Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.95/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_95/2015

Urteil vom 1. Juni 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Maillard,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
A.________, vertreten durch
Herrn Adrian J. Bacchini, Bacchus Consulting, Beschwerdeführer,

gegen

Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau, Bahnhofstrasse 78, 5000
Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
26. November 2014.

Sachverhalt:

A. 
Der 1948 geborene A.________ war seit 1. Mai 1978 bis zu seiner vorzeitigen
Pensionierung auf 31. Dezember 2009 als Business Engineer bei der B.________ AG
tätig gewesen. Am 21. Dezember 2009 meldete er sich zur Arbeitsvermittlung an
und beantragte ab 1. Januar 2010 Taggelder der Arbeitslosenversicherung.
Nachdem er ab 22. Juni 2010 krankheitshalber arbeitsunfähig wurde, erhielt er
von der Arbeitslosenversicherung noch während 30 Tagen bis zum 21. Juli 2010
Krankentaggelder ausbezahlt. Er blieb im Anschluss daran weiterhin vollständig
arbeitsunfähig, weshalb die Arbeitslosenkasse keine weiteren Taggeldzahlungen
leistete. Am 26. November 2010 meldete sich A.________ bei der
Invalidenversicherung an. In der Folge verneinte das Amt für Arbeit (AWA) mit
Verfügung vom 14. Mai 2012 die Vermittlungsfähigkeit des Versicherten und wies
gleichzeitig auf die fehlende Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung
aufgrund der offensichtlichen Vermittlungsunfähigkeit ab dem 22. Juni 2010 hin.
Diese Verfügung wurde rechtskräftig.
Am 20. Juli 2012 forderte die Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau
wiedererwägungsweise in den Monaten Juni und Juli 2010 zu viel bezogene
Arbeitslosenentschädigung in der Höhe von Fr. 1'898.- zurück. Daran hielt sie
auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 30. Oktober 2012;). Auf das
gleichzeitig mit der Einsprache gestellte Gesuch um Erlass der Rückforderung
trat das AWA wegen fehlender Mitwirkung des Versicherten nicht ein (Verfügung
vom 17. September 2012).

B. 
Die gegen den Einspracheentscheid vom 30. Oktober 2012 geführte Beschwerde wies
das Versicherungsgericht des Kantons Aargau, nachdem es eine öffentliche
Verhandlung durchgeführt hat, ab, soweit es darauf eintrat (Entscheid vom 26.
November 2014).

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten sowie
subsidiäre Verfassungsbeschwerde führen und sinngemäss und im Wesentlichen
beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und des
Einspracheentscheids sei die Sache zur Neubeurteilung an die "Entscheidinstanz"
zurückzuweisen. Die Öffentliche Arbeitslosenkasse sei zudem anzuweisen, die
Taggeldabrechnungen der Monate Juni und Juli 2010 gesetzeskonform vorzunehmen.
Eventuell sei festzustellen, dass das kantonale Verfahren den Ansprüchen an ein
faires, kontradiktorisches Verfahren im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art.
14 IPBPR nicht genüge.
Während das AWA auf Abweisung der Beschwerde schliesst, hat das
Staatssekretariat für Wirtschaft SECO auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1. 
Bei der Eingabe des Beschwerdeführers sind die Voraussetzungen nach Art. 82 ff.
BGG für die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an sich
erfüllt, weshalb sie als solche - und nicht als (subsidiäre)
Verfassungsbeschwerde - entgegenzunehmen ist (Art. 113 BGG).

2.

2.1. Die Beschwerde umfasst nebst Anträgen in der Sache selbst und prozessualer
Natur auch einen Feststellungsantrag. Dieser ist gegenüber rechtsgestaltenden
oder leistungsverpflichtenden Rechtsbegehren grundsätzlich subsidiär (vgl. BGE
114 II 253 E. 2a S. 255, mit Hinweisen; Urteil des Bundesgerichts 2C.5/1999 vom
3. Juli 2003, E. 4.2). Auf diesen ist daher nicht einzutreten. Die darin
aufgeworfenen Rechtsfragen sind indessen in die Prüfung der Rechtmässigkeit des
vorinstanzlichen Entscheids eingeschlossen (in diesem Sinne bereits etwa die
Urteile 8C_351/2010 vom, 12. November 2010, 8C_201/2009 vom 11. September 2009,
8C_473/2008 vom 26. November 2008 und 8C_365/2011 vom 1. Juli 2011 mit jeweils
dem nämlichen Vertreter).

