Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.876/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_876/2015

Urteil vom 29. Januar 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Frésard,
Gerichtsschreiber Jancar.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Christian Haag,
Beschwerdeführer,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung
(Einkommensvergleich; Valideneinkommen),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts Luzern
vom 30. Oktober 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1957 geborene A.________ erlitt am 23. November 1996 einen Skiunfall, bei
dem er sich am rechten Knie verletzte. Ab 1. April 1998 bezog er eine
Viertelsrente der Invalidenversicherung. Seit 19. November 2002 war er bei der
Firma B.________ zu 50 % als Fugenspezialist angestellt und damit bei der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch
unfallversichert. Am 25. Februar 2008 verletzte er sich am linken Handgelenk.
Die SUVA kam für die Heilbehandlung und das Taggeld auf. Der Versicherte wurde
fünfmal an der linken Hand operiert, zuletzt am 16. Januar 2012. Am 2.
September 2012 verletzte er sich am rechten Handgelenk, das am 1. Februar 2013
operiert wurde. Mit Verfügung vom 1. Mai 2014 stellte die SUVA die Heilkosten-
und Taggeldleistungen für beide Unfälle auf den 31. Juli 2014 ein. Den
Rentenanspruch verneinte sie. Sie sprach dem Versicherten für die Folgen des
Unfalls vom 25. Februar 2008 eine Integritätsentschädigung bei einer
Integritätseinbusse von 10 % und für die Folgen des Unfalls vom 2. September
2012 eine solche von 5 % zu. Die Einsprache des Versicherten wies sie mit
Entscheid vom 10. März 2015 ab.

B. 
Die hiegegen geführte Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern teilweise gut;
es änderte den Einspracheentscheid dahin gehend ab, dass die SUVA dem
Versicherten eine Integritätsentschädigung bei einer 35%igen
Integritätseinbusse zu bezahlen habe; im Übrigen wies es die Beschwerde ab; es
verpflichtete die SUVA, dem Versicherten die Kosten für den Bericht des Dr.
med. C.________, Facharzt FMH für Chirurgie, vom 29. Juni 2014 von Fr. 500.- zu
bezahlen (Entscheid vom 30. Oktober 2015).

C. 
Mit Beschwerde beantragt der Versicherte, in Aufhebung des kantonalen
Entscheids habe ihm die SUVA für die Unfälle vom 25. Februar 2008 und 2.
September 2012 eine Integritätsentschädigung bei einer 35%igen
Integritätseinbusse und eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 68 %
auszurichten; eventuell habe sie ihm eine Invalidenrente bei einem
Invaliditätsgrad von 45 %, subeventuell von 26 % auszurichten; sie habe die
Kosten für den Bericht des Dr. med. C.________ vom 29. Juni 2014 von Fr. 500.-
zu bezahlen.
Ein Schriftenwechsel wurde nicht angeordnet.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt
werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem
Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E.
2.2.1 S. 389).
 Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen
der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und
Art. 105 Abs. 3 BGG).

2. 
Die Vorinstanz hat die Grundlagen über die Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG),
die Invalidität (Art. 8 ATSG) den Rentenanspruch (Art. 18 Abs. 1 UVG), die
Invaliditätsbemessung nach dem Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG) und die
Ermittlung des Invaliditätsgrades bei Versicherten, deren Leistungsfähigkeit
wegen einer nicht versicherten Gesundheitsschädigung vor dem Unfall dauernd
herabgesetzt war (Art. 28 Abs. 3 UVV), richtig dargelegt. Gleiches gilt zum
Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232, 125 V 351 E. 3a S.
352). Darauf wird verwiesen.

3. 
Der Versicherte verlangt die Bestätigung der vorinstanzlichen Zusprache der
Integritätsentschädigung bei einer 35%igen Integritätseinbusse und der Kosten
für den Bericht des Dr. med. C.________ vom 29. Juni 2014 in Höhe von Fr.
500.-. Hierauf ist mangels eines schutzwürdigen Interesses des Versicherten
nicht einzutreten (Art. 89 Abs. 1 lit. c BGG; Bernhard Waldmann, in: Basler
Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 16 f. zu Art. 89 BGG).

