Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.662/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_662/2015

Urteil vom 30. November 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Hochuli.

Verfahrensbeteiligte
A.A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Biedermann,
Beschwerdeführerin,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung (Hinterlassenenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 31. Juli 2015.

Sachverhalt:

A.

A.a. B.A.________, geboren 1961, war Geschäftsführer der C._________ GmbH und
in dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA)
obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert.
Er war seit 1988 mit A.A.________ verheiratet und Vater von zwei Kindern
(geboren 1989 und 1991). Am 28. August 2011 nahm er sich das Leben. Auf
entsprechende Schadensmeldung hin und nach Abklärung des Sachverhalts sprach
die SUVA der Witwe des Verstorbenen lediglich die Bestattungsleistungen im
Sinne von Art. 37 Abs. 1 UVG zu, lehnte es insbesondere ab,
Hinterlassenenleistungen zu erbringen (Verfügung vom 19. Juli 2012), und hielt
auf Einsprache hin daran fest (Einspracheentscheid vom 1. Oktober 2012). Das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess die dagegen gerichtete Beschwerde der
Witwe in dem Sinne gut, als es den Einspracheentscheid vom 1. Oktober 2012
aufhob und die Sache zur weiteren Abklärung und Neuverfügung an die SUVA
zurückwies (Entscheid vom 19. Februar 2013).

A.b. Nach Durchführung ergänzender Abklärungen sprach die SUVA am 2. April 2014
erneut nur die Bestattungsleistungen im Sinne von Art. 37 Abs. 1 UVG zu und
hielt mit Einspracheentscheid vom 27. November 2014 wiederum daran fest.

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde der A.A.________ wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Bern mit Entscheid vom 31. Juli 2015 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.A.________
beantragen, der angefochtene Gerichts- und der Einspracheentscheid seien
aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die SUVA zurückzuweisen.
Die vorinstanzlichen Akten wurden eingeholt. Ein Schriftenwechsel wird nicht
durchgeführt.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG geltend
gemacht werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Das Bundesgericht kann die
Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur
insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und
begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).
Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen
der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die
vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art.
97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2. 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Hinterlassenenrente der
obligatorischen Unfallversicherung bei anerkanntermassen durch Suizid erfolgtem
Tod des Versicherten. Die Rechtsgrundlagen sind in den bisher in dieser Sache
ergangenen Gerichtsentscheiden, auf die verwiesen wird, zutreffend dargelegt.

3.

3.1. Hervorzuheben ist, dass bei absichtlicher Herbeiführung des Todes durch
den Versicherten kein Anspruch auf Versicherungsleistungen besteht, mit
Ausnahme der Bestattungskosten (Art. 37 Abs. 1 UVG). Diese Regelung findet
namentlich dann keine Anwendung, wenn der Versicherte, der sich nachweislich
das Leben nehmen wollte, zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig
war, vernunftgemäss zu handeln (Art. 48 UVV; vgl. zur Gesetzmässigkeit dieser
Bestimmung: BGE 140 V 220 E. 3.2 S. 222 und E. 3.3.1 S. 223; 129 V 95). Ob dies
beim hier gegebenen Suizid zutrifft, ist umstritten.

3.2. Die leistungsansprechende Person muss bei Suizid oder -versuch die
Urteilsunfähigkeit nach Art. 16 ZGB zur Zeit der Tat nachweisen (SVZ 68 2000 S.
202, U 54/99; RKUV 1996 Nr. U 247 S. 168, U 21/95 E. 2a, Urteil 8C_256/2010 vom
22. Juni 2010 E. 3.2.1). Den Parteien obliegt jedoch in dem vom
Untersuchungsgrundsatz beherrschten Sozialversicherungsprozess keine subjektive
Beweisführungslast im Sinne von Art. 8 ZGB. Eine Beweislast besteht nur
insofern, als im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener
Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten
wollte. Diese Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es sich als
unmöglich erweist, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes aufgrund einer
Beweiswürdigung einen Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die überwiegende
Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 117 V 261
E. 3b S. 264 mit Hinweis; Urteil 8C_663/2009 vom 27. April 2010 E. 2.2).

4.

4.1. Die Vorinstanz sprach dem Aktenbericht vom 19. Februar 2014 des
SUVA-Psychiaters Dr. med. D.________ volle Beweiskraft zu und stellte gestützt
darauf fest, beim Versicherten sei mit dem Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit von der Diagnose einer Borderline-Persönlichkeit als schwere
Persönlichkeitsstörung auszugehen, welche praxisgemäss einer Geistesschwäche
entspreche. Der Gutachter habe sich mit der Verdachtsdiagnose einer paranoiden
Persönlichkeitsstörung auseinandergesetzt. Die diagnostizierte psychische
Störung bedinge nicht per se Urteilsunfähigkeit, schliesse sie aber auch nicht
aus. Zwar berichtete die Psychiaterin Dr. med. E.________, der Versicherte habe
immer wieder an psychotischen Episoden mit optischen Halluzinationen und Wahn
gelitten. Weiter führte sie gestützt auf die Akten zu der von ihr ärztlich
delegierten Psychotherapie des lic. phil. F.________ aus, es sei sehr
wahrscheinlich, dass die Steuerungsfähigkeit im Zeitpunkt der Suizidhandlung
massgeblich eingeschränkt gewesen sei, doch könne aus heutiger Sicht nicht
sicher beurteilt werden, ob seine Steuerungs- und Urteilsfähigkeit vollständig
aufgehoben war. Die Vorinstanz schloss daraus, eine triebgesteuerte Handlung
sei damit nicht wahrscheinlicher als ein willentliches Handeln. Nach
bundesrechtskonformer Würdigung sämtlicher, objektiv und subjektiv massgebender
Umstände (RKUV 1996 Nr. U 267 S. 309, U 165/94 E. 2b; Urteil 8C_496/2008 vom
17. April 2009 E. 2.3) sei für den Zeitpunkt des Suizids bei gegebener
Beweislage nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit auf Urteilsunfähigkeit zu schliessen. Von weiteren
Beweismassnahmen seien keine entscheidrelevanten neuen Erkenntnisse zu
erwarten, weshalb in vorweggenommener Beweiswürdigung darauf zu verzichten sei.

4.2. Die Beschwerdeführerin beanstandet im Wesentlichen eine Verletzung des
Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV), indem Verwaltung und
Vorinstanz in Missachtung von Art. 61 lit. c ATSG erhebliche Beweise nicht
abgenommen und die vorhandenen Beweise unter Verletzung des Willkürverbots
(Art. 9 BV) gewürdigt hätten. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden,
soweit die entsprechenden Vorbringen überhaupt der qualifizierten Rügepflicht
(Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 136 I 49 E. 1.4.1 S. 53 mit Hinweisen) genügen. Das
kantonale Gericht hat die in Bezug auf die ausschlaggebende Frage nach der
vollständig aufgehobenen Steuerungs- und Urteilsfähigkeit im Zeitpunkt des
Suizids (vgl. hievor E. 3.1 i.f.) rechtserheblichen tatsächlichen Verhältnisse
nach Massgabe des Untersuchungsgrundsatzes ausreichend abgeklärt und die
vorhandenen Beweise bundesrechtskonform gewürdigt. Fest steht, dass mit Blick
auf den Suizid kein Abschiedsbrief existiert, dass es keine Augenzeugen gibt,
dass keine konkreten Vorbereitungshandlungen ermittelt werden konnten, weil der
Versicherte das Spannseil nach Angaben der Beschwerdeführerin stets in seinem
Auto verstaut hatte, dass er - ebenfalls laut Beschwerdeführerin - am Vorabend
des Suizids mit seinem Bruder bei einem Paella-Essen einen "lustigen Abend"
verbrachte und dass schliesslich die zuletzt den Versicherten ärztlich
delegiert im Auftrag des Psychiaters Dr. med. G.________ vom 2. März bis 11.
Mai 2011 behandelnde Psychologin H.________ von Dr. med. D.________ nicht mehr
persönlich befragt werden konnte, weil sie zwischenzeitlich verstorben war.
Überdies findet sich bei den Akten kein einziger Arztbericht, welcher dem
Versicherten für den Zeitpunkt des Suizids eine gänzliche Unfähigkeit
attestierte, vernunftgemäss handeln zu können. Dass der Psychotherapeut
F.________, welcher den Versicherten vom 21. April 2009 bis 18. August 2010
delegiert im Auftrag der Psychiaterin Dr. med. E.________ im Rahmen eines
Paarsettings behandelt hatte, für den Zeitpunkt des Suizids eine gänzliche
Urteilsunfähigkeit zu bestätigen vermöchte, macht die Beschwerdeführerin zu
Recht nicht geltend. Dr. med. D.________ begründete denn auch nachvollziehbar,
weshalb von diesem früher behandelnden Psychologen in Bezug auf den Zeitpunkt
des Suizids keine aktuelleren, medizinisch begründeten Einschätzungen
erhältlich seien, welche die zusammenfassenden Auskünfte der delegierenden Dr.
med. E.________ vom 26. September 2012 entkräften könnten, weshalb er von der
unmittelbaren Befragung des Psychotherapeuten F.________ abgesehen habe.
Angesichts der konkreten Umstände hat die Vorinstanz in zulässiger
antizipierter Beweiswürdigung (BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236) auf weitere
Beweismassnahmen verzichtet, weil davon in Bezug auf den rechtserheblichen
Sachverhalt keine entscheidwesentlichen neuen Erkenntnisse zu erwarten waren.

4.3. Auch die vorinstanzliche Beweiswürdigung ist nicht zu beanstanden. Die
Beschwerdeführerin vermag nicht darzulegen und es sind keine Anhaltspunkte
ersichtlich, inwiefern das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt haben soll,
indem es dem psychiatrischen Bericht des Dr. med. D.________ vom 19. Februar
2014 volle Beweiskraft zuerkannte und gestützt darauf verneinte, dass der
Versicherte im Zeitpunkt des Suizids mit dem erforderlichen Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit vollständig urteilsunfähig gewesen sei.
Diesbezüglich finden sich in den Akten keine konkreten Hinweise, welche auch
nur geringe Zweifel am versicherungsinternen psychiatrischen Bericht des Dr.
med. D.________ (vgl. BGE 135 V 465 E. 4.4 S. 470) hervorzurufen vermöchten.
Der Vorwurf der mangelnden Unparteilichkeit des Dr. med. D.________ ist
gänzlich unbegründet, finden sich doch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der
psychiatrische Experte die vorhandenen medizinischen Unterlagen einseitig zu
Ungunsten der Beschwerdeführerin gewürdigt hätte.

4.4. Ist nach dem Gesagten der rechtserhebliche Sachverhalt korrekt nach
Massgabe des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 ATSG; Art. 61 lit. c
ATSG) vollständig festgestellt worden und hat das kantonale Gericht die Beweise
bundesrechtskonform gewürdigt, fällt der Entscheid infolge Beweislosigkeit (E.
3.2 hievor) hinsichtlich des mit dem Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit zu erbringenden Nachweises der vollständigen
Urteilsunfähigkeit im Zeitpunkt des Suizids zu Ungunsten der Beschwerdeführerin
aus, welche daraus einen weitergehenden Anspruch auf Versicherungsleistungen
nach UVG abzuleiten versuchte. Es bleibt daher beim angefochtenen Entscheid.

5. 
Die unterliegende Beschwerdeführerin trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs.
1, Art. 68 Abs. 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 30. November 2015
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Hochuli

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