Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.933/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_933/2015

Urteil vom 2. März 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Wirthlin,
Gerichtsschreiber Jancar.

Verfahrensbeteiligte
Stadt Chur, gesetzlich handelnd durch den Stadtrat, Poststrasse 33, 7002 Chur,
Beschwerdeführerin,

gegen

Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 3. Kammer, Obere Plessurstrasse 1,
7001 Chur,
Beschwerdegegner

A.________.

Gegenstand
Sozialhilfe (Ausstand),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden,
3. Kammer, vom 3. November 2015.

Sachverhalt:

A. 
Mit Entscheid vom 28. April 2015 wies der Stadtrat der Stadt Chur die von
A.________ erhobene Beschwerde gegen den Leistungsentscheid der sozialen
Dienste der Stadt Chur vom 21. Januar 2015 betreffend die wirtschaftliche
Sozialhilfe ab 18. Oktober 2014 ab, soweit er darauf eintrat.

B. 
Dagegen führte A.________ beim Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden am 18.
Mai 2015 (Poststempel) Beschwerde (Verfahren U 15 47). Am 22. September 2015
beantragte die Stadt Chur den Ausstand des Verwaltungsrichters B.________. Mit
Entscheid vom 3. November 2015 trat die Vorinstanz auf das Ausstandsbegehren
nicht ein.

C. 
Mit Beschwerde beantragt die Stadt Chur, der kantonale Entscheid sei
aufzuheben; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Ein Schriftenwechsel wurde nicht angeordnet.

Erwägungen:

1. 
Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen selbständig eröffneten
Zwischenentscheid einer letzten kantonalen Instanz im Sinne von Art. 86 Abs. 1
lit. d BGG über ein Ausstandsbegehren (Art. 92 Abs. 1 BGG) im Rahmen einer
Streitigkeit, die der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
unterliegt (Art. 82 lit. a BGG). Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen sind
ebenfalls erfüllt und geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist somit zulässig, weshalb darauf
einzutreten ist (BGE 133 III 645 E. 2.2 S. 647 f.; Urteil 9C_821/2013 vom 29.
Januar 2014 E. 1).

2.

2.1. Gemäss Art. 30 Abs. 1 BV hat jede Person, deren Sache in einem
gerichtlichen Verfahren beurteilt werden muss, Anspruch auf ein durch Gesetz
geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht. Es soll
garantiert werden, dass keine sachfremden Umstände, die ausserhalb des
Prozesses liegen, in sachwidriger Weise zugunsten oder zulasten einer Partei
auf das gerichtliche Urteil einwirken (BGE 139 III 433 E. 2.1.2 S. 435; 138 I 1
E. 2.2 S. 3; 137 I 227 E. 2.1 S. 229; Urteil 5A_910/2013 vom 6. März 2014 E.
5.1).

2.2. Nach einem allgemeinen Grundsatz hat die Partei, die Kenntnis von einem
Ausstandsgrund hat, diesen unverzüglich geltend zu machen, da sie andernfalls
den Anspruch auf seine spätere Anrufung verwirkt (BGE 138 I 1 E. 2.2 S. 4).
Unverzüglich bedeutet nach der Rechtsprechung ein Geltendmachen des Anspruchs
binnen maximal sechs bis sieben Tagen; ein zwei- bis dreiwöchiges Zuwarten ist
bereits unzulässig (Urteil 8C_434/2015 vom 28. August 2015 E. 2). Laut Art. 6b
Abs. 3 des kantonalbündnerischen Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege
(VRG; BR 370.100) können die Parteien einen Ausstandsgrund innert zehn Tagen,
seit sie davon Kenntnis erhalten haben, bei der oder dem Vorgesetzten
beziehungsweise der oder dem Vorsitzenden geltend machen; die den Ausstand
begründenden Tatsachen sind glaubhaft zu machen.

2.3. Das Bundesgericht prüft die Verletzung von Bundesrecht oder Völkerrecht
(Art. 95 lit. a und b BGG) grundsätzlich frei. Die Regelung des Ausstands von
Gerichtspersonen im Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht ist eine
Frage des kantonalen Rechts. Dessen Auslegung und Anwendung prüft das
Bundesgericht - von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen - nur unter
dem eingeschränkten Gesichtswinkel des Willkürverbots (Art. 9 BV; BGE 131 I 467
E. 3.1 S. 473 f.; zum Willkürbegriff vgl. BGE 140 III 16 E. 2.1 S. 18). Dagegen
prüft es grundsätzlich frei, ob willkürfrei ausgelegtes kantonales Prozessrecht
im Ergebnis zu einer Verletzung von Bundes- oder Völkerrecht führt. Das
betrifft insbesondere die Garantie eines unabhängigen und unparteiischen
Gerichts gemäss Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK, der insoweit nicht
weitergeht (SVR 2009 UV Nr. 2 S. 5 und Nr. 8 S. 30 [8C_555/2007]; Urteil 9C_821
/2013 E. 4).

3. 
Die Vorinstanz trat auf das Ausstandsgesuch der Beschwerdeführerin gegen
Verwaltungsrichter B.________ nicht ein, da es gestützt auf Art. 6b Abs. 3 VRG
verspätet gewesen sei. Darüber hinaus erkannte sie in der Sache, dass bei ihm
kein Anschein von Befangenheit oder Voreingenommenheit vorliege.

4. 
Zu prüfen ist als Erstes die Rechtzeitigkeit des Ausstandsbegehrens der
Beschwerdeführerin gegen Verwaltungsrichter B.________.

4.1. Die Geltendmachung von Ausstandsgründen setzt die Kenntnis der personellen
Zusammensetzung des Gerichts voraus. Das verfassungsmässige Recht auf einen
unabhängigen und unparteiischen Richter umfasst deshalb auch den Anspruch auf
Bekanntgabe, welche Richter am Entscheid mitwirken. Das bedeutet indessen
nicht, dass der rechtsuchenden Person die Namen der entscheidenden Richter
ausdrücklich mitgeteilt werden müssen. Es genügt vielmehr, dass sie die Namen
aus einer allgemein zugänglichen Quelle (Staatskalender oder Internet)
entnehmen kann. Nach der Rechtsprechung müssen die Parteien damit rechnen, dass
das Gericht in seiner ordentlichen Besetzung tagen wird (BGE 139 III 120 E.
3.2.1 S. 124; Urteil 2C_440/2014 vom 10. Oktober 2014 E. 4.2). Dies gilt nicht
nur für anwaltlich vertretene Parteien, sondern auch für juristische Laien
(Urteile 1B_348/2011 vom 24. Februar 2012 E. 2.2 und 2C_164/2008 vom 28. Juli
2008 E. 3.1; vgl. auch BGE 132 II 485 E. 4.4 S. 497).

4.2. Die Beschwerdeführerin bringt vor, Verwaltungsrichter B.________ bzw. der
von ihm präsidierte Verein C.________ führten gegen sie seit 16. September 2014
bei der Vorinstanz ein emotional stark belastetes Verfahren (U 14 71)
betreffend Übernahme von Schultransportkosten für den zweisprachigen
Kindergarten deutsch/romanisch. Eine Sitzung vom 8. September 2014, an der
neben Verwaltungsrichter B.________ auch Vertreter des Kantons und des Vereins
D.________ teilgenommen hätten, habe gezeigt, dass dieser Fall zu einer
Grundsatzfrage zum Schutz der romanischen Sprache hochstilisiert werde. Es sei
deshalb nicht sichergestellt, dass Verwaltungsrichter B.________ im hier in
Frage stehenden Verfahren zwischen der Beschwerdeführerin und A.________ (U 15
47) völlig unabhängig und unbefangen handeln bzw. urteilen könne. Die
Beschwerdeführerin habe erst nach der telefonischen Rückfrage ihres
Rechtskonsulenten bei der Gerichtskanzlei am 16. September 2015 von der
Funktion des Verwaltungsrichters B.________ als Instruktionsrichter Kenntnis
haben können. Demnach habe sie mit dem Ausstandsbegehren vom 22. September 2015
die 10-tägige Frist nach Art. 6b Abs. 3 VRG eingehalten.

4.3.

