Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.810/2015
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_810/2015

Urteil vom 5. Januar 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Jancar.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Luzern,
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts Luzern
vom 28. September 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die IV-Stelle Luzern sprach der 1963 geborenen A.________ mit Verfügung vom 6.
Juli 2004 ab 1. März 2002 eine ganze Invalidenrente zu. Sie bestätigte diesen
Rentenanspruch mit Mitteilungen vom 14. September 2007 und 16. Februar 2009. Am
11. September 2013 leitete sie gestützt auf lit. a Abs. 1 der am 1. Januar 2012
in Kraft getretenen Schlussbestimmungen der Änderung vom 18. März 2011 des IVG
(6. IV-Revision, 1. Massnahmenpaket, nachfolgend SchlBest. IVG) eine
Rentenrevision ein. Sie holte diverse Arztberichte und ein Gutachten der
Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) vom 4. September 2014 ein. Mit Verfügung
vom 16. Januar 2015 hob sie die Invalidenrente mit dem ersten Tag des zweiten
Monats nach Zustellung der Verfügung auf.

B. 
Hiegegen erhob die Versicherte beim Kantonsgericht Luzern Beschwerde. Sie legte
einen Bericht der Psychiaterin Dr. med. B.________ vom 29. Januar 2015 auf. Mit
Entscheid vom 28. September 2015 wies die Vorinstanz die Beschwerde ab.

C. 
Mit Beschwerde beantragt die Versicherte, in Aufhebung des kantonalen
Entscheides sei ihr weiterhin eine ganze Invalidenrente auszurichten; eventuell
sei die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie vor der
Rentenaufhebung berufliche Massnahmen durchführe; es sei ihr die unentgeltliche
Rechtspflege zu gewähren.
Ein Schriftenwechsel wurde nicht angeordnet.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt
werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem
Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E.
2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2
BGG). Rechtsfragen sind die vollständige Feststellung erheblicher Tatsachen
sowie die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes bzw. der
Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG. Die konkrete Beweiswürdigung
ist Sachverhaltsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397; nicht publ. E. 4.1 des
Urteils BGE 135 V 254, veröffentlicht in SVR 2009 IV Nr. 53 S. 164 [9C_204/
2009]).

2. 
Die Vorinstanz hat die Grundlagen über die Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 Abs. 2
ATSG), die Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG; Art. 4 IVG), die Rentenrevision
(Art. 17 Abs. 1 ATSG; Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV; BGE 134 V 131 E. 3 S. 132)
und den Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232, 125 V 351)
richtig dargelegt. Gleiches gilt betreffend die Beurteilung der Invalidität bei
pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne
nachweisbare organische Grundlage (BGE 141 V 281) und die Überprüfung der
gestützt hierauf zugesprochenen Renten nach lit. a SchlBest. IVG (BGE 140 V 8).
Darauf wird verwiesen.

3. 
Die Vorinstanz hat in Würdigung der medizinischen Akten mit einlässlicher
Begründung - auf die verwiesen wird - erwogen, eine Rentenaufhebung nach lit. a
Abs. 1 SchlBest. IVG sei nicht möglich. Zu prüfen sei, ob sich der
Gesundheitszustand der Versicherten seit der Rentenbestätigung vom 14.
September 2007 bis zur strittigen Verfügung vom 16. Januar 2015 im Sinne von
Art. 17 Abs. 1 ATSG erheblich verändert habe. Am 14. September 2007 sei davon
ausgegangen worden, die Versicherte leide psychischerseits an einer
somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 F45.4) und an einer sonstigen Reaktion auf
schwere Belastung (ICD-10 F43.8) und sei in der freien Wirtschaft
arbeitsunfähig. Das internistische, rheumatologische, psychiatrische und
neurologische MEDAS-Gutachten vom 4. September 2014 erfülle die Anforderungen
an eine medizinische Beurteilungsgrundlage. Hierin seien folgende Diagnosen mit
wesentlicher Einschränkung der zumutbaren Arbeitsfähigkeit gestellt worden:
Psychische Faktoren, die körperliche Störungen bewirkten, z.B. Erbrechen auf
Stress (ICD-10 F54); schwerer Verdacht auf unerwünschte Nebenwirkungen von
Olanzapin mit Sedation, Konzentrationsstörungen und Gewichtszunahme;
chronisches spondylogenes zervikothorakales Schmerzsyndrom myofaszialer
Prägung; manifeste leichte Rhizarthrose und Triscaphoidarthrose rechts.
Diagnosen ohne wesentliche Einschränkung der Arbeitsfähigkeit, aber mit
Krankheitswert, seien: Akzentuierte Persönlichkeitszüge mit sensitiven und
histrionischen Merkmalen (ICD-10 Z73.1); chronisches, unspezifisches lumbales
Schmerzsyndrom; Nikotinabusus (ICD-10 F17.25). Gestützt auf dieses Gutachten
habe sich der Gesundheitszustand jedenfalls psychischerseits wesentlich
verbessert; es bestehe überwiegend wahrscheinlich eine zumutbare
Arbeitsfähigkeit von 80 % für die bisherige Tätigkeit als Übersetzerin und
Kulturvermittlerin sowie für andere körperlich leichte bis mittelschwere
Tätigkeiten, entsprechend den ergonomischen Vorgaben. Somit seien die
Revisionsvoraussetzungen nach Art. 17 Abs. 1 ATSG erfüllt.

