Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.683/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_683/2015

Urteil vom 29. Oktober 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Maillard,
Gerichtsschreiberin Berger Götz.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt David Husmann,
Beschwerdeführerin,

gegen

Basler Versicherung AG,
Hauptsitz, Aeschengraben 21, 4051 Basel,
vertreten durch Rechtsanwalt Urs Hofer,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung (Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 18. August 2015.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügung vom 28. April 2011 und Einspracheentscheid vom 5. Dezember 2011
verneinte die Basler Versicherung AG (nachfolgend: Basler) als obligatorischer
Unfallversicherer einen Anspruch von A.________, geboren 1956, auf
Heilbehandlung per sofort und auf Taggelder für die Zeit ab 1. Juni 2011 im
Zusammenhang mit den Folgen eines am 11. September 1999 erlittenen Unfalles;
ausserdem stellte sie fest, dass unverändert Anspruch auf eine Rente bei einer
Erwerbsunfähigkeit von 50 % bestehe. A.________ führte am 23. Januar 2012
Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Nach Androhung einer
möglichen reformatio in peius wies dieses die Beschwerde mit Entscheid vom 6.
September 2013 ab und änderte den Einspracheentscheid dahingehend, als die
Rente (entsprechend einer 50%igen Erwerbsunfähigkeit) auf den ersten Tag des
zweiten Monats, der der Zustellung des Urteils folge, aufgehoben werde. Dieser
Entscheid erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

B. 
Mit Eingabe vom 17. November 2014 liess A.________ darum ersuchen, den
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 6. September 2013 in
Revision zu ziehen, und den Antrag stellen, in Gutheissung der Beschwerde vom
23. Januar 2012 sei der Einspracheentscheid vom 5. Dezember 2011 aufzuheben und
die Basler sei zu verpflichten, über den 31. Mai 2011 hinaus Taggeldleistungen
nach Massgabe einer 100%igen Arbeitsunfähigkeit zu erbringen sowie die
unfallbedingten Heilungskosten weiterhin zu vergüten; eventualiter sei die
Basler zu verpflichten, mit Wirkung ab 1. Juni 2011 eine Invalidenrente,
basierend auf einem 100%igen Invaliditätsgrad, auszurichten. Das
Verwaltungsgericht trat auf das Revisionsgesuch nicht ein (Entscheid vom 18.
August 2015).

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erheben
mit dem Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid vom 18. August 2015 sei
aufzuheben und der verwaltungsgerichtliche Entscheid vom 6. September 2013 sei
in dem Sinne zu revidieren, dass ihr in Aufhebung des Einspracheentscheides
auch über den 31. Mai 2011 hinaus Erwerbsersatzleistungen nach UVG zuzusprechen
seien; eventuell sei die Angelegenheit mit der Feststellung, dass die
sachlichen Voraussetzungen für die Durchführung eines Revisionsverfahrens
hinsichtlich des vorinstanzlichen Entscheids vom 6. September 2013 gegeben
seien, an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
Ein Schriftenwechsel ist nicht durchgeführt worden.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es
kann die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem
Recht nur insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht
und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).
Streitgegenstand bildet im Verfahren vor Bundesgericht die Frage, ob die
Vorinstanz auf das Revisionsgesuch der Beschwerdeführerin hätte eintreten
müssen. Es geht mithin allein um eine prozessuale Frage und nicht um die
Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Unfallversicherung im
Sinne der Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG. Daher legt das Bundesgericht
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz
nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig sind oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen (Art. 97 Abs. 1 und
Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Die Beschwerdeführerin macht geltend, das kantonale Gericht habe Bundesrecht
verletzt, indem es nicht auf ihr Gesuch um Revision des Entscheides vom 6.
September 2013 eingetreten sei.

2.1. Gemäss Art. 61 lit. i ATSG muss die Revision von Entscheiden der
kantonalen Versicherungsgerichte wegen Entdeckung neuer Tatsachen oder
Beweismittel oder wegen Einwirkung durch Verbrechen oder Vergehen gewährleistet
sein, wobei sich das Verfahren nach kantonalem Recht richtet. Gemäss Art. 95
lit. b des bernischen Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 23. Mai
1989 (VRPG; BSG 155.21) kann ein rechtskräftiger Entscheid einer
Verwaltungsjustizbehörde auf Gesuch hin abgeändert oder aufgehoben werden, wenn
die Partei nachträglich erhebliche Tatsachen erfährt oder entscheidende
Beweismittel auffindet, die sie im früheren Verfahren nicht anrufen konnte,
unter Ausschluss derjenigen, die nach dem fraglichen Entscheid entstanden sind.

