Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.633/2015
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_633/2015

Urteil vom 12. Februar 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Berger Götz.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Katja Nikolova Hiller,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst,
St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 24. Juni 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1964 geborene A.________ ist Krankenpflegerin. Sie war vom 1. September
2005 bis 31. Dezember 2011 als Pflegefachfrau im Alters- und Pflegeheim
B.________, zuerst in einem 35%igen und anschliessend in einem 60%igen
Arbeitspensum, tätig. Am 30. August 2011 meldete sie sich bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau
nahm diverse Abklärungen vor und holte unter anderem das Gutachten des Zentrums
für Medizinische Begutachtung, Basel (ZMB), vom 11. Februar 2014 ein. Nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach sie A.________ mit Verfügung vom
20. November 2014 für die Zeit vom 1. Juni bis 31. August 2012 eine ganze Rente
und vom 1. September 2012 bis 28. Februar 2014 eine Dreiviertelsrente zu, wobei
sie den Invaliditätsgrad anhand der gemischten Methode mit den Anteilen 60 %
Erwerb und 40 % Haushalt ermittelte. Bereits mit Verwaltungsakt vom 20. August
2014 hatte sie das Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung im
Vorbescheidverfahren abgelehnt.

B. 
Nach Vereinigung der gegen beide Verfügungen eingeleiteten Beschwerdeverfahren
stellte das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau in teilweiser Gutheissung
der Beschwerde betreffend Rentenleistungen fest, dass A.________ vom 1. Juni
bis 30. November 2012 eine ganze Rente und vom 1. Dezember 2012 bis 28. Februar
2014 eine Dreiviertelsrente zustehe. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab. Die
Beschwerde betreffend unentgeltlicher Prozessführung im Vorbescheidverfahren
wies es vollumfänglich ab (Entscheid vom 24. Juni 2015).

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ das
Rechtsbegehren stellen, in teilweiser Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids
sei ihr auch ab 1. März 2014 bis auf weiteres eine Rente auszurichten;
eventualiter sei die Sache zu ergänzenden Abklärungen, insbesondere zur
Einholung eines Gerichtsgutachtens, und zur Neubeurteilung an das kantonale
Gericht zurückzuweisen. Zudem sei ihr im Vorbescheidverfahren die
unentgeltliche Rechtsverbeiständung zu gewähren und für die beiden
Beschwerdeverfahren vor der Vorinstanz sei ein Aufwand von mindestens 20
Stunden für die unentgeltliche Rechtsverbeiständung zu berücksichtigen. Ferner
sei ihr auch für den Prozess vor Bundesgericht die unentgeltliche Rechtspflege
und Verbeiständung zu bewilligen.
Es ist kein Schriftenwechsel durchgeführt worden.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung auf Rüge hin
oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht,
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG und Art. 97 Abs. 1 BGG). Als "offensichtlich
unrichtig" gelten die vorinstanzlichen Feststellungen, wenn sie willkürlich
erhoben worden sind (Art. 9 BV; BGE 140 III 115 E. 2 S. 117; allgemein zur
Willkür in der Rechtsanwendung BGE 140 III 16 E. 2.1 S. 18 f.; 138 I 49 E. 7.1
S. 51; 138 III 378 E. 6.1 S. 379 f.; insbesondere zu jener in der
Beweiswürdigung BGE 137 I 58 E. 4.1.2 S. 62; 135 III 127 E. 1.5 S. 129 f.;
Urteil 2C_1143/2013 vom 28. Juli 2014 E. 1.3.4). Das Bundesgericht wendet das
Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG) und ist folglich weder an die in
der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der
Vorinstanz gebunden (BGE 134 I 65 E. 1.3 S. 67 f.; 134 V 250 E. 1.2 S. 252, je
mit Hinweisen).

2.

2.1. Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und die von der Rechtsprechung
entwickelten Grundsätze zum Rentenanspruch (Art. 28 Abs. 1 und 2 IVG), zur
Beurteilung der sog. Statusfrage und damit zur anwendbaren
Invaliditätsbemessungsmethode (bei erwerbstätigen Versicherten nach der
Einkommensvergleichsmethode [Art. 28a Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 16
ATSG]; bei teilerwerbstätigen Versicherten nach der gemischten Methode [Art.
28a Abs. 3 IVG und Art. 27bis IVV in Verbindung mit Art. 28a Abs. 1 und 2 IVG,
Art. 16 ATSG und Art. 27 IVV]; BGE 130 V 393 E. 3.3 S. 395 f.; 125 V 146 E. 2c
S. 150; vgl. ferner BGE 134 V 9; 133 V 477 E. 6.3 S. 486 f. mit Hinweisen, 504
E. 3.3 S. 507 f.; 130 V 97 E. 3. S. 98 ff.), zur Aufgabe des Arztes oder der
Ärztin bei der Invaliditätsbemessung (BGE 132 V 93 E. 4 S. 99) und zu den
Anforderungen an beweiskräftige medizinische Berichte und Gutachten (vgl. auch
BGE 137 V 210 E. 6.2.2 S. 269; 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352)
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.2. Das Bundesgericht hat mit BGE 141 V 281 die Überwindbarkeitsvermutung
aufgegeben und das bisherige Regel/Ausnahme-Modell durch einen strukturierten
normativen Prüfungsraster ersetzt. An der Rechtsprechung zu Art. 7 Abs. 2 ATSG
- ausschliessliche Berücksichtigung der Folgen der gesundheitlichen
Beeinträchtigung und objektivierte Zumutbarkeitsprüfung bei materieller
Beweislast der rentenansprechenden Person (Art. 7 Abs. 2 ATSG) - ändert sich
dadurch nichts (BGE 141 V 281 E. 3.7 S. 295 f.). Die Anerkennung eines
rentenbegründenden Invaliditätsgrades ist nur zulässig, wenn die funktionellen
Auswirkungen der medizinisch festgestellten gesundheitlichen Anspruchsgrundlage
im Einzelfall anhand der Standardindikatoren schlüssig und widerspruchsfrei mit
(zumindest) überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sind (BGE 141 V 281
E. 6 i.f. S. 308).

3. 
Die Vorinstanz stellt in umfassender Würdigung der medizinischen Unterlagen,
insbesondere aber gestützt auf das ZMB-Gutachten vom 11. Februar 2014 für das
Bundesgericht grundsätzlich verbindlich (vgl. E. 1 hiervor) fest, dass die
Beschwerdeführerin seit 28. November 2013 (Datum der ZMB-Konsensbesprechung
nach Untersuchungen vom 25. bis 28. November 2013) in der Lage sei, eine ihrem
Leiden angepasste Tätigkeit zu 80 % auszuüben. Ausgehend vom Abklärungsbericht
Haushalt vom 11. April 2014 wird im angefochtenen Gerichtsentscheid eine
Einschränkung im Haushalt von 95 % in der Zeit vom 1. Juni 2012 (Ablauf der
Wartezeit) bis 31. August 2012 und von 14,5 % ab 1. September 2012 angenommen.
Aufgrund der gesamten Umstände müsse angenommen werden, dass die Versicherte
ohne gesundheitliche Einschränkungen weiterhin eine 60%ige Erwerbstätigkeit
ausgeübt hätte. Ausgehend von einer 100%igen Arbeitsunfähigkeit im Erwerb und
einer 95%igen Einschränkung im Haushalt nach der Magenoperation am 29. Juni
2012 bestätigt das kantonale Gericht die ganze Rente ab 1. Juni 2012. Gestützt
auf einen 66%igen Invaliditätsgrad ab September 2012 infolge einer höheren
Leistungsfähigkeit im Haushalt geht es in Abweichung von der IV-Stelle von
einem Anspruch auf eine Dreiviertelsrente vom 1. Dezember 2012 bis 28. Februar
2014 aus. Für die Zeit ab März 2014 lehnt es einen Rentenanspruch unter Hinweis
auf einen Invaliditätsgrad von 26 % ab.

4.

4.1.

4.1.1. Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass die IV-Stelle noch eine
Neubeurteilung anhand der in BGE 141 V 281 aufgestellten Indikatoren
durchführen müsse und das Rechtsmittel bereits aus diesem Grund gutzuheissen
sei. Dabei verkennt sie, dass auch nach der Praxisänderung durch BGE 141 V 281
(vgl. E. 2.2 hiervor) eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit nur relevant
sein kann, wenn sie Folge einer fachärztlich einwandfrei diagnostizierten
Gesundheitsbeeinträchtigung ist (vgl. BGE 130 V 396). Bei somatoformen
Störungen (ICD-10 F45) im Besonderen ist dem diagnoseinhärenten Schweregrad
vermehrt Rechnung zu tragen (BGE 141 V 281 E. 2.1.1 S. 286; vgl. auch Urteil
9C_125/2015 vom 18. November 2015 E. 5.3). Im ZMB-Gutachten vom 11. Februar
2014 werden - mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit - ein Status nach
Osteosynthese einer instabilen Beckenringfraktur (August 2011), konsolidiert,
mit belastungsabhängiger persistierender Schmerzempfindung am Beckenring bei
Osteopenie, ein lumbosakrales vertebragenes Schmerzsyndrom bei Spondylarthrose
L5/S1 und interspinöser Nearthrose rechts ohne neurale Kompression und ein
Status nach subtotaler Gastrektomie und Lymphadenektomie sowie Cholezystektomie
am 29. Juni 2012 diagnostiziert. Aus psychiatrischer Sicht wird - ohne
Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit - ein Status nach rezidivierender
depressiver Störung (Dezember 2012 bis Februar 2013), gegenwärtig remittiert,
festgestellt. Eine somatoforme Schmerzstörung wird ausdrücklich ausgeschlossen.
Die Vorinstanz hat mit Blick auf die psychiatrischerseits festgestellte
Remission der depressiven Störung willkürfrei annehmen dürfen, dass die
Arbeitsfähigkeit lediglich infolge des somatischen Leidens eingeschränkt sei.
Entgegen der Ansicht der Versicherten ist deshalb die Berufung auf BGE 141 V
281 von vornherein unbehelflich.

4.1.2. Daran ändert nichts, dass im angefochtenen Entscheid bezüglich der im
Konsiliarbericht des Dr. med. C.________, Facharzt für Psychiatrie und
Psychotherapie FMH, vom 4. Juni 2014 gestellten Diagnosen einer depressiven
Störung, gegenwärtig leicht- bis mittelgradig, einer chronischen Schmerzstörung
mit somatischen und psychischen Faktoren, eines Verdachts auf cancer related
fatigue und einer Anpassungsstörung mit Beeinträchtigung überwiegend anderer
Gefühle von einer Überwindbarkeit der zwei erstgenannten Befunde die Rede ist.
Denn die Vorinstanz stützt sich betreffend Diagnosen und Auswirkungen auf die
Arbeitsfähigkeit ansonsten aus nachvollziehbaren Gründen auf das ZMB-Gutachten,
nicht auf die teilweise abweichenden Berichte der in die Behandlung
involvierten medizinischen Fachpersonen. Eine Sachverhaltsfeststellung ist
nicht schon dann offensichtlich unrichtig (vgl. E. 1 hiervor), wenn sich
Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und augenfällig unzutreffend
ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Davon kann vorliegend nicht ausgegangen
werden.

4.1.3. Im Übrigen anerkennt auch der ZMB-Psychiater, dass die Versicherte
besonders in den Jahren 2009 und 2012 Belastungen ausgesetzt gewesen war,
welche in der Zeit von Dezember 2012 bis Februar 2013 eine rezidivierende
depressive Störung zur Folge hatten. Damit in Übereinstimmung steht der Bericht
des vom 22. November 2012 bis 22. Februar 2013 behandelnden Dr. med.
D.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 7. Oktober
2013, in welchem er eine mittelschwere depressive Störung mit somatischem
Syndrom im Rahmen einer ausgeprägten psychosozialen Belastungssituation
feststellt. Er attestiert eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit "aus
gesamtmedizinischer Sicht". Ob er sich als Psychiater zu den Auswirkungen der
somatischen Leiden überhaupt ein abschliessendes Bild machen konnte, ist nicht
relevant, weil eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit aus einer medizinischen
Gesamtsicht bis zum Datum der ZMB-Untersuchung vom 25. November 2013
unbestritten ist. Zur Beantwortung der Frage, ob das damals von Dr. med.
D.________ festgestellte psychische Leiden zur Zeit der Untersuchung durch die
ZMB-Gutachter noch bestand, trägt sein Bericht allerdings nichts bei.

4.1.4. Die in der Beschwerde angeführten Stellungnahmen von Dr. med.
E.________, Facharzt für Orthopädie und Traumatologie FMH, vom 3. März 2012, 6.
März 2013 und 2. August 2013, in welchen eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit
attestiert wird, betreffen ebenfalls eine Zeit, in welcher die vollständige
Arbeitsunfähigkeit unstrittig geblieben ist. Ausserdem hatte sich der Orthopäde
damals zu einer leidensangepassten Beschäftigung nicht geäussert. Dr. med.
F.________, Leitender Arzt, Klinik G.________, geht in seinem Bericht vom 23.
Mai 2014 - unter Ausklammerung der psychiatrischen und gastrointestinalen
Problematik - von einer 60%igen Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten
Beschäftigung aus. Als Grund für die Einschränkung führt er die anhaltende
muskuläre Insuffizienz bei Status nach chirurgischem Eingriff im Beckenbereich
bei instabiler Beckenringfraktur und die fortgeschrittenen degenerativen
Veränderungen tieflumbal an. Es ist zwar mit der Versicherten einig zu gehen,
dass diese Beurteilung der Restarbeitsfähigkeit massgeblich von der
Einschätzung im ZMB-Gutachten abweicht. Jedoch wird in der Beschwerde nicht
aufgezeigt, aus welchen Gründen die aus einer medizinischen Gesamtsicht
resultierenden und auf einer vollständigen Anamnese basierenden Angaben der
ZMB-Experten nicht verlässlich sein sollten.

4.1.5. Soweit die Beschwerdeführerin rügt, die "Opiatabhängigkeit" sei im
ZMB-Gutachten bei der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit nicht berücksichtigt
worden, kann ihr ebenfalls nicht gefolgt werden. Aufgrund der Müdigkeit und
Erschöpfbarkeit, welche in der Expertise sowohl auf die hohe Dosis der Opiate
als auch auf den Eisenmangel und den Status nach Gastrektomie zurückgeführt
wird, ergibt sich aus internistischer Sicht auch in einer körperlich leichten
Tätigkeit eine leichte Einschränkung, welche in die Gesamtbewertung einer
20%igen Arbeitsunfähigkeit eingeflossen ist.

4.1.6. Das trotz Gesundheitsschädigung in einer leidensadaptierten Tätigkeit
zumutbarerweise erzielbare Einkommen (Invalideneinkommen) hat die Vorinstanz
anhand der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik
(LSE) 2012 festgesetzt. Die Beschwerdeführerin macht einen zusätzlichen Abzug
vom Tabellenlohn von 15 % geltend. Demgegenüber nimmt die IV-Stelle an, es sei
gar kein Abzug möglich, was vom kantonalen Gericht bestätigt wird, verbunden
mit dem Hinweis, dass auch ein 10%iger Abzug nichts am rentenausschliessenden
Invaliditätsgrad ändern würde. Die Beschwerdeführerin vermag letztinstanzlich
keine stichhaltigen Gründe vorzubringen, welche diese Wertung als
offensichtlich unzutreffend erscheinen liessen.

4.2. Gegen die im Abklärungsbericht Haushalt vom 11. April 2014 festgestellten
Einschränkungen bei der Haushaltsführung erhebt die Versicherte keine Einwände.
Sie ist jedoch der Ansicht, für den Gesundheitsfall sei von einer 80%igen
Erwerbstätigkeit auszugehen. Dies begründet sie mit einer in der Vergangenheit
neben der Tätigkeit als Krankenpflegerin im Alters- und Pflegeheim zusätzlich
ausgeübten Beschäftigung bei der Genossenschaft H.________ nach der Trennung
von ihrem Ehemann. Dabei handelte es sich aber gemäss IK-Auszug und
Arbeitszeugnis der Genossenschaft H.________ vom 3. Februar 2009 um eine von
vornherein befristete Anstellung als Ferienaushilfe vom 3. November 2008 bis 3.
Februar 2009. Im Rahmen der Haushaltsabklärung gab die Versicherte zudem
ausdrücklich an, dass sie ohne Gesundheitseinschränkungen weiterhin ihr Pensum
von 60 % im Alters- und Pflegeheim ausgeübt hätte; sie habe die Arbeit sehr
gerne gemacht und auch finanziell habe es ihr gereicht. Da die
Beschwerdeführerin, abgesehen von einer dreimonatigen Ferienaushilfe, nach der
Scheidung im Jahr 2009 und vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigungen
keine Anstalten mehr unternommen hatte, ihr Pensum beim Alters- und Pflegeheim
zu erhöhen oder eine zusätzliche Erwerbstätigkeit aufzunehmen, kann keine
80%ige Erwerbstätigkeit im Gesundheitsfall angenommen werden.

4.3. Gemäss nicht endgültigem Urteil der zweiten Kammer des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Di Trizio gegen die Schweiz vom 2.
Februar 2016 (7186/09) verletzte die Anwendung der gemischten
Invaliditätsbemessungsmethode in der Invalidenversicherung bei einer
Versicherten, welche ohne gesundheitliche Einschränkungen nach der Geburt ihrer
Kindern nur noch teilzeitlich erwerbstätig gewesen wäre und deshalb im
Rentenrevisionsverfahren ihren Anspruch auf eine Invalidenrente verlor, Art. 14
EMRK (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung
des Privat- und Familienlebens).
Es kann an dieser Stelle offen bleiben, welche Auswirkungen dieses Urteil auf
die Rechtsprechung des Bundesgerichts in Zukunft haben wird. Einerseits ist im
vorliegenden Fall nicht eine Rentenrevision, sondern eine erstmalige
Rentenzusprache streitig und andererseits hat die geschiedene
Beschwerdeführerin, welche mit ihrem erwachsenen Sohn eine Wohnung teilt, keine
Betreuungspflichten gegenüber minderjährigen Kindern mehr und mit Blick auf den
so zusammengesetzten Zwei-Personen-Haushalt keinen familiär bedingten Grund,
lediglich teilzeitlich zu arbeiten. Eine Verletzung des Rechts auf Achtung des
Familienlebens durch Anwendung der gemischten Methode ist darum nicht
ersichtlich und wird im Übrigen auch gar nicht geltend gemacht.

5. 
Weil von zusätzlichen medizinischen Abklärungsmassnahmen keine neuen
entscheidwesentlichen Aufschlüsse zu erwarten sind, kann und konnte auf
weitergehende medizinische Erhebungen und Gutachten verzichtet werden
(antizipierte Beweiswürdigung; BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236).

6. 
Mit Verfügung vom 20. August 2014 hatte die IV-Stelle die für das
Verwaltungsverfahren beantragte unentgeltliche Verbeiständung abgelehnt, weil
die Notwendigkeit einer anwaltlichen Vertretung aus ihrer Sicht nicht
ausgewiesen war. Im angefochtenen Gerichtsentscheid wird dieser Verwaltungsakt
bestätigt. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin hält sich diese
Beurteilung im Rahmen der Rechtsprechung zu Art. 37 Abs. 4 ATSG. Danach drängt
sich unter dem Gesichtspunkt der sachlichen Gebotenheit eine anwaltliche
Verbeiständung nur in Ausnahmefällen auf, wenn schwierige rechtliche oder
tatsächliche Fragestellungen dies als notwendig erscheinen lassen und eine
Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und
Vertrauensleute sozialer Institutionen nicht in Betracht fällt (BGE 132 V 200
E. 4.1 S. 201). Stehen in einem Verwaltungsverfahren gewisse Schwachstellen
ärztlicher Beurteilungen in Frage, sind zur entsprechenden Beurteilung in der
Regel medizinische Kenntnisse und juristischer Sachverstand erforderlich. Über
beides verfügen die versicherten Personen gemeinhin nicht. Trotzdem kann allein
deswegen nicht von einer komplexen Fragestellung gesprochen werden, die eine
anwaltliche Vertretung gebieten würde. Die gegenteilige Auffassung liefe darauf
hinaus, dass der Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung in praktisch
allen Verwaltungsverfahren bejaht werden müsste, in denen ein medizinisches
Gutachten zur Diskussion steht, was der Konzeption von Art. 37 Abs. 4 ATSG als
einer Ausnahmeregelung widerspräche. Es bedarf mithin weiterer Umstände, welche
die Sache als nicht (mehr) einfach und eine anwaltliche Vertretung als
notwendig bzw. sachlich geboten erscheinen lassen (Urteil 9C_993/2012 vom 16.
April 2013 E. 3 mit Hinweisen). Der Massstab ist streng (BGE 132 V 200 E. 5.1.3
S. 204 f.). Dass ein medizinisches Gutachten zur Diskussion steht, genügt klar
nicht, ebenso wenig ein strittiger Abzug vom Tabellenlohn oder die Anwendung
der gemischten Methode zur Invaliditätsbemessung.

7. 
Es wird schliesslich die Höhe der in den vorinstanzlichen Verfahren
zugesprochenen Entschädigung für die unentgeltliche Verbeiständung gerügt.
Indessen hat die Rechtsvertreterin weder ein Rechtsmittel in eigenem Namen
eingereicht noch in der für ihre Klientin erhobenen Beschwerde erklärt, dass
sie hinsichtlich der Entschädigung in eigenem Namen Beschwerde führe (BGE 131 V
153 E. 1 S. 155; siehe auch Urteil 8C_1003/2012 vom 10. April 2013 E. 5 mit
Hinweisen). Auf die Beschwerde ist daher in diesem Punkt nicht einzutreten.

8. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 4 lit. a BGG). Die
Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66
Abs. 1 Satz 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch
entsprochen werden, weil die Bedürftigkeit ausgewiesen und die Beschwerde,
soweit darauf eingetreten werden kann, nicht als aussichtslos zu bezeichnen
ist; ferner war die Vertretung durch einen Rechtsanwalt oder eine
Rechtsanwältin geboten (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen
ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte
Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in
der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwältin Katja Nikolova Hiller wird als unentgeltliche Anwältin bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. Februar 2016
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben