Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.822/2015
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_822/2015

Urteil vom 14. Januar 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Wirthlin,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Fürsprecherin Esther Ebinger-Michel,
Beschwerdeführer,

gegen

Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau, Bahnhofstrasse 78, 5000
Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
22. September 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1969 geborene A.________ war seit Februar 2012 Geschäftsführer der
B.________ Suisse SA. Im gegenseitigen Einvernehmen wurde das Arbeitsverhältnis
auf den 31. Dezember 2014 wegen des Rückzugs der Automarke B.________ vom
europäischen Markt beendet. Die Parteien vereinbarten zusätzlich zu einer
Abgangsentschädigung, die sich auf Fr. 36'266.- belief, die Zahlung eines
"Retention Cash Grants" in der Höhe von Fr. 332'800.-. Am 9. Februar 2015
meldete sich A.________ bei der Arbeitslosenversicherung zum Leistungsbezug an.
Mit Verfügung vom 2. März 2015 verneinte die Öffentliche Arbeitslosenkasse des
Kantons Aargau einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung in der Zeit vom 10.
Februar 2015 bis 15. Juni 2016. Dies mit der Begründung, dem Versicherten seien
bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nebst dem Lohn weitere Leistungen in
der Höhe von Fr. 369'066.- ausgerichtet worden. Die Arbeitslosenkasse habe
davon, nach einem Abzug des Höchstbetrags von Fr. 126'000.-, Fr. 243'066.-
insofern zu berücksichtigen, als dieser Betrag zu einem nicht anrechenbaren
Arbeitsausfall für die Dauer von 17.52 Monaten führe. Nach Ablauf dieser
Zeitspanne bestehe, sofern die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt seien,
Anspruch auf Arbeitslosentaggeld. Daran hielt die Arbeitslosenkasse mit
Einspracheentscheid vom 12. Mai 2015 fest. Seit 10. August 2015 ist A.________
bei C.________ Center Europe angestellt, weshalb er sich auf diesen Zeitpunkt
hin von der Arbeitslosenversicherung abmelden konnte.

B. 
Die gegen den Einspracheentscheid vom 12. Mai 2015 geführte Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 22. September 2015
ab, soweit es darauf eintrat.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und des
Einspracheentscheids vom 12. Mai 2015 seien ihm ab 10. Februar 2015 Taggelder
der Arbeitslosenversicherung zuzusprechen.
Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG).

2.

2.1. Der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung setzt u.a. voraus, dass die
versicherte Person ganz oder teilweise arbeitslos ist (Art. 8 Abs. 1 lit. a in
Verbindung mit Art. 10 AVIG) und einen anrechenbaren Arbeitsausfall erlitten
hat (Art. 8 Abs. 1 lit. b in Verbindung mit Art. 11 AVIG). Der Arbeitsausfall
ist gemäss Art. 11 Abs. 1 AVIG anrechenbar, wenn er einen Verdienstausfall zur
Folge hat und mindestens zwei aufeinanderfolgende volle Arbeitstage dauert. Ein
Arbeitsausfall, für den der arbeitslosen Person Lohnansprüche oder
Entschädigungsansprüche wegen vorzeitiger Auflösung des Arbeitsverhältnisses
zustehen, ist nicht anrechenbar (Art. 11 Abs. 3 AVIG). Der Arbeitsausfall ist
überdies so lange nicht anrechenbar, als freiwillige Leistungen des
Arbeitgebers den durch die Auflösung des Arbeitsverhältnisses entstehenden
Verdienstausfall decken (Art. 11a Abs. 1 AVIG) und den Höchstbetrag gemäss Art.
3. Abs. 2 AVIG von Fr. 126'000.- übersteigen (Art. 11a Abs. 2 AVIG). Als
freiwillige Leistungen des Arbeitgebers bei der Auflösung des privatrechtlichen
oder öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnisses gelten sämtliche Leistungen,
die nicht Lohn- oder Entschädigungsansprüche nach Art. 11 Abs. 3 AVIG
darstellen (Art. 10a AVIV; Weisung des SECO vom Oktober 2012, AVIG-Praxis ALE
B105 und B122 f.). Bei vorzeitiger Auflösung des Arbeitsverhältnisses im
gegenseitigen Einvernehmen führen sodann gemäss Art. 10h Abs. 1 AVIV über das
tatsächliche und rechtliche Ende des Beschäftigungsverhältnisses hinaus
erbrachte Leistungen des Arbeitgebers ebenfalls zumindest solange zu einem
Ausschluss der Anrechenbarkeit des Arbeitsausfalls, wie dieses Entgelt den
Einkommensverlust bis zum ursprünglich frühestmöglichen gesetzlichen oder
vertraglichen Vertragsende entschädigt (vgl. hierzu auch BGE 139 V 384).
Übersteigen die Leistungen des Arbeitgebers den Betrag des der versicherten
Person bis zur ordentlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses geschuldeten
Lohnes, so sind die Bestimmungen über die freiwilligen Leistungen des
Arbeitgebers nach Art. 11a AVIG anwendbar (Art. 10h Abs. 2 AVIV; BGE 141 V 462
E. 3 S. 428 f.).

2.2. Der seit 1. Juli 2003 in Kraft stehende Art. 11a AVIG legt einen
gesetzlichen Grenzbetrag für die Berücksichtigung der freiwilligen
Arbeitgeberleistung bei der Anrechenbarkeit des Arbeitsausfalls fest und nur
die darunter liegenden Leistungen bleiben unberücksichtigt (vgl. BORIS RUBIN,
Commentaire de la loi sur l'assurance-chômage, 2014, N. 1 ff. zu Art. 11a
AVIG). Der Gesetzgeber führte diese Regelung ein, weil es als stossend
empfunden wurde, dass Versicherte, die ausserordentlich hohe Leistungen von
ihrem ehemaligen Arbeitgeber beziehen, vom ersten Tag an
Arbeitslosenentschädigung erhalten (Botschaft zu einem revidierten
Arbeitslosenversicherungsgesetz vom 28. Februar 2001, BBl 2001 II 2245 ff.;
Urteile 8C_568/2007 vom 19. Juni 2008 E. 3.4 4A_670/2010 vom 4. April 2011 E.
5.3 und 8C_233/2012 vom 5. Juni 2012 E. 3.1), eine volle Anrechnung
freiwilliger Leistungen an die Taggelder der Arbeitslosenversicherung aber dazu
führen würde, dass in Sozialplänen keine Abgangsentschädigungen mehr vorgesehen
würden (Amtl. Bull. 2001 S. 395).

3.

3.1. Das kantonale Gericht erwog, laut Arbeitsvertrag vom 3. Februar 2012 mit
der B.________ Suisse SA sei ein monatliches Bruttosalär als Sales Manager in
der Höhe von Fr. 11'600.- vereinbart worden. Im Hinblick auf die Einstellung
des Neuwagenverkaufsgeschäfts von B.________ Europe in Europa hätten die
Arbeitgeberin und der Beschwerdeführer am 8. Januar 2014 eine Vereinbarung über
die Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf den 31. Dezember 2015
unterzeichnet. Am 28. August 2014 sei diese unter Beibehaltung der übrigen
Bestimmungen dahingehend abgeändert worden, dass die Parteien überein gekommen
seien, das Arbeitsverhältnis bereits auf den 31. Dezember 2014 zu beenden.
Vereinbarungsgemäss habe der Beschwerdeführer ein monatliches Bruttoeinkommen,
eine Jahresendzulage pro rata temporis, weitere Zulagen und einen Ersatz der
angefallenen Spesen (gemäss Absprache) erhalten. Nebst einer
Abgangsentschädigung im Umfang von Fr. 36'266.- habe die Gesellschaft bei
Vertragsende überdies einen "brutto Retention Cash Grant" von Fr. 332'800.-
unter der Bedingung geleistet, dass der Beschwerdeführer bis dahin seine im
Zusammenhang mit dem Firmenrückzug umschriebenen Pflichten zufriedenstellend
erfüllt habe. Bei vorzeitiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses hätte er
diesen Anspruch verloren; ein reduzierter Anspruch hätte bestanden, wenn er
eine angebotene, angemessene Position in einer anderen Gruppengesellschaft
angenommen hätte. Die Arbeitgeberin habe in der Arbeitgeberbescheinigung vom
10. Februar 2015 den "Retention Cash Grant" sodann als Gratifikation und die
Abgangsentschädigung als zusätzliche finanzielle Leistung bei Beendigung des
Arbeitsverhältnisses aufgeführt. Die Beurteilung der Pflichterfüllung sei im
alleinigen Ermessen der Arbeitgeberin gelegen. Zusätzlich sei die Leistung in
Abhängigkeit zu einer allfälligen Weiterbeschäftigung in einer Gesellschaft der
D.________ Gruppe gestanden. Ein Salär sei dementgegen unabhängig von der
Beurteilung der Pflichterfüllung und der Weiterbeschäftigung für die geleistete
Arbeit geschuldet worden. Damit besitze die Zuwendung keinen Lohncharakter,
sondern erfülle vielmehr die Funktion einer Abgangsentschädigung.

3.2. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Qualifikation des "Retention
Cash Grants" als freiwillige Entschädigung gemäss Art. 11a AVIG; es handle sich
dabei um eine Lohnzahlung. Wenn er hierzu darlegt, als die E.________
Corporation im Dezember 2013 entschieden habe, den Verkauf von B.________
Neuwagen in der Schweiz einzustellen, habe die Arbeitgeberin befürchtet, dass
die Arbeitnehmer die B.________ Suisse SA vorzeitig verlassen würden und somit
nicht mehr bis zum Abschluss der Einstellung des Neuwagenverkaufgeschäfts zur
Verfügung stünden, wird damit gerade nicht der Lohncharakter, sondern die
Freiwilligkeit der Leistung im Zusammenhang mit der Vertragsbeendigung betont.
Mit dem "Retention Cash Grant" beabsichtigte die Unternehmung, den
Beschwerdeführer bis zum vereinbarten Vertragsende an sich zu binden. Die
Zuwendung in Bargeldform sollte im Sinne einer Durchhalteprämie das Verbleiben
der benötigten Mitarbeiter an der Arbeitsstelle für den ordentlichen Rückzug
aus dem Marktsegment bis zum vereinbarten Termin sicherstellen. Sie war ohne
Frage mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses verknüpft und wurde erst nach
pflichtgemässer Erfüllung der mit der Aufgabe des Neuwagenverkaufsgeschäfts
verbunden Aufgaben auf Ende des Arbeitsvertrags ausbezahlt In der Vereinbarung
über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses vom 8. Januar 2014 wird denn auch
zwischen dem zustehenden Bruttolohn (als Entgelt für geleistete Arbeit) und der
Abgangsentschädigung sowie des "Retention Cash Grants" in der Höhe von Fr.
332'800.- unterschieden, wobei die Abgangsentschädigung sowie der "Retention
Cash Grant" mit Vorbehalten versehen wurden. Wie die Vorinstanz bereits
zutreffend ausführte, geht der Leistungsanspruch hinsichtlich der
Abgangsentschädigung und des "Retention Cash Grants" vollständig unter, wenn
Arbeitgeberin oder Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis im Sinne von Art. 4 der
Vereinbarung vor Vertragsende beenden oder er besteht teilweise, wenn eine
angemessene Position in einer anderen Gesellschaft der D.________ Gruppe für
die Zeit nach Vertragsende angeboten und angenommen wird. Hierin zeigt sich
deutlich der fehlende Lohncharakter des "Retention Cash Grants". Wäre dieser
als Lohn für zusätzliche Leistungen zu verstehen, ginge der Anspruch nicht in
den in Art. 4 der Vereinbarung umschriebenen Fällen vorzeitiger Beendigung des
Arbeitsverhältnisses unter, sondern bestünde anteilsmässig bis Vertragsende,
bzw. bestünde bei einer Stellenannahme im dargelegten Sinn ausschliesslich bis
Vertragsende.
Weiter ist der "Retention Cash Grant" nur bei zufriedenstellender Leistung
geschuldet, welche Beurteilung im alleinigen Ermessen der Gesellschaft lag
(Art. 2 Ziffer 3 der Vereinbarung). Diese einzelvertragliche Vereinbarung im
Rahmen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses stellt - ebenso wie die
Abgangsentschädigung - eine die Folgen der Kündigung in finanzieller Hinsicht
abfedernde, vom Willen der Arbeitgeberin abhängige Massnahme dar (zur
Freiwilligkeit als entscheidendes Kriterium: vgl. THOMAS NUSSBAUMER,
Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR],
Soziale Sicherheit, 3. Aufl. 2016, S. 2315 Rz. 168). Die vorinstanzliche
Qualifikation des "Retention Cash Grants" sowie der Abgangsentschädigung als
nicht Lohn- oder Entschädigungsansprüche nach Art. 11 Abs. 3 AVIG, sondern als
freiwillige Zuwendungen der Arbeitgeberin im Sinne von Art. 11a AVIG (in
Verbindung mit Art. 10a AVIV), lässt sich daher nicht beanstanden. Im Umfang
von Fr. 243'066.- (Fr. 332'800 + Fr. 36'266.-, reduziert um den Höchstbetrag
von Fr. 126'000.- [Art. 11a Abs. 2 AVIG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 AVIG])
liegt demzufolge ein nicht anrechenbarer Arbeitsausfall vor. Die
vorinstanzliche Verneinung des Arbeitslosenentschädigungsanspruchs für den
ermittelten Zeitraum ist rechtens.

4. 
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art.
66 Abs. 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und dem Amt für Wirtschaft und
Arbeit (AWA) des Kantons Aargau schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. Januar 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Polla

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben