störung (ICD-10 F44.4) mit
möglichen dissoziativen Sensibilitätsstörungen (ICD-10 F44.6). Ohne
Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit wurde genannt eine tremorartige
Bewegungsstörung verbunden mit einer Gangstörung sowie eine
Sensibilitätsstörung im Bereich der linken Gesichtshälfte sowie im Vorderarm
rechts unklarer Ätiologie (DD: Dissoziative Störung ICD-10 F44.4, F44.6,
F44.9). Der Beschwerdeführer ist aus neurologischer, aus neuropsychologischer
wie auch aus rheumatologischer Sicht für jegliche Arbeit voll arbeitsfähig.
Lediglich aus psychiatrischer Sicht wurde festgestellt, es liege eine etwa
50%ige Leistungseinschränkung für eine einfach strukturierte Tätigkeit vor.

6.2. Es steht fest und ist unbestritten, dass die ursprüngliche Rentenzusprache
gestützt auf ein unklares Beschwerdebild zugesprochen wurde. Ein Revisionsgrund
nach den SchlBest. zur 6. IV-Revision ist damit Grundsatz gegeben.

6.3. Für den Beschwerdeführer geht es nicht an, dass sich die
Beschwerdegegnerin über das Gutachten hinwegsetzt, welches eine 50%ige
Leistungseinschränkung attestiert und von der Unmöglichkeit der Überwindung der
Einschränkung ausgeht. Dabei übersieht er, dass die gutachterlich attestierte
50%ige Arbeitsunfähigkeit für leichte Arbeiten auf einem beweismässig nicht
gesicherten Leiden, nämlich blossen Differenzial- bzw. Verdachtsdiagnose
beruht, wie die Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich festgestellt hat.
Im übrigen stellt - selbst wenn eine dissoziative Störung bestehen würde - die
Frage, ob eine medizinisch festgestellte psychische Komorbidität hinreichend
erheblich ist und ob einzelne oder mehrere der festgestellten weiteren
Kriterien in genügender Intensität und Konstanz vorliegen, um gesamthaft den
Schluss auf eine nicht mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbare
Schmerzstörung und somit auf eine invalidisierende Gesundheitsschädigung zu
gestatten, eine im Prinzip ausserhalb des ärztlichen Kompetenzbereiches
liegende Rechtsfrage dar (BGE 140 V 193 S. 195 f. E. 3.1 und 3.2). Aus
rechtlicher Sicht kann von einer medizinischen Einschätzung der
Arbeitsunfähigkeit abgewichen werden, ohne dass sie ihren Beweiswert verlöre.
Darin liegt weder eine Geringschätzung der ärztlichen Beurteilung noch eine
gerichtliche Kompetenzanmassung, sondern es ist notwendige Folge des rein
juristischen Charakters der sozialversicherungsrechtlichen Begriffen von
Arbeits-/Erwerbsunfähigkeit und Invalidität (Susanne Bollinger,
Invalidisierende Krankheitsbilder nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung,
in: Jahrbuch zum Sozialversicherungsrecht 2015, herausgegeben von Ueli Kieser
und Miriam Lendfers, S. 114). Der Vorinstanz ist darin zu folgen, dass mangels
einer medizinisch festgestellten psychischen Komorbidität und mangels
Vorliegens der Unüberwindbarkeitskriterien in genügender Intensität und
Konstanz der Schluss nicht gestattet ist, es liege eine nicht mit zumutbarer
Willensanstrengung überwindbare Schmerzstörung und somit eine invalidisierende
Gesundheitsschädigung vor. Demnach ist der kantonale Entscheid in Abweichung
von Art. 109 Abs. 2 lit. b BGG zu bestätigen, zumal die möglichen
Ausschlussgründe (vgl. E. 2.1 vorne) klarerweise nicht erfüllt sind.

7. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten dem
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Pensionskasse des Schweizerischen Maler- und Gipsergewerbes und dem
Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 1. April 2015

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Der Gerichtsschreiber: Schmutz

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