2.2. Aus bundesrechtlicher Sicht ist die prozessuale Revision eines kantonalen
Beschwerdeentscheids aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel (Art. 61 lit. i
ATSG; vgl. [bezüglich Revision rechtskräftiger Verfügungen und
Einspracheentscheide] Art. 53 Abs. 1 ATSG und [bezüglich Revision
bundesgerichtlicher Urteile] Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG, wo der Begriff "neue
Tatsachen oder Beweismittel" jeweils gleich auszulegen ist [SVR 2010 IV Nr. 55
S. 169, 9C_764/2009 E. 3.1, Urteil 9C_955/2012 vom 13. Februar 2013 E. 3.1 mit
Hinweisen]) angezeigt, wenn Tatsachen vorliegen, die sich vor Erlass des
Entscheids, der einer Revision unterzogen werden soll, verwirklicht haben,
jedoch dem Revisionsgesuchsteller damals trotz hinreichender Sorgfalt nicht
bekannt waren; es handelt sich somit um unechte Noven. Die neuen Tatsachen
müssen erheblich sein, also geeignet, die tatbeständliche Grundlage des
Entscheids, dessen Revision beantragt wird, zu verändern und bei zutreffender
rechtlicher Würdigung zu einer andern Entscheidung zu führen. Neue Beweismittel
haben entweder dem Beweis einer eine Revision begründenden neuen erheblichen
Tatsache oder dem Beweis von Tatsachen zu dienen, die zwar im früheren
Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil des Revisionsgesuchstellers
unbewiesen geblieben sind (vgl. BGE 134 III 669 E. 2.1 S. 670; 127 V 353 E. 5b
S. 358; SVR 2012 UV Nr. 17 S. 63, 8C_434/2011 E. 7.1; SVR 2010 IV Nr. 55 S.
169, 9C_764/2009 E. 3.2; Urteil 9C_955/2012 vom 13. Februar 2013 E. 3.1 mit
Hinweisen). Erheblich ist ein Beweismittel, wenn anzunehmen ist, es hätte zu
einem anderen Urteil geführt, falls das Gericht im Hauptverfahren davon
Kenntnis gehabt hätte. Ausschlaggebend ist, dass das Beweismittel nicht bloss
der Sachverhaltswürdigung, sondern der Sachverhaltsermittlung dient. Es bedarf
dazu neuer Elemente tatsächlicher Natur, welche die Entscheidungsgrundlagen als
objektiv mangelhaft erscheinen lassen (BGE 138 V 324 E. 3.2 S. 328; 127 V 353
E. 5b S. 358 und SVR 2010 UV Nr. 22 S. 90, 8C_720/2009 E. 5.2; je mit
Hinweisen).

3.

3.1. Die Versicherte stützte ihr vorinstanzliches Revisionsgesuch einzig auf
den mit dem Gesuch eingereichten Bericht des Dr. med. B.________, Médecin
adjoint/Leitender Arzt, Spital C.________, vom 3. November 2014. Dieser stellt
einen Status nach Elektrotrauma vom 11. September 1999 mit verschiedenen
temporären und Spätschäden fest, so namentlich Oszillopsien mit zerebellärem
Down-Beat-Nystagmus und Nervus-opticus-Schaden. Die Untersuchungsresultate
seien sehr gut mit dem mittels Hautverbrennungen und Austrittsstellen
dokumentierten Stromfluss vereinbar. In Abwesenheit einer anderen
neurologischen Erkrankung wie Multiple Sklerose müsse der Stromunfall als
Ursache angenommen werden. Zusammenfassend könne er eindeutige objektive
Befunde angeben, welche die Beschwerden einleuchtend erklärten.

3.2. Das kantonale Gericht ist der Ansicht, es seien weder Gründe ersichtlich
noch geltend gemacht worden, welche der Einholung des Berichts des Dr. med.
B.________ schon vor dem Urteilsdatum vom 6. September 2013 entgegengestanden
wären. Bei der neu aufgelegten Einschätzung handle es sich somit weder um ein
Beweismittel, dessen Beibringung im ordentlichen Verfahren nicht möglich
gewesen wäre, noch um eine Erkenntnis, mit welcher die gerichtlichen
Feststellungen nicht bereits auf dem ordentlichen Rechtsmittelweg hätten als
unzutreffend gewürdigt werden können. Abgesehen davon nenne Dr. med. B.________
keine neuen oder bislang nicht bekannten Tatsachen oder Erkenntnisse zum
Sehbereich. Auch die temporären und Spätschäden, welche er unter der
Hauptdiagnose "Status nach Elektrotrauma" aufführe, seien nicht neu. Die
beklagten visuellen Störungen bzw. Oszillopsien seien in der Expertise der
medizinischen Abklärungsstelle D.________ vom 22. November 2010 - insbesondere
im Rahmen der neurologisch-neuropsychologischen Untersuchung - bereits
festgehalten und dazu vermerkt worden, dass weder magnetresonanz-tomographisch
noch klinisch ein objektivierbares Korrelat bestehe. Auch in den übrigen dem
Gerichtsentscheid vom 6. September 2013 zugrunde liegenden medizinischen
Berichten seien keine objektivierbaren Befunde festgestellt worden. Zwar habe
Dr. med. E.________, Facharzt für Neurologie FMH, in seiner Expertise vom 29.
Januar 2002 einen Status nach Elektrotrauma mit Spätschäden diagnostiziert. Im
Gutachten der medizinischen Abklärungsstelle D.________ sei diese Diagnose
jedoch nicht gestützt worden. Demnach handle es sich beim nun vorliegenden
Bericht lediglich um eine von den früheren fachmedizinischen Beurteilungen
abweichende Einschätzung eines bekannten Symptomkomplexes. Er beziehe sich im
Wesentlichen auf die gleichen Sachverhaltselemente, die bereits bei Erstellung
des Gutachtens der medizinischen Abklärungsstelle D.________ bekannt gewesen
seien. Die Gutachter der medizinischen Abklärungsstelle D.________ hätten diese
allerdings anders gewürdigt als Dr. med. B.________. Der neu eingereichte
Bericht betreffe folglich bloss die Sachverhaltswürdigung. Damit sei das
Vorliegen eines Revisionsgrundes nicht hinreichend dargetan, weshalb auf das
Revisionsgesuch nicht einzutreten sei.

