Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.599/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]            
8C_599/2015   {T 0/2}     

Urteil vom 22. Dezember 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Maillard,
Gerichtsschreiber Jancar.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle Basel-Landschaft,
Hauptstrasse 109, 4102 Binningen,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Advokat André M. Brunner,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Massnahmen beruflicher Art),

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 19.
März 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1968 geborene A.________ arbeitete als Coiffeuse. Am 2. Juni 1996
verunfallte sie als Motorradbeifahrerin. Mit Verfügung vom 30. November 1999
sprach ihr die IV-Stelle Basel-Landschaft ab 1. Juni 1997 eine halbe
Invalidenrente zu. Am 5. Februar 2001, 14. Mai 2003 und 24. Oktober 2007
bestätigte sie diesen Rentenan-spruch revisionsweise. Am 20. Januar 2009 erlitt
die Versicherte als Automitfahrerin einen weiteren Unfall. Am 5. Oktober 2010
veranlasste die IV-Stelle eine Revision. Sie zog ein rheumatologisches
Gutachten des Dr. med. B.________ vom 10. Juli 2011 bei. Am 2. August 2012
erachtete die IV-Stelle eine neurologische Begutachtung durch Dr. med.
C.________ als notwendig. Die Versicherte verlangte eine polydisziplinäre
Begutachtung. Mit Zwischenverfügung vom 17. De-zember 2012 hielt die IV-Stelle
an der Begutachtung durch Dr. med. C.________ fest. Mit Beschwerde beim
Kantonsgericht Basel-Landschaft verlangte die Versicherte eine polydisziplinäre
Begutachtung. Mit Entscheid vom 16. Mai 2013 wies dieses die Beschwerde ab. Dr.
med. C.________ erstattete sein Gutachten am 20. Mai 2014, wobei er eine
Konsensbesprechung mit Dr. med. B.________ durchführte. Mit Verfügung vom 29.
September 2014 hob die IV-Stelle die Verfügung vom 30. November 1999
wiedererwägungsweise und die Rente nach Zustellung der Verfügung auf Ende des
folgenden Monats auf.

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Basel-Landschaft im
Sinne der Erwägungen gut, und es hob die angefochtene Verfügung auf (Entscheid
vom 19. März 2015).

C. 
Mit Beschwerde beantragt die IV-Stelle, in Aufhebung des kantonalen Entscheides
sei festzustellen, dass die Rentenaufhebung ohne vorgängig durchgeführte
berufliche Eingliederungsmassnahmen zulässig gewesen sei; die Verfügung sei
wieder herzustellen; der Beschwerde sei aufschiebende Wirkung zu erteilen.
Die Versicherte schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei; eventuell sei ihr die unentgeltliche Rechtspflege zu
bewilligen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Mit Verfügung vom 16. November 2015 erteilte das Bundesgericht der Beschwerde
die aufschiebende Wirkung.

Erwägungen:

1. 
Gründe für ein Nichteintreten auf die Beschwerde sind entgegen der
Beschwerdegegnerin nicht ersichtlich (BGE 138 III 46 E. 1 Ingress).

2. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt
werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem
Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E.
2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Rechtsfragen sind
die vollständige Feststellung erheblicher Tatsachen sowie die Beachtung des
Untersuchungsgrundsatzes bzw. der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c
ATSG und der Anforderungen an den Beweiswert von Arztberichten. Die aufgrund
dieser Berichte gerichtlich festgestellte Gesundheitslage bzw. Arbeitsfähigkeit
und die konkrete Beweiswürdigung sind Sachverhaltsfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2
S. 397; nicht publ. E. 4.1 des Urteils BGE 135 V 254, veröffentlicht in SVR
2009 IV Nr. 53 S. 164 [9C_204/2009]).

3. 
Die Vorinstanz hat die Grundlagen über die Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG),
die Invalidität (Art. 8 ATSG; Art. 4 Abs. 1 IVG), den Rentenanspruch (bis Ende
2007 Art. 28 Abs. 1 IVG; seit 1. Januar 2008 Art. 28 Abs. 2 IVG), die
Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG; BGE 138 V 147 E. 2.1 S. 148), die
berufliche Eingliederung (SVR 2012 IV Nr. 25 S. 104 E. 3.1 [9C_363/2011], 2011
IV Nr. 73 S. 220 E. 3 [9C_228/2010]; Urteil 9C_752/2013 vom 27. Juni 2014 E. 4)
und den Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232, 125 V 351 E.
3 S. 352) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.

4. 
Die Vorinstanz hat in Würdigung der medizinischen Akten im Wesentlichen
erwogen, bei der Rentenzusprache vom 30. November 1999 habe die IV-Stelle den
Invaliditätsgrad aufgrund einer 50%igen Arbeitsunfähigkeit der Versicherten in
der angestammten Arbeit als Coiffeuse ermittelt. Nicht berücksichtigt habe sie
jedoch ihre 100%ige Arbeitsfähigkeit in einer Verweistätigkeit. Die
Rentenzusprache sei somit zweifellos unrichtig im wiedererwägungsrechtlichen
Sinn gewesen. Demnach sei die Anspruchsberechtigung der Versicherten pro futuro
zu prüfen. Die Gutachten der Dres. med. B.________ vom 10. Juli 2011 und
C.________ vom 20. Mai 2014 erfüllten die Anforderungen an eine medizinische
Beurteilungsgrundlage. Gestützt hierauf sei die Versicherte als Coiffeuse zu 45
% arbeitsfähig. In vollem Pensum zumutbar sei ihr eine leichte bis
mittelschwere Verweistätigkeit, vorwiegend sitzend, ohne repetitive Arbeiten
unter erheblicher Zug- und Stossbelastung der Wirbelsäule, ohne längere
Zwangshaltungen im Bereich der Halswirbelsäule, ohne häufiges Treppensteigen
und ohne längere Gehstrecken. Die Versicherte sei bei Erlass der
rentenaufhebenden Verfügung vom 29. September 2014 46 Jahre alt gewesen und
habe die Rente seit über 17 Jahren bezogen. Damit sei ein langjähriger
Rentenbezug im Sinne der Rechtsprechung gegeben. Ihre Restarbeitsfähigkeit als
Coiffeuse habe sie jahrelang als Selbstständigerwerbende ausgeschöpft. Sie
müsse nunmehr in eine adaptierte Verweistätigkeit wechseln, um ihr
Leistungsvermögen steigern zu können. Dies sei aufgrund ihrer körperlichen
Einschränkungen nicht von vornherein im Rahmen der Selbsteingliederung
zumutbar. Die Rentenaufhebung ohne vorherige Eingliederungsmassnahmen sei somit
unzulässig gewesen, weshalb die strittige Verfügung aufzuheben sei. Solange die
IV-Stelle Eingliederungsschritte nicht treffe und umsetze, habe die Versicherte
weiterhin Anspruch auf die bisherige halbe Invalidenrente.

5. 
Strittig und zu prüfen ist einzig, ob der Beschwerdegegnerin die
Selbsteingliederung zumutbar ist.

5.1. Der Einkommensvergleich der IV-Stelle - der unbestritten ist - ergibt
einen Invaliditätsgrad von gerundet 7 % (Valideneinkommen   Fr. 49'801.-;
Invalideneinkommen Fr. 46'140.-; zur Rundung vgl. BGE 130 V 121). Die IV-Stelle
zeigt überzeugend auf, dass bei der Versicherten - entgegen der Vorinstanz -
keine beruflichen Massnahmen notwendig sind. Für diese Schlussfolgerung
sprechen eben gerade das Alter der 1968 geborenen Versicherten sowie ihre hohe
Restarbeitsfähigkeit (vgl. E. 4 hievor). Die IV-Stelle weist zu Recht darauf
hin, dass die ihr offen stehenden, zumutbaren Hilfsarbeiten - leichte
Überwachungs-, Prüf- und Kontrollarbeiten in der Industrie oder die Bedienung
und Überwachung von (halb-) automatischen Maschinen oder Produktionseinheiten,
Sortierarbeiten oder eine Beschäftigung an einem Empfang oder als Telefonistin
- keinen besonderen Qualifikationen unterliegen. Umstände, die den Zugang zum
ausgeglichenen Arbeitsmarkt im Sinne von Art. 16 ATSG (BGE 138 V 457      E.
3.1 S. 459 f.) ohne vorgängige befähigende Massnahmen ausschliessen oder
erheblich erschweren, sind nicht ersichtlich (vgl. auch Urteile 8C_586/2014 vom
22. Dezember 2014 E. 8.2 und 9C_474/2013 vom 20. Februar 2014 E. 6.3). Auch der
erforderliche Wechsel von der selbstständigen in eine unselbstständige
Erwerbstätigkeit rechtfertigt in casu unter Berücksichtigung der gesamten
Gegebenheiten keinen anderen Schluss (vgl. BGE 113 V 22 E. 4a    S. 28; Urteil
9C_356/2014 vom 14. November 2014 E. 3.1).