4. 
Strittig und zu prüfen ist daher einzig der Rentenanspruch und in diesem Rahmen
der Einkommensvergleich.
Die Vorinstanz erwog, die SUVA habe gestützt auf den Auszug aus dem
individuellen Konto des Versicherten ein im Gesundheitsfall hypothetisch
erzielbares Valideneinkommen von Fr. 45'500.- ermittelt. Dieses Einkommen sei
aufgrund des Nominallohnindexes auf das Jahr 2014 zu indexieren, was Fr.
49'009.- ergebe. Das trotz Gesundheitsschadens erzielbare Invalideneinkommen
habe die SUVA gestützt auf die Schweizerische Lohnstrukturerhebung (LSE) des
Bundesamtes für Statistik, 2012, Tabelle TA1, Total, Anforderungsniveau 4
(recte: Kompetenzniveau 1) bei den Männern korrekt festgelegt. Indexiert auf
das Jahr 2014 und unter Berücksichtigung der betriebsüblichen wöchentlichen
Arbeitszeit von 41,7 Stunden im Jahr 2014 resultiere ein Einkommen von Fr.
66'138.-. Die SUVA habe einen 25%igen Leidensabzug vorgenommen, was ein
gerundetes Invalideneinkommen von Fr. 49'604.- ergebe. Der Versicherte sei im
Jahre 1996 wegen eines Trümmerbruchs am rechten Knie operiert worden. Da er
damals nicht entsprechend versichert gewesen sei, habe er für diesen Unfall
keine Leistungen nach UVG erhalten. Art. 100 Abs. 3 UVV komme daher nicht zur
Anwendung. Anwendbar sei hier indessen - zumindest analog - Art. 28 Abs. 3 UVV.
Sowohl das unterdurchschnittliche Einkommen als auch die Teilzeittätigkeit des
Versicherten seien durch die nicht versicherte Gesundheitsschädigung begründet,
die vor den hier zu beurteilenden Unfällen vom 25. Februar 2008 und 2.
September 2012 eingetreten sei. Deshalb seien vorliegend weder ein
Parallelitätsabzug noch eine Aufrechnung des Valideneinkommens auf ein volles
Pensum gerechtfertigt. Weil das Invalideneinkommen von Fr. 49'604.- das
Valideneinkommen von Fr. 48'470.- (recte: Fr. 49'009.-) übersteige, habe die
SUVA den Rentenanspruch zu Recht verneint.

5.

5.1. Der Versicherte macht geltend, die Berechnung der Vorinstanz verletze den
Grundsatz der Rechtsgleichheit und das Willkürverbot (Art. 8 f. BV) sowie den
Parallelitätsgrundsatz (Art. 16 ATSG). Sein früheres tiefes Einkommen habe er
nicht aus freien Stücken gewählt, sondern es sei auf einen Skiunfall im Jahre
1996 zurückzuführen gewesen, bei dem er einen Trümmerbruch am Knie mit
konsekutiver Operation erlitten habe. Vor diesem Unfall habe er als
Selbstständigerwerbender jährlich Fr. 143'000.- verdient, was indexiert auf das
Jahr 2014 Fr. 156'128.- ergebe. Danach habe er nur noch einem 50%igen Pensum
mit einem Einkommen von Fr. 45'500.- nachgehen können; es gehe nicht an, dass
die Vorinstanz die Unterdurchschnittlichkeit dieses früheren Einkommens mit
Verweis auf Art. 28 Abs. 3 UVV ausblende. Damit werde derselbe Faktor - die
geringe Höhe des Valideneinkommens - doppelt zu seinen Lasten berücksichtigt:
erstens bei einem tieferen versicherten Verdienst, zweitens beim Nichtzulassen
eines Parallelitätsabzugs infolge Unterdurchschnittlichkeit. Die Vorinstanz
schreibe selber, es sei noch nicht geklärt, ob Art. 28 Abs. 3 UVV überhaupt
anwendbar sei, wenn die vorbestehende Gesundheitsschädigung unfallbedingt sei.
Bei einem bisher deutlich unterdurchschnittlichen Einkommen sei das
Valideneinkommen gestützt auf Tabellenlöhne zu bestimmen oder das statistische
Invalideneinkommen zu parallelisieren. Mit diesem Vorgehen müsste die SUVA
nicht für einen nicht versicherten Gesundheitsschaden aufkommen; vielmehr werde
dieser Schaden bereits beim tieferen versicherten Verdienst berücksichtigt und
damit dem Vorzustand nicht zu Lasten der SUVA Rechnung getragen. Es sei von
einen Valideneinkommen von Fr. 156'128.- auszugehen, was verglichen mit dem
Invalideneinkommen von Fr. 49'604.- einen Invaliditätsgrad von 68 % ergebe.
Eventuell sei das mit einem 50%igen Pensum erzielte Erwerbseinkommen von Fr.
45'500.- auf ein 100%iges Pensum bzw. auf Fr. 91'000.- hochzurechnen, was zu
einem Invaliditätsgrad von 45 % führe. Subeventuell sei zu beachten, dass sein
Valideneinkommen als Fugenspezialist von Fr. 45'500.- um 32 % unter dem
entsprechenden LSE-Tabellenlohn von Fr. 72'267.- (Fr. 5'559.- x 13; LSE 2010,
Anforderungsniveau 3, Zeile 43, sonstiges Ausbaugewerbe) liege, weshalb sein
Invalideneinkommen um 32 % auf Fr. 33'731.- zu kürzen sei; dies führe zu einem
Invaliditätsgrad von 26 %.