2.2. Nachdem die Vorinstanz auf Begehren des Beschwerdeführers hin am 26.
November 2014 eine öffentliche Verhandlung nach Art 6 Ziff. 1 EMRK durchgeführt
hat, ist nicht ersichtlich, inwiefern sich ausnahmsweise vor Bundesgericht eine
öffentliche Parteiverhandlung aufdrängen sollte (Art. 57 f. BGG), zumal für das
kantonale Gericht keine Pflicht zur Abnahme aller angebotenen Beweise,
namentlich einer Parteibefragung, bestand.

3. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG).

4.

4.1. Nach Art. 95 Abs. 1 AVIG in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 ATSG sind
unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten. Zu Unrecht bezogene
Geldleistungen, die auf einer formell rechtskräftigen Verfügung beruhen,
können, unabhängig davon, ob die zur Rückforderung Anlass gebenden Leistungen
förmlich oder formlos verfügt worden sind, nur zurückgefordert werden, wenn
entweder die für die Wiedererwägung (wegen zweifelloser Unrichtigkeit und
erheblicher Bedeutung der Berichtigung) oder die für die prozessuale Revision
(wegen vorbestandener neuer Tatsachen oder Beweismittel) bestehenden
Voraussetzungen erfüllt sind (BGE 130 V 318 E. 5.2 in fine S. 320; 129 V 110 E.
1.1).

4.2. Laut Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG verwirkt der Rückforderungsanspruch
mit dem Ablauf eines Jahres, "nachdem die Versicherungseinrichtung davon
Kenntnis erhalten hat". Unter dieser Wendung ist der Zeitpunkt zu verstehen, in
welchem die Verwaltung bei Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit hätte
erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen (SVR
2011 BVG Nr. 25 S. 93, 9C_611/2010 E. 3; vgl. BGE 124 V 380 E. 1 S. 382; 122 V
270 E. 5a S. 274; je mit Hinweisen). Ist für die Leistungsfestsetzung (oder die
Rückforderung) das Zusammenwirken mehrerer mit der Durchführung der
Versicherung betrauter Behörden notwendig, genügt es für den Beginn des
Fristenlaufs, dass die nach der Rechtsprechung erforderliche Kenntnis bei einer
der zuständigen Verwaltungsstellen vorhanden ist (BGE 119 V 431 E. 3a S. 433;
112 V 180 E. 4c S. 182; ZAK 1989 S. 558, H 212/88 E. 4b in fine; Urteile 9C_534
/2009 vom 4. Februar 2010 E. 3.2.2 und 9C_1057/2008 vom 4. Mai 2009 E. 4.1.2).

5. 
Das kantonale Gericht bejahte das Vorliegen eines Revisionsgrundes nach Art. 53
Abs. 1 AVIG, da im Zeitpunkt der Auszahlung der Taggelder für den Monat Juni
und Juli 2010 noch nicht bekannt war, dass der Versicherte nicht nur
vorübergehend, wovon die Arbeitslosenkasse aufgrund der Arztberichte habe
ausgehen dürfen, sondern andauernd arbeitsunfähig sein werde, weshalb sie
überhaupt Krankentaggelder gestützt auf Art. 28 AVIG ausgerichtet habe. Die
fehlende vorübergehende Natur der Arbeitsunfähigkeit sei für die
Arbeitslosenkasse erst mit rechtskräftiger Verfügung vom 14. Mai 2012 über die
Vermittlungsunfähigkeit seit 22. Juni 2010 verbindlich festgestellt worden.
Daher sei der Rückforderungsanspruch bei Erlass der entsprechenden Verfügung am
20. Juli 2012 nicht verwirkt gewesen.

6.