4.3.1. Die Vorinstanz erwog richtig, dass die Zusammensetzung des
Verwaltungsgerichts Graubünden bzw. der für Sozialfälle zuständigen 3. Kammer
auf der Homepage des Kantons Graubünden ersichtlich ist (siehe http://
www.justiz-gr.ch/gerichte/verwaltungsgericht/ueber-uns/ kammern.html). Diese
Kammer besteht aus drei Richterpersonen. Verwaltungsrichter B.________ ist für
die Periode vom 1. Januar 2013 bis 31. Dezember 2016 aufgeführt. Dies ist denn
auch unbestritten. Gleiches gilt für die vorinstanzliche Feststellung, dass die
Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Parteistellung bei mehreren anderen
abgeschlossenen Verfahren betreffend Sozialhilfe schon seit geraumer Zeit
Kenntnis davon hatte, dass Verwaltungsrichter B.________ unter anderem für
Sozialhilfe-Fälle zuständig ist. Die Beschwerdeführerin musste somit ernsthaft
damit rechnen, dass er auch in dem seit 19. Mai 2015 bei der Vorinstanz
hängigen Verfahren U 15 47 gegen A.________ als Richter mitwirken würde (vgl.
BGE 132 II 485 E. 4.4 S. 497; Urteil 1B_348/2011 vom 24. Februar 2012 E. 2.2).
Es ist unerfindlich, weshalb sie seinen Ausstand - den sie mit seiner Teilnahme
an dem seit 16. September 2014 hängigen Verfahren U 14 71 begründet - nicht
bereits mit ihrer ersten Vernehmlassung im Verfahren U 15 47 vom 22. Juni 2015
beantragte. Das erst am 22. September 2015 gestellte Ausstandsbegehren war
somit verspätet (vgl. E. 2.2. hievor). Die Einwände der Beschwerdeführerin
vermögen hieran nichts zu ändern, wie folgende Erwägungen zeigen.

4.3.2. Die Beschwerdeführerin beruft sich erstmals letztinstanzlich auf die
Sitzung vom 8. September 2014. Hierbei handelt es sich angesichts des
angefochten Entscheides vom 3. November 2015 um ein unechtes Novum, dessen
Vorbringen nur im Rahmen von Art. 99 Abs. 1 BGG zulässig ist. Der
vorinstanzliche Verfahrensausgang allein bildet noch keinen hinreichenden
Anlass für die Zulässigkeit unechter Noven, die bereits im kantonalen Verfahren
ohne Weiteres hätten vorgebracht werden können (nicht publ. E. 1.3 des Urteils
BGE 138 V 286, in SVR 2012 FZ Nr. 3 S. 7 [8C_690/2011]). Die Beschwerdeführerin
legt nicht dar, dass ihr die Berufung auf diese Sitzung trotz hinreichender
Sorgfalt im vorinstanzlichen Verfahren prozessual unmöglich und objektiv
unzumutbar war. Sie ist somit unbeachtlich (vgl. Urteil 8C_761/2015 vom 8.
Januar 2016 E. 4.2).

4.3.3. Die Beschwerdeführerin rügt weiter, würde man auf die
Internetpublikation abstellen, wäre jedes Ausstandsbegehren gegen
Verwaltungsrichter B.________ nach dem 10. Januar 2013 als verspätet zu
betrachten, was nicht angehen könne. Sämtliche Gerichtskorrespondenz sei von
der Gerichtskanzlei "im Auftrag des Instruktionsrichters", jedoch nicht unter
namentlicher Nennung von B.________ unterzeichnet worden. Es wäre auch möglich,
dass eine stellvertretende Richterperson eingesprungen sei. Sie habe mithin
erst nach der telefonischen Rückfrage bei der Gerichtskanzlei vom 16. September
2015 von der Mitwirkung des Verwaltungsrichters B.________ Kenntnis haben
können. Diese Einwände sind nicht stichhaltig. Denn die Beschwerdeführerin
hatte bei der Prozessführung mit der gebotenen Sorgfalt vorzugehen. Dazu
gehörte, rechtzeitig das Vorliegen allfälliger Ausstandsgründe zu prüfen und
sich zu diesem Zweck die nötige Kenntnis der ordentlichen Besetzung des
Gerichts zu verschaffen (Urteil 2C_164/2008 E. 3.1).

5. 
Unter diesen Umständen braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob bei
Verwaltungsrichter B.________ der Anschein von Befangenheit oder
Voreingenommenheit besteht (vgl. auch Urteil 1B_11/2013 vom 11. März 2013 E.
4.4).

6. 
Die unterliegende Beschwerdeführerin, um deren Vermögensinteresse
(Sozialhilfeleistungen) es in der Hauptsache geht, trägt die Gerichtskosten
(Art. 66 Abs. 4 BGG; Urteil 8C_79/2010 vom 24. September 2010 E. 8, nicht publ.
in: BGE 136 V 346).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien und A.________ schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 2. März 2016
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Jancar

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