5.2.

5.2.1. Art. 28 Abs. 3 UVV, dessen Anwendbarkeit hier umstritten ist, lautet:
War die Leistungsfähigkeit des Versicherten aufgrund einer nicht versicherten
Gesundheitsschädigung vor dem Unfall dauernd herabgesetzt, so ist für die
Bestimmung des Invaliditätsgrades der Lohn, den er aufgrund der vorbestehenden
verminderten Leistungsfähigkeit zu erzielen imstande wäre, dem Einkommen
gegenüberzustellen, das er trotz der Unfallfolgen und der vorbestehenden
Beeinträchtigung erzielen könnte. Dieser Sonderfall der Bestimmung des
Invaliditätsgrades kommt dort zur Anwendung, wo eine vorbestehende unfallfremde
verminderte Leistungsfähigkeit vorliegt, die in keinem Zusammenhang mit dem
versicherten Ereignis steht (PETER OMLIN, Die Invalidität in der
obligatorischen Unfallversicherung, Freiburg 1995, S. 131; RKUV 2006 Nr. U 570
S. 74 E. 2.4; Urteil 8C_441/2013 vom 3. März 2014 E. 6.1). Diese Voraussetzung
trifft hier unbestrittenermassen zu. Es liegen klar trennbare
Gesundheitsschädigungen vor. Der vorbestehende Gesundheitsschaden aufgrund des
im Jahre 1996 erlittenen Unfalls betraf das rechte Knie, während die hier in
Frage stehenden neuen Unfälle vom 25. Februar 2008 das linke Handgelenk und vom
2. September 2012 das rechte Handgelenk betrafen. In diesem Lichte ist Art. 28
Abs. 3 UVV hier anwendbar (vgl. auch Urteil U 262/96 vom 11. Februar 1998 E.
3).

5.2.2. Im Weiteren erkannte das Eidgenössische Versicherungsgericht (heute
Bundesgericht), dass Art. 28 Abs. 3 UVV auch dann gilt, wenn die vorbestehende
Gesundheitsschädigung - wie hier - durch einen Unfall verursacht wurde (vgl.
BGE 125 V 324 E. 3c/bb S. 331; Urteil U 262/96 E. 3; ebenso Alfred Maurer,
Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, 2. Aufl. 1989, S. 360). Es sind keine
Gründe ersichtlich, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.

5.2.3. Im Rahmen von Art. 28 Abs. 3 UVV stellt das vor dem neuen Unfall
erzielte Einkommen bei bereits herabgesetzter Leistungsfähigkeit zwar ebenfalls
ein Invalideneinkommen dar, entspricht jedoch mit Bezug auf den neuen Unfall
dem Valideneinkommen, während das nach diesem Unfall erzielte Einkommen das
Invalideneinkommen darstellt (Urteil U 219/97 vom 17. Februar 1999 E. 2a;
Omlin, a.a.O., S. 130 f.; Maurer, a.a.O., S. 360). Der Validenlohn im Sinne von
Art. 28 Abs. 3 UVV bildet mithin vom Verordnungsgeber gewollt bzw. per
definitionem ein gesundheitsbedingt reduziertes Einkommen, was im Lichte des
Normzwecks (vgl. E. 5.2.1 hievor) sachlich nicht zu beanstanden ist. Die
Erhöhung dieses Einkommens oder die Anwendung der Parallelisierungspraxis
(hierzu siehe BGE 135 V 297), wie dies der Versicherte verlangt (vgl. E. 5.1
hievor), würde dazu führen, dass Art. 28 Abs. 3 UVV praktisch "toter Buchstabe"
bliebe. Dem kann nicht gefolgt werden, weshalb der angefochtene Entscheid nicht
zu beanstanden ist. Von einer Verletzung der Rechtsgleichheit, des
Willkürverbots oder des Parallelitätsgrundsatzes nach Art. 16 ATSG kann keine
Rede sein.

6. 
Der unterliegende Versicherte trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. Januar 2016
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Jancar

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