Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Revision 8F.9/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8F_9/2015

Urteil vom 18. August 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Grunder.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Marco Unternährer,
Gesuchstellerin,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Gesuchsgegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Revisionsgesuch gegen das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 8C_473/2011
vom 4. November 2011.

Sachverhalt:

A. 
Mit Urteil vom 4. November 2011 (8C_473/2011) wies das Bundesgericht die von
A.________ erhobene Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Luzern (heute: Kantonsgericht Luzern) vom 16. Mai 2011 ab. Darin hatte
das kantonale Gericht die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 20. Januar 2010
aufgehoben und der Versicherten mit Wirkung ab 1. Januar 2004 eine
Viertelsrente zugesprochen.

B. 
Mit Eingabe vom 30. Juni 2015 lässt A.________ unter Auflage des von der Zürich
Versicherungs-Gesellschaft AG wegen der Folgen eines Unfalles vom 23. August
2013 eingeholten Gutachtens des Dr. med. B.________, Chefarzt-Stv.,
Orthopädische Klinik, Kantonsspital C.________, vom 10. März 2015 um Revision
des Urteils des Bundesgerichts vom 4. November 2011 ersuchen; es sei in der
Sache neu zu entscheiden und die Angelegenheit sei zur weiteren Abklärung im
Sinne der Anträge in der Beschwerde vom 14. November 2011 (recte: 14. Juni
2011) zurückzuweisen und der Gesuchstellerin sei rückwirkend mindestens eine
halbe Invalidenrente zuzusprechen; eventualiter sei die Verfügung der IV-Stelle
vom 20. Januar 2010 in Wiedererwägung zu ziehen und der Gesuchstellerin sei
rückwirkend mindestens eine halbe Invalidenrente zuzusprechen. Ferner wird um
unentgeltliche Rechtspflege ersucht. Mit einer weiteren Eingabe vom 3. Juli
2015 lässt A.________ den Bericht des Dr. med. B.________ vom 25. Juni 2015 ins
Verfahren einbringen.

Das Bundesgericht führt keinen Schriftenwechsel durch.

Erwägungen:

1.

1.1. Urteile des Bundesgerichts erwachsen am Tag ihrer Ausfällung in
Rechtskraft (Art. 61 BGG). Eine nochmalige Überprüfung der einem Urteil des
Bundesgerichts zugrunde liegenden Streitsache ist grundsätzlich ausgeschlossen.
Das Gericht kann auf seine Urteile nur zurückkommen, wenn einer der in den Art.
121 ff. BGG abschliessend aufgeführten Revisionsgründe vorliegt. Ein solcher
Revisionsgrund ist ausdrücklich geltend zu machen, wobei es nicht genügt,
dessen Vorliegen zu behaupten. Der geltend gemachte Revisionsgrund ist im
Revisionsgesuch unter Angabe der Beweismittel anzugeben und es ist aufzuzeigen,
weshalb er gegeben und inwiefern deswegen das Dispositiv des früheren Urteils
abzuändern sein soll (SVR 2014 UV Nr. 22 S. 70, 8F_14/2013 E. 1.1).

1.2.

1.2.1. Gemäss Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG kann die Revision in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten verlangt werden, wenn die ersuchende
Partei nachträglich erhebliche Tatsachen erfährt oder entscheidende
Beweismittel auffindet, die sie im früheren Verfahren nicht beibringen konnte,
unter Ausschluss der Tatsachen und Beweismittel, die erst nach dem Entscheid -
mithin dem Urteil, um dessen Revision ersucht wird - entstanden sind. Nach der
zum analogen Art. 137 lit. b OG ergangenen, gemäss BGE 134 III 45 E. 2.1 S. 47
weiterhin gültigen Rechtsprechung sind "neue" Tatsachen solche, die sich bis
zum Zeitpunkt, da im Hauptverfahren noch tatsächliche Vorbringen prozessual
zulässig waren, verwirklicht haben, jedoch dem Revisionsgesuchsteller trotz
hinreichender Sorgfalt nicht bekannt waren; es handelt sich somit um unechte
Noven. Die Geltendmachung echter Noven, also von Tatsachen, die sich erst nach
Ausfällung des Urteils, das revidiert werden soll, zugetragen haben, ist
ausgeschlossen. Die neuen Tatsachen müssen ferner erheblich sein, d.h., sie
müssen geeignet sein, die tatbeständliche Grundlage des angefochtenen Urteils
zu verändern und bei zutreffender rechtlicher Würdigung zu einer andern
Entscheidung zu führen. Neue Beweismittel haben entweder dem Beweis der die
Revision begründenden neuen erheblichen Tatsachen oder dem Beweis von Tatsachen
zu dienen, die zwar im früheren Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil
des Gesuchstellers unbewiesen geblieben sind. Erheblich ist ein Beweismittel,
wenn anzunehmen ist, es hätte zu einem anderen Urteil geführt, falls das
Gericht im Hauptverfahren davon Kenntnis gehabt hätte. Ausschlaggebend ist,
dass das Beweismittel nicht bloss der Sachverhaltswürdigung, sondern der
Sachverhaltsermittlung dient (BGE 110 V 138 E. 2 S. 141; 108 V 170 E. 1 S. 171;
ferner: in BGE 134 III 286 nicht publizierte E. 4.1 des bundesgerichtlichen
Urteils 4A_42/2008 vom 14. März 2008; SVR 2014 UV Nr. 22 S. 70, 8F_14/2013 E.
1.2).

1.2.2. Betrifft der Revisionsgrund eine materielle Anspruchsvoraussetzung,
deren Beurteilung massgeblich auf Schätzung oder Beweiswürdigung beruht, auf
Elementen also, die notwendigerweise Ermessenszüge aufweisen, so ist eine
vorgebrachte neue Tatsache als solche in der Regel nicht erheblich. Ein
Revisionsgrund fällt demnach überhaupt nur in Betracht, wenn bereits im
ursprünglichen Verfahren der untersuchende Arzt und die entscheidende Behörde
das Ermessen wegen eines neu erhobenen Befundes zwingend anders hätten ausüben
und infolgedessen zu einem anderen Ergebnis hätten gelangen müssen (Urteil
9C_955/2012 vom 13. Februar 2013 E. 3.3.1; vgl. auch: BGE 127 V 353 E. 5b S.
358; Urteile 6B_404/2011 vom 2. März 2012 E. 2.2.2; 6B_539/2008 vom 8. Oktober
2008 E. 1.3; U 561/06 vom 28. Mai 2007 E. 6.2 [in SZS 2008 S. 159]; je mit
Hinweisen).

2.

2.1. Das Bundesgericht erwog im Urteil vom 4. November 2011, das kantonale
Gericht habe zutreffend erkannt, dass zur Beurteilung des Gesundheitszustands
und der Arbeitsfähigkeit auf das in allen Teilen beweiskräftige
interdisziplinäre Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) vom 26.
Oktober 2007 (samt aktualisierter neurochirurgischer [Teil-]Expertise der Dr.
med. D.________ vom 30. April und 14. Juli 2009) abzustellen war. Danach waren
der Versicherten in Anbetracht des im Vordergrund stehenden zervikozephalen
Schmerzsyndroms mit Nackenschmerzen mit Ausstrahlung in die Stirn sowie
Kopfschmerzen und der damit verbundenen Einbusse an Merk- und
Konzentrationsfähigkeit ergonomisch angepasste körperlich leichte bis
mittelschwere Tätigkeiten (wie u.a. die bisherige Beschäftigung nurmehr im
Umfang von 54 % zumutbar. Gestützt auf diese Angaben ermittelte das kantonale
Gericht anhand eines Prozentvergleichs einen Invaliditätsgrad von 46 %, woraus
der Anspruch auf eine Viertelsrente für die Zeit ab 1. Januar 2004 resultierte.
Das Bundesgericht gelangte zum Schluss, dass die dagegen vorgebrachten
Einwendungen, welche sich zur Hauptsache in einer Wiederholung der bereits im
vorangegangen Beschwerdeprozess erhobenen und einlässlich entkräfteten Rügen
erschöpften, nicht geeignet waren, die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz
zur Restarbeitsfähigkeit als irgendwie rechtsfehlerhaft erscheinen zu lassen.

2.2. Die Gesuchstellerin macht in ihrer Eingabe vom 30. Juni 2015 den
Revisionsgrund von Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG geltend. Sie bringt vor, bei
Durchsicht der Akten steche ins Auge, dass es sich vorliegend um einen Fall im
Sinne des Urteils 8C_900/2012 vom 7. Mai 2013 handle. Dr. med. B.________ komme
zum Schluss, dass aufgrund der neuen MRI-Befunde zwar keine neuen Diagnosen
gestellt werden könnten, sie aber aus wirbelsäulen-chirurgischer Sicht bei
richtiger Interpretation zumindest eine Arbeitsunfähigkeit von 70 bis 80 %
rechtfertigten. Diese dezidierte Auffassung des Dr. med. B.________ stehe in
Übereinstimmung mit sämtlichen Auskünften der Ärzte, welche die Gesuchstellerin
vor und nach dem Zeitpunkt der Begutachtungen bei der MEDAS behandelt hätten.
Daher sei ohne Weiteres davon auszugehen, dass die Sachverständigen der MEDAS
die damals zur Verfügung gestandenen radiologischen Bilder falsch
interpretierten. Insgesamt sei aufgrund der überzeugenden Darlegungen des Dr.
med. B.________ anzunehmen, dass den Experten der MEDAS das
wirbelsäulen-chirurgisch relevante Geschehen entgangen sei.

2.3.

2.3.1. Die Gesuchstellerin übersieht, dass sich das kantonale Gericht im
Entscheid vom 16. Mai 2011, auf dessen Beweiswürdigung und Beweisergebnis das
Bundesgericht im Urteil vom 4. November 2011 hinwies, einlässlich mit der Frage
auseinandersetzte, inwieweit die Folgen des zervikozephalen Schmerzsyndroms zu
einer Arbeitsunfähigkeit führten. Es würdigte dabei insbesondere eingehend die
im Revisionsgesuch erneut zitierte Stellungnahme des Dr. med. E.________ vom
25. Januar 2010. Weder aus den Auskünften dieses Arztes noch aus dem Gutachten
des Dr. med. B.________ vom 10. März 2015 bzw. dessen Bericht vom 25. Juni 2015
ergibt sich, dass die neurochirurgische Sachverständige der MEDAS die
radiologischen Bilder fehlerhaft interpretierte. Vielmehr hielt Dr. med.
B.________ im Bericht vom 25. Juni 2015 fest, viele Beschwerden und Schmerzen
sowie Funktionseinschränkungen liessen sich nicht bildgebend sichtbar machen
und die klinische Verschlechterung liesse sich morphologisch und bildgebend
nicht eins zu eins abbilden; trotzdem sei die damalige Beurteilung etwas zu
Ungunsten der Versicherten ausgefallen, was seiner persönlichen Meinung
entspreche. Aufgrund dieser Ausführungen vermag die Gesuchstellerin nicht
aufzuzeigen, inwiefern das Beweisgrundlage des Urteils vom 4. November 2011
bildende Gutachten der MEDAS vom 26. Oktober 2007 (mit Ergänzungen vom 30.
April und 14. Juli 2009) eindeutig fehlerhaft gewesen sein soll (vgl. E. 1.2.2
hievor). Der vorliegende Sachverhalt ist im Übrigen in keiner Weise mit
demjenigen zu vergleichen, welcher dem angerufenen Urteil 8C_900/2012 vom 7.
Mai 2013 E. 6.3 f. zugrunde lag, wonach die Sache wegen neuer radiologischer
Untersuchungsbefunde an die Vorinstanz zurückzuweisen war, damit sie nach
weiteren Abklärungen neu entscheide, ob ein Revisionsgrund im Sinne eines
unechten Novums vorliege.

2.3.2. Auf das Eventualbegehren, die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 20.
Januar 2010 sei in Wiedererwägung zu ziehen und der Revisionsgesuchstellerin
sei rückwirkend mindestens eine halbe Invalidenrente zuzusprechen, ist
offensichtlich mangels Anfechtungsobjekt nicht einzutreten.

3. 
Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ist infolge
Aussichtslosigkeit des Revisionsgesuchs abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Das Revisionsgesuch wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Gesuchstellerin auferlegt.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. August 2015
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Grunder

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