5.2. Sämtliche Einwände der Beschwerdegegnerin vermögen an diesem Ergebnis
nichts zu ändern. Festzuhalten ist insbesondere Folgendes:

5.2.1. Unzutreffend ist das Vorbringen der Versicherten, aus der Begründung der
Vorinstanz gehe hervor, dass sie an einer Schmerzfehlverarbeitung bzw. an einer
medikamentösen Fehlbehandlung leide, was Einfluss auf die Stellensuche habe.
Solches ergibt sich weder aus dem vorinstanzlichen Entscheid noch aus den
übrigen Akten.

5.2.2. Die Versicherte macht geltend, entgegen der IV-Stelle habe sie keine
Kenntnisse im Verfassen von Korrespondenzen, in der Buchhaltungsführung und im
Bestellwesen. In "Bürofragen" sei sie völlig unbeholfen und habe keine
Erfahrungen im Bereich "EDV". Diese Einwände sind nicht stichhaltig, zumal
diese Fähigkeiten für die ihr zumutbaren Hilfsarbeiten (vgl. E. 5.1 hievor)
nicht erforderlich sind.

5.2.3. Nicht plausibel sind aufgrund der jahrelangen Arbeit der Versicherten
als selbstständige Coiffeuse auch ihre Einwände, sie habe keine Kenntnisse in
der Agendaführung und verfüge nicht über ausreichend soziale Kompetenzen.

5.2.4. Weiter rügt die Versicherte, die von der IV-Stelle als zumutbar
erachteten Arbeiten (E. 5.1 hievor) seien ihr zur Zeit nicht möglich, zumal sie
gemäss vorinstanzlicher Feststellung nur vorwiegend sitzend arbeiten könne
(siehe E. 4 hievor). Diesem Einwand kann nicht gefolgt werden. Denn
praxisgemäss werden diese Arbeiten auf dem massgebenden ausgeglichenen
Arbeitsmarkt auch vorwiegend sitzend angeboten (vgl. z.B. in RKUV 2005 UV Nr.
11 S. 35 nicht publ. E. 3.2 des Urteils U 66/02 vom 2. November 2004; Urteile
8C_12/2013 vom 13. Februar 2013 E. 3.1 f. und 8C_588/2007 vom 27. August
2008    E. 8.1 und 10.2). Dieser Arbeitsmarkt umfasst insbesondere auch
sogenannte Nischenarbeitsplätze, also Stellen- und Arbeitsangebote, bei welchen
Behinderte mit einem sozialen Entgegenkommen von Seiten des Arbeitgebers
rechnen können (hierzu vgl. Urteil 8C_582/2015 vom 8. Oktober 2015 E. 5.11).
Unter diesen Umständen kann die Versicherte auch aus dem Einwand, sie könne
keine Arbeitszeugnisse bzw. Referenzen vorweisen, nichts zu ihren Gunsten
ableiten.

5.2.5. Nicht ersichtlich ist, weshalb die Versicherte im Lichte ihres
beruflichen Werdegangs nicht in der Lage sein sollte, sich schriftlich oder
mündlich um andere Stellen zu bewerben.

5.3. Insgesamt hat die Vorinstanz Bundesrecht verletzt, indem sie den Anspruch
der Versicherten auf berufliche Massnahmen bejahte. Da solche nicht notwendig
sind, ist - entgegen der Versicherten - kein Mahn- und Bedenkzeitverfahren
(vgl. Art. 21 Abs. 4 ATSG; Art. 7b IVG) erforderlich.

6. 
Die Versicherte trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die
unentgeltliche Rechtspflege kann ihr gewährt werden (Art. 64 BGG). Es wird
indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach sie der
Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu imstande ist
(Art. 64 Abs. 4 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 19. März 2015 wird
aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle Basel-Landschaft vom 29. September
2014 wird bestätigt.

2. 
Der Beschwerdegegnerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Advokat
André M. Brunner wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, zurückgewiesen.

6. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. Dezember 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Jancar

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