4. 
Die letztinstanzlich gegen den angefochtenen Nichteintretensentscheid
vorgebrachten Einwendungen führen zu keinem anderen Resultat. Es kann offen
bleiben, ob der Versicherten - mit der Vorinstanz - tatsächlich vorzuwerfen
ist, dass sie ihre Sehstörungen nicht bereits vor dem kantonalgerichtlichen
Entscheid vom 6. September 2013 medizinisch weiter abklären liess. Denn so oder
anders versäumte sie es im Verfahren vor der Vorinstanz, einen Revisionsbedarf
erkennbar zu machen. Sie übersieht bei ihrer Berufung auf die Einschätzung des
Dr. med. B.________ namentlich, dass ein neues Beweismittel, damit es einen
Revisionsgrund bilden kann, den Fehler in der früheren Beweisgrundlage
eindeutig (SZS 2008 S. 169, U 561/06 E. 6.2 mit Hinweis) aufzeigen muss. Nur
auf diesem Weg ist zu vermeiden, "dass immer wieder neue Beweismittel
produziert werden, um eine Revision in Gang zu bringen", wie sich der
Gesetzgeber bei den Beratungen zu Art. 53 Abs. 1 ATSG äusserte (Bericht der
nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März
1999 [BBl 1999 4523, 4614, zitiert in: SVR 2010 UV Nr. 22 S. 90, 8C_720/2009 E.
5.2 in fine]). Gelangt einzig ein anderer medizinischer Experte zu einem
abweichenden Ergebnis, so ist darin kein Revisionsgrund zu sehen (vgl.
ELISABETH ESCHER, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N.
7 zu Art. 123 BGG). Aus dem Umstand, dass Dr. med. B.________ die Sehstörungen
objektivieren konnte, liesse sich entgegen der Ansicht der Versicherten ohnehin
nicht schon ableiten, diese Gesundheitsbeeinträchtigung sei auf den
versicherten Unfall zurückzuführen. Denn für das Beschwerdebild können
verschiedenste Ursachen verantwortlich sein. Deshalb ist nicht massgebend, ob
sich vorher auch schon Dr. med. E.________ mit der Frage der Objektivierung der
Sehstörungen auseinandergesetzt hat. Unbestritten ist jedenfalls, dass sich
sowohl die Gutachter der medizinischen Abklärungsstelle D.________ als auch Dr.
med. E.________ mit den Sehstörungen befasst hatten. Der in diesem Zusammenhang
von der Versicherten erhobene Willkürvorwurf bezüglich der vorinstanzlichen
Feststellung, wonach die Erkenntnisse des Dr. med. B.________ bereits Inhalt
der Expertise von Dr. med. E.________ gewesen seien, zielt ins Leere. Dr. med.
B.________ liefert in seinem Bericht vom 3. November 2014 eine neue
Einschätzung, nicht eine Sachverhaltsermittlung.

5. 
Das vorinstanzliche Nichteintreten auf das Revisionsgesuch hat zusammenfassend
nicht zu einer Bundesrechtsverletzung geführt (Art. 95 lit. a BGG). Die
offensichtlich unbegründete Beschwerde wird im vereinfachten Verfahren nach
Art. 109 Abs. 2 lit. a BGG - ohne Durchführung eines Schriftenwechsels, mit
summarischer Begründung und unter Verweis auf den kantonalen Entscheid (Art.
102 Abs. 1 und Art. 109 Abs. 3 BGG) - erledigt.

6. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdeführerin als unterliegende
Partei die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. Oktober 2015
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz

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