4. 
Sämtliche Rügen der Versicherten vermögen am vorinstanzlichen Ergebnis nichts
zu ändern. Festzuhalten ist insbesondere Folgendes.

4.1. Die Versicherte wendet ein, die Vorinstanz habe aus dem Umstand, dass sie
gegenüber der psychiatrischen MEDAS-Teilgutachterin Frau Dr. med. C.________
keine Schmerzen mehr geschildert habe, zu Unrecht geschlossen, es liege keine
somatoforme Schmerzstörung oder Somatisierungsstörung mehr vor. Hierbei habe
sie nämlich verkannt, dass sie im Rahmen der rheumatologischen
MEDAS-Teilbegutachtung durch Dr. med. D.________ sehr wohl die seit Jahren
persistierenden diversen Schmerzzustände angegeben habe. Diese Einwände sind
nicht stichhaltig. Denn Frau Dr. med. C.________ verwies auf die von Dr. med.
D.________ diskutierte Schmerzproblematik und hatte somit Kenntnis von den
Schmerzangaben der Versicherten. Gestützt hierauf verneinte Frau Dr. med.
C.________ eine psychische Überlagerung.

4.2. Die Versicherte bringt weiter vor, entgegen der Vorinstanz könne aus dem
Umstand, dass ihr behinderter Sohn seit geraumer Zeit in einem Internat
untergebracht sei, nicht auf eine verringerte psychosoziale Belastung
geschlossen werden. Dies widerspreche ihren Ausführungen gegenüber der
Gutachterin Frau Dr. med. C.________ und den Verlaufsberichten der Hausärztin
Frau Dr. med. E.________, Fachärztin FMH für Allgemeinmedizin, vom 9. Februar
2009 und 13. November 2013. Diesen Einwänden kann nicht gefolgt werden. Die
Vorinstanz erwog richtig, dass behandelnde Arztpersonen mitunter im Hinblick
auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung im Zweifelsfall eher zu Gunsten
ihrer Patienten aussagen (BGE 135 V 465 E. 4.5. S. 470). Die Berichte der Frau
Dr. med. E.________ vermögen das psychiatrische MEDAS-Teilgutachten, wonach die
psycho-sozialen Belastungen eher abgenommen hätten, nicht in Frage zu stellen.

4.3.

4.3.1. Die Versicherte beruft sich auf die Ausführungen im psychiatrischen
Teilgutachten der Frau Dr. med. C.________, wonach die Widersprüche und
Inkonsistenzen eine zweifelsfreie Beurteilung verhinderten. Inwiefern sie
Widersprüche und Inkonsistenzen eruiert habe, habe Frau Dr. med. C.________
aber nicht angegeben. Weiter habe sie festgehalten, einen Vergleich zum
Gesundheitszustand des Jahres 2009 könne sie nicht ziehen, da hierfür keine
psychiatrischen Berichte vorlägen. Die von ihr verneinten Diagnosen einer
schweren Depression und einer floriden psychotischen Erkrankung seien im Jahr
2007 nicht diagnostiziert worden, weshalb sie nicht zum Vergleich herangezogen
werden könnten und daraus keine Verbesserung abgeleitet werden könne.

4.3.2. Diese Einwände sind ebenfalls unbeheflich. Soweit die Gutachterin Frau
Dr. med. C.________ eine schwere Depression und eine floride psychotische
Erkrankung verneinte, ist dies im Zusammenhang mit dem von ihr zitierten
Bericht der Psychiaterin Frau Dr. med. F.________ vom 26. März 2010 zu sehen,
worin diese ausführte, die Versicherte leide möglicherweise an einer
schizophrenen Psychose; differentialdiagnostisch könne es sich auch um eine
schwere Depression mit psychotischen Symptomen handeln.
Frau Dr. med. C.________ gab weiter unter anderem an, aufgrund einer
Google-Recherche bestünden ein ausführliches Interview mit der Versicherten und
von ihr verfasste Gedichte, was schwer vereinbar sei mit den kognitiven
Einschränkungen, die sie im Abklärungsgespräch geltend gemacht und in der
neuropsychologischen Testung gezeigt habe. Sie zeige psychische
Auffälligkeiten, deren Krankheitswert in Frage gestellt werden müsse. Es sei
ein sich selbst darstellendes, leicht histrionisches Verhalten zu beobachten.
Die Authentizität sei fraglich. Auch manipulative Tendenzen seien zu
beobachten. Damit zeigte Frau Dr. med. C.________ die von ihr beobachteten
Widersprüche und Inkonsistenzen auf.
Entscheidend ist, dass aus dem Teilgutachten der Frau Dr. med. C.________ eine
Verbesserung der Arbeitsfähigkeit der Versicherten seit der Rentenbestätigung
vom 14. September 2007 - welche unbestrittenermassen den Vergleichszeitpunkt
darstellt - hervorgeht. Auch wenn Frau Dr. med. C.________ eine zweifelsfreie
Beurteilung nicht als möglich ansah, ist es insgesamt nicht zu beanstanden,
wenn die Vorinstanz auf das MEDAS-Gutachten vom 4. September 2014 abstellte.
Denn eine Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich
unrichtig (vgl. E. 1 hievor), wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn
sie eindeutig und augenfällig unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Es
liegt noch keine offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere Lösung
ebenfalls in Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erschiene (
BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9). Diese Grundsätze gelten auch bei der konkreten
Beweiswürdigung, bei der dem vorinstanzlichen Gericht ein erheblicher
Ermessensspielraum zusteht (BGE 132 III 209 E. 2.1 S. 211, 130 I 258 E. 1.3 S.
261; nicht publ. E. 1.2 f. des Urteils BGE 140 V 405, in SVR 2015 BVG Nr. 12 S.
47; SVR 2014 IV Nr. 37 S. 130 E. 1.2 [8C_7/2014]). Da von weiteren
medizinischen Abklärungen keine entscheidrelevanten Ergebnisse zu erwarten
sind, verzichtete die Vorinstanz darauf zu Recht (antizipierte Beweiswürdigung;
BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236).

5. 
Im Zeitpunkt der Rentenaufhebung war die Versicherte rund 51 Jahre und 3 Monate
alt und sie bezog die Invalidenrente seit 13 Jahren. Entgegen ihrem Vorbringen
kann noch nicht von einem Grenzfall gesprochen werden, der die Anordnung einer
beruflichen Eingliederungsmassnahme rechtfertigt (hierzu vgl. BGE 141 V 5 E.
4.2.1 f. S. 7 f.).

6. 
Die rechnerische Bemessung der Invalidität, die zu einem rentenausschliessenden
Invaliditätsgrad unter 40 % führte (vgl. Art. 28 Abs. 2 IVG), ist unbestritten,
weshalb sich hierzu Weiterungen erübrigen.

7. 
Die unterliegende Versicherte trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Die unentgeltliche Rechtspflege kann ihr wegen Aussichtslosigkeit der
Beschwerde nicht gewährt werden (Art. 64 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. Januar 2016
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Jancar

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben