Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.579/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_579/2015

Urteil vom 14. April 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Grunder.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Solothurn,
Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Thomann,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Massnahme beruflicher Art),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 17. Juni 2015.

Sachverhalt:

A. 
Mit Mitteilung vom 7. Oktober 1998 eröffnete die IV-Stelle des Kantons
Solothurn der 1959 geborenen A.________, dass sie ab 1. April 1994 gestützt auf
einen Invaliditätsgrad von 69 % Anspruch auf eine ganze Rente der
Invalidenversicherung habe. Im Rahmen eines von Amtes wegen eingeleiteten
Revisionsverfahrens hielt die Verwaltung fest, der Invaliditätsgrad sei neu auf
70 % festzulegen, weshalb die Versicherte weiterhin Anspruch auf eine ganze
Invalidenrente habe (Einspracheentscheid vom 6. Dezember 2004). Im Januar 2012
leitete die IV-Stelle erneut ein Revisionsverfahren ein und holte das
polydisziplinäre Gutachten der Ärztlichen Begutachtungsinstitut GmbH, ABI,
Basel, vom 4. Oktober 2012 ein; danach war die Versicherte aufgrund der
somatischen und psychischen Befunde in der bisherigen Tätigkeit oder einer
anderen vergleichbaren Beschäftigung in der Arbeitsfähigkeit nicht mehr
eingeschränkt. Gestützt darauf hob die Verwaltung, nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren, die Invalidenrente auf das Ende des der Zustellung der
Verfügung vom 18. Februar 2014 folgenden Monats auf.

B. 
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn die Sache an die IV-Stelle zurück,
damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und hierauf neu verfüge (Entscheid
vom 17. Juni 2015); laut Erwägung 7.2 des kantonalen Entscheids hat es die
IV-Stelle unterlassen, vor der revisionsweisen Rentenaufhebung hinsichtlich des
gegebenen Anspruchs auf berufliche Eingliederungsmassnahmen das Mahn- und
Bedenkzeitverfahren gemäss Art. 21 Abs. 4 ATSG durchzuführen.

C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde und beantragt, der vorinstanzliche Entscheid sei
in Bestätigung der Verfügung vom 18. Februar 2014 vollumfänglich aufzuheben.
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen beantragt, das eingelegte Rechtsmittel sei gutzuheissen.

D. 
Das Bundesgericht hat am 14. April 2016 eine öffentliche Beratung durchgeführt.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
ist zulässig gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen (Art. 90 BGG)
sowie gegen selbständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die
Zuständigkeit und über Ausstandsbegehren (Art. 92 Abs. 1 BGG). Gegen andere
selbständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide ist die Beschwerde nach Art.
93 BGG zulässig, sofern - alternativ - der Entscheid einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Abs. 1 lit. a) oder die Gutheissung der
Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden
Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde
(Abs. 1 lit. b).

1.2. Beim vorinstanzlichen Rückweisungsentscheid, mit welchem die IV-Stelle
verpflichtet wird, ein Mahn- und Bedenkzeitverfahren durchzuführen, handelt es
sich in der Terminologie des BGG um einen Zwischenentscheid (BGE 133 V 477 E.
4.2 S. 481). Er kann daher nur unter den Voraussetzungen von Art. 93 Abs. 1 BGG
selbständig angefochten werden. Dabei stellt es einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil dar, wenn eine Behörde durch einen
Rückweisungsentscheid gezwungen wird, entgegen ihrer Auffassung eine neue
Anordnung zu erlassen (BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.). Mit der Aufhebung der
Revisionsverfügung vom 18. Februar 2014 und der vorinstanzlich angeordneten
Durchführung des Mahn- und Bedenkzeitverfahrens wird die IV-Stelle gezwungen -
zumindest vorübergehend - von einer Rentenaufhebung abzusehen und Leistungen
gemäss Einspracheentscheid vom 6. Dezember 2004 oder gestützt auf die für sie
verbindlichen vorinstanzlichen Erwägungen auszurichten. In der Weisung des
kantonalen Gerichts ist demzufolge ein nicht wieder gutzumachender Nachteil zu
erblicken, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist.

2.

2.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht,
unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art.
42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die
rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1
S. 254).

3.

3.1.

3.1.1. Die IV-Stelle macht geltend, sie habe das vom kantonalen Gericht
angeordnete Mahn- und Bedenkzeitverfahren gemäss Art. 21 Abs. 4 ATSG
gesetzeskonform durchgeführt. Sie legt dazu im Einzelnen dar, angesichts des
berechtigten Zweifels an der Eingliederungsbereitschaft der Versicherten habe
die zuständige Person der Verwaltung mit ihr am 3. Oktober 2013 ein Gespräch
geführt, sie auf die möglichen Folgen der Verweigerung beruflicher
Eingliederungsmassnahmen hingewiesen und ihr ein vorformuliertes
Erklärungsschreiben übergeben, dessen Inhalt sie innerhalb von sieben Tagen zu
überprüfen habe. Die Versicherte habe auf dem abgegebenen Formular den Posten
"Verzicht auf berufliche Massnahmen" angekreuzt, weshalb die Verwaltung ohne
Weiteres davon habe ausgehen dürfen, sie verzichte definitiv auf den
bestehenden Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen.

3.1.2. Die Beschwerdegegnerin macht im Wesentlichen geltend, das fragliche
Formular könne nicht das Verfahren nach Art. 21 Abs. 4 ATSG ersetzen; solange
kein rechtskräftiges Urteil über eine Rentenrevision vorliege, könne auch nicht
über die Eingliederung entschieden werden; der Inhalt des von der IV-Stelle zur
Diskussion gestellten Formulars sei verfänglich, zumal darin nicht auf die
Rechtsfolgen des angeblich rechtsgenüglich durchgeführten Mahn- und
Bedenkzeitverfahrens hingewiesen worden sei.

3.1.3. Das Bundesamt für Sozialversicherungen bringt vor, es könne offen
bleiben, ob das Vorgehen der IV-Stelle den Anforderungen an das Mahn- und
Bedenkzeitverfahren nach Art. 21 Abs. 4 ATSG genüge. Sobald eine relevante
Änderung nach Art. 17 ATSG eingetreten sei, habe die Verwaltung die bisher
erbrachten Leistungen ohne Mahnung oder Einräumung einer Überlegungsfrist
einzustellen. Zwar habe das Bundesgericht von diesem Grundsatz diejenigen
versicherten Personen ausgenommen, die anlässlich einer zu verfügenden
Herabsetzung oder Aufhebung der Rente diese während mehr als 15 Jahren bezogen
oder in diesem Zeitpunkt das 55. Altersjahr zurückgelegt hatten. Solchen
Versicherten solle Hand geboten werden, sich ins Erwerbsleben wieder
eingliedern zu können, was indessen nichts daran ändere, die Leistung
grundsätzlich anzupassen. Eine Veränderung gemäss Art. 17 ATSG bilde einen
Rechtsgrund für die Anpassung einer Rente, die auch dann nicht mehr geschuldet
werde, wenn das Mahn- und Bedenkzeitverfahren nicht gehörig durchgeführt worden
sei.

3.2.

3.2.1. Wie das BSV zu Recht festhält, hob die IV-Stelle die