6.1. Die Vorbringen in der Beschwerde vermögen zu keinem anderen Ergebnis zu
führen. Die erneut in Zusammenhang mit der Begründungspflicht des
Einspracheentscheids vom 30. Oktober 2012 geltend gemachte Verletzung des
rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2) ist nicht stichhaltig. Es wird auf die
zutreffenden diesbezüglichen Erwägungen der Vorinstanz verwiesen.
Soweit der Beschwerdeführer mangelndes Rechtsschutzinteresse an der Anfechtung
der seiner Ansicht nach blossen Feststellungsverfügung vom 14. Mai 2012 geltend
machen will, ist mit der Vorinstanz nochmals zu betonen, dass darin nicht
einzig die dauernde Arbeitsunfähigkeit ab 22. Juni 2010 festgehalten, sondern
damit gleichzeitig die Vermittlungsfähigkeit verneint worden ist, was zum
fehlenden Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung für die Monate Juni und Juli
2010 führte, weshalb er diese hätte anfechten müssen, wenn er damit nicht
einverstanden gewesen war. Der Einwand des mangelnden Rechtsschutzinteresses an
der Anfechtung ist nicht nachvollziehbar.
Mit Blick auf die vorinstanzlich vom Beschwerdeführer wegen seiner schweren
Tumorerkrankung erstmals im Zusammenhang mit der Nichtanfechtung der Verfügung
vom 14. Mai 2012 geltend gemachte Prozessunfähigkeit bleibt festzuhalten, dass
ein Krankheitszustand nur dann ein unverschuldetes, zur Wiederherstellung
führendes Hindernis bildet, wenn und solange er jegliches auf die Fristwahrung
gerichtetes Handeln verunmöglicht. Die Erkrankung muss derart sein, dass der
Rechtsuchende durch sie davon abgehalten wird, selber innert Frist zu handeln
oder eine Drittperson mit der Vornahme der Prozesshandlung zu betrauen (Art. 41
ATSG; Urteile 9C_226/2010 vom 9. April 2010; SVR 2009 UV Nr. 25 S. 90, 8C_767/
2008 E. 5.3.2; 2/S. 8 und HAVE 2004 S. 317, C 272/03). Dass die Erkrankung zu
einer gänzlichen Handlungsunfähigkeit innert der Einsprachefrist führte, ergibt
sich indessen aus den Akten nicht und wurde auch nicht rechtzeitig geltend
gemacht. Der Versicherte war - mithin in Erwähnung der Verfügung des AWA vom
14. Mai 2012 - in der Lage, am 28. Mai 2012 mit der IV-Stelle zu
korrespondieren. Damit bleibt es bei der für die Arbeitslosenkasse bindenden
Verfügung des AWA vom 14. Mai 2012. Mit dieser wurde ein Rechtstitel für die
revisionsweise Rückforderung der Leistungen geschaffen, der nach wie vor
Bestand hat.

6.2. Es bleibt zu prüfen, ob der Rückerstattungsanspruch der Kasse in der Höhe
von Fr. 1'898.- verwirkt ist. Der Beschwerdeführer bringt vor, die einjährige
Frist zur Geltendmachung der Rückforderung sei klarerweise nicht eingehalten
worden. Indem das Spital C.________ eine voraussichtlich bestehende
Arbeitsunfähigkeit vom 22. Juni bis 21. Juli 2010 attestiert habe (Eingang des
undatierten Arztzeugnisses der Frau Dr. med. D.________ bei der
Arbeitslosenkasse am 28. Juli 2010) und in der Folge wegen seines schlechten
Gesundheitszustands von verschiedener Seite eine vollständige
Arbeitsunfähigkeit festgestellt worden sei, sei es unverständlich, weshalb die
Arbeitslosenkasse die Verfügung vom 20. Juli 2012 erst rund zwei Jahre nach
Kenntnis dieses Umstands erlassen habe.

6.3. Mit dieser Argumentation verkennt der Beschwerdeführer, dass aus den
Arztberichten und Attesten des im Mai 2010 festgestellten Magenkarzinoms nicht
hinreichend klar hervorging, dass ein den Arbeitslosenentschädigungsanspruch
verneinender Umstand vorliegt. Wie die Vorinstanz in nicht
bundesrechtswidrigerweise festhielt, durfte die Arbeitslosenkasse zu diesem
Zeitpunkt aufgrund der medizinischen Aktenlage von einer vorübergehenden
Arbeitsunfähigkeit ausgehen und dementsprechend Krankentaggelder nach Art. 28
Abs. 1 AVIG ausrichten. Nachdem die fehlende Vermittlungsfähigkeit dannzumal
nicht eindeutig feststand, liess die Arbeitslosenkasse diese zu Recht aufgrund
ihrer Zweifel hierüber durch die Amtsstelle (AWA) überprüfen. Hinreichend
sichere Kenntnis über die fehlende Vermittlungsfähigkeit und damit über den
Rechtsgrund der Rückerstattung erlangte die Arbeitslosenkasse erst mit der
abschliessenden Beurteilung der Vermittlungsfähigkeit und damit der
Anspruchsfrage durch das AWA in der Verfügung vom 14. Mai 2012 (vgl. Urteil
8C_640/2014 vom 19. Dezember 2014 E. 3.3). Bis diese in Rechtskraft erwuchs,
lag der Arbeitslosenentschädigungsanspruch in der Schwebe. Die
Arbeitslosenkasse machte daher die Rückforderung verfügungsweise am 20. Juli
2012 rechtzeitig geltend. Damit hat es beim vorinstanzlichen Entscheid sein
Bewenden.

7. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 62 BGG). Dem Prozessausgang
entsprechend sind die Gerichtskosten vom Beschwerdeführer als unterliegender
Partei zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wird nicht eingetreten.

2. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 1. Juni 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Polla

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