Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.617/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]            
8C_617/2015   {T 0/2}     

Urteil vom 20. Mai 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Frésard,
Bundesrichterin Heine,
Bundesrichter Wirthlin,
Gerichtsschreiber Grunder.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Advokat Peter Bürkli,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 17. Juni 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1961 geborene A.________ meldete sich am 11. November 2002 wegen teilweisen
Lähmungen von Armen und Beinen, extremen Schmerzen am ganzen Körper sowie
totaler Erschöpfung bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die
IV-Stelle des Kantons Aargau tätigte medizinische sowie berufliche Abklärungen
und sprach der Versicherten mit Verfügung vom 18. September 2003 ab          1.
November 2002 eine ganze Invalidenrente zu. Die in den Jahren 2004, 2007 und
2009 durchgeführten Revisionsverfahren ergaben keine anspruchserheblichen
Veränderungen. Im Rahmen eines weiteren, im Jahr 2012 eingeleiteten
Revisionsverfahrens veranlasste die IV-Stelle das polydisziplinäre Gutachten
der Aerztliches Begutachtungsinstitut GmbH (ABI), Basel, vom 11. Juni 2013. Im
Vorbescheidverfahren holte die Verwaltung die ergänzenden Stellungnahmen der
ABI vom 11. Dezember 2013 und 26. Mai 2014 ein. Mit Verfügung vom 22. Oktober
2014 hob sie gestützt auf die Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 18.
März 2011 (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket, in Kraft getreten am 1.
Januar 2012 [AS 2011.5659]; nachfolgend: SchlBest. IVG) die Invalidenrente auf
das Ende des der Zustellung der Verfügung folgenden Monats auf.

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 17. Juni 2015 ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde führen und beantragen, in Aufhebung des kantonalen
Entscheids sei die Sache an die Vorinstanz zur vollständigen und richtigen
Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts, eventualiter zur Einholung eines
Gerichtsgutachtens zurückzuweisen. Der Beschwerde sei zudem die aufschiebende
Wirkung zu erteilen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde und des Gesuchs um
aufschiebende Wirkung. Mit einer weiteren Eingabe lässt A.________ ihre
Rechtsbegehren erneuern.

D. 
Die Instruktionsrichterin des Bundesgerichts hat mit Verfügung vom 10. Dezember
2015 das Gesuch um aufschiebende Wirkung abgewiesen.

E. 
Das Bundesgericht wies die Beschwerde anlässlich der öffentlichen Beratung vom
20. Mai 2016 ab.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Hinsichtlich der
Verletzung von Grundrechten gilt eine qualifizierte Rügepflicht (Art. 106 Abs.
2 BGG; zum Ganzen: BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 280 f. mit Hinweisen).
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.

2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob weiterhin Anspruch auf eine Invalidenrente
besteht, was die Vorinstanz in Anwendung der sog. Überwindbarkeitspraxis (vgl.
BGE 139 V 547 E. 6 f. S. 559 ff.) verneint hat.

2.2. Die Beschwerdeführerin macht eine Rechtsverletzung im Sinne einer
unvollständigen gerichtlichen Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen
geltend, weil die Vorinstanz in Missachtung der mit BGE 141 V 281 geänderten
Rechtsprechung bezüglich psychosomatischer Leiden und rentenbegründender
Invalidität kein strukturiertes Beweisverfahren durchgeführt habe. Das
Gutachten der ABI erlaube keine schlüssige Beurteilung der massgeblichen
Indikatoren, weshalb die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen sei.

3.

3.1. Nach der überarbeiteten Rechtsprechung ist bei der Invaliditätsbemessung
aufgrund psychosomatischer Störungen stärker als bisher der Aspekt der
funktionellen Auswirkungen zu berücksichtigen, was sich in den diagnostischen
Anforderungen niederschlagen muss. Auf der Ebene der Arbeitsunfähigkeit wird an
der Überwindbarkeitsvermutung nicht festgehalten. Das bisherige Regel/
Ausnahme-Modell wird durch ein strukturiertes Beweisverfahren ersetzt (BGE 141
V 281 Regeste).

3.2. Die medizinischen Sachverständigen sollen die Diagnose einer anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 Ziff. F45.40) so begründen, dass die
Rechtsanwender nachvollziehen können, ob die klassifikatorischen Vorgaben
tatsächlich eingehalten sind. Dem  diagnoseninhärenten Schweregrad der
somatoformen Schmerzstörung ist vermehrt Rechnung zu tragen: Als
"vorherrschende Beschwerde" verlangt wird "ein andauernder, schwerer und
quälender Schmerz" (BGE 141 V 281 E. 2.1.1 S. 285 f. mit Hinweis auf:
Weltgesundheitsorganisation, Internationale Klassifikation psychischer
Störungen, ICD-10 Kapitel V (F), Klinisch-diagnostische Leitlinien, DILLING/
MOMBOUR/ SCHMIDT [Hrsg.], 9. Aufl. 2014, Ziff. F45.4 S. 233). Ausgangspunkt der
Anspruchsprüfung nach Art. 4 Abs. 1 IVG sowie Art. 6 ff. und insbesondere Art.
7 Abs. 2 ATSG ist die  medizinische Befundlage. Eine Einschränkung der
Leistungsfähigkeit kann immer nur dann anspruchserheblich sein, wenn sie Folge
einer Gesundheitsbeeinträchtigung ist, die fachärztlich einwandfrei
diagnostiziert worden ist (BGE 141 V 281 E. 2.1 S. 285 mit Hinweis).

4.

4.1. Es liegt hauptsächlich das polydisziplinäre ABI-Gutachten vom   11. Juni
2013 mit den ergänzenden Stellungnahmen vom 11. Dezember 2013 und 26. Mai 2014
vor. Dieses gibt genügenden Aufschluss für die Beurteilung des
Gesundheitszustands nach den Vorgaben von BGE 141 V 281, zumal beschwerdeweise
nicht dargetan wird, weshalb die Beweiswertigkeit der Expertise nicht
ausreichen sollte (vgl. Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Weitere Abklärungen sind
daher nicht erforderlich.

4.2. Die Vorinstanz hat gestützt auf das ABI-Gutachten vom 11. Juni 2013
festgestellt, dass ein pathogenetisch-ätiologisch unklares syndromales
Beschwerdebild ohne nachweisbare organische Grundlagen gemäss BGE 139 V 547 E.
6 f. S. 559 ff. mit Hinweisen vorlag. Sie gelangte zum Schluss, dass weder eine
mitwirkende psychisch ausgewiesene Komorbidität von erheblicher Schwere,
Intensität, Ausprägung und Dauer ausgewiesen, noch die weiteren
Morbiditätskriterien erfüllt seien, weshalb eine
invalidenversicherungsrechtlich massgebliche Arbeitsunfähigkeit in Bestätigung
der Aufhebungsverfügung vom 22. Oktober 2014 nicht mehr gegeben war.

4.3.

4.3.1. Auch wenn bei der Beschwerdeführerin Leistungseinbussen bestanden,
verneinten die Gutachter der ABI ausdrücklich eine schwere psychische Störung
(wie auch eine schwere somatische Erkrankung). Laut Angaben des psychiatrischen
Sachverständigen waren eine Neurasthenie (ICD-10 F 48.0) und eine
undifferenzierte Somatisierungsstörung (ICD-10 F45.1) zu diagnostizieren, ohne
dass eine schwere psychiatrische Komorbidität gegeben war. So pflegte die
Versicherte gute Kontakte innerhalb der Familie und zum sonstigen sozialen
Umfeld ohne Rückzugstendenzen. Der Medikamentenspiegel des verordneten
Antidepressivums lag im unteren therapeutischen Bereich und eine
psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung erfolgte nie, was ohne Weiteres
auf eine mangelnde Compliance und damit einen fehlenden Leidensdruck schliessen
liess. Die Hinweise auf einen sekundären Krankheitsgewinn (Haushaltarbeiten
wurden von Familienmitgliedern, Freunden oder Bekannten verrichtet) und auf
psychosoziale Belastungsfaktoren (wie Abhängigkeit von der Invalidenrente)
waren medizinisch als invaliditätsfremd zu beurteilen. Angesichts der deutlich
ausgeprägten Krankheits- und Behinderungsüberzeugung konnten die Experten der
ABI auch im Rahmen der interdisziplinären Konsensbesprechung keine beruflichen
Massnahmen empfehlen. Mit Blick auf das funktionelle Leistungsvermögen und die
Verfügbarkeit psychischer Ressourcen (vgl. SVR 2008 IV Nr. 8 S. 24, I 649/06 E.
3.2 und E. 3.3.1) beurteilten sie die Arbeitsfähigkeit als nicht eingeschränkt;
der Versicherten sei zuzumuten, die angestammten Tätigkeiten als kaufmännische
Angestellte und als Geschäftsinhaberin einer Kleiderboutique sowie jede andere
vergleichbare, leichte bis mittelschwere, wechselbelastende Beschäftigung
vollumfänglich auszuüben.

4.3.2. Es ist darauf hinzuweisen, dass der psychiatrisch angegebenen
Neurasthenie und undifferenzierten Somatisierungsstörung ein
diagnoseninhärenter Bezug zum Schweregrad fehlt (vgl. Urteil 8C_478/2015 vom
12. Februar 2016 E. 4.2 und E. 4.4, zur Publikation in BGE 142 V vorgesehen).
Weiter ist zu bemerken, dass gemäss Art. 7 Abs. 2 ATSG für die Beurteilung des
Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit ausschliesslich die Folgen der
gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen sind (Satz 1) und eine
Erwerbsunfähigkeit zudem nur vorliegen kann, wenn sie aus objektiver Sicht
nicht überwindbar ist (Satz 2). Die Praxisänderung gemäss BGE 141 V 281 hat an
dieser Gesetzeslage nichts geändert. Der funktionelle Schweregrad einer Störung
beurteilt sich nach wie vor nach deren konkreten funktionellen Auswirkungen,
insbesondere danach, wie stark die versicherte Person in sozialen, beruflichen
oder anderen wichtigen Funktionsbereichen schmerzbedingt beeinträchtigt ist
(Urteil 9C_125/2015 vom 18. November 2015 E. 7.1 mit Hinweis). Eine solche
Beeinträchtigung liegt hier aufgrund des in allen Teilen überzeugenden
Gutachtens der ABI vom 11. Juni 2013 nicht vor, zumal aus psychiatrischer
Sicht, weder eine Diagnose mit dem nötigen Bezug zum Schweregrad, noch eine
Arbeitsunfähigkeit gegeben ist.

4.3.3. Nach dem Gesagten hat das kantonale Gericht im Ergebnis zu Recht
gestützt auf das Gutachten der ABI festgestellt, dass die Versicherte an keinen
die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigenden psychosomatischen Störungen litt,
weshalb sich eine Prüfung der Standardindikatoren gemäss BGE 141 V 181 E. 4 S.
294 ff. erübrigt (vgl. 9C_481/2015 vom 16. Februar 2016 E. 4.2.4). Die Folgen
der Beweislosigkeit hat die materiell beweisbelastete Beschwerdeführerin zu
tragen (BGE 141 V 281 E. 6 S. 308).

5. 
Der Beschwerdeführerin werden als unterliegender Partei die Gerichtskosten
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 20. Mai 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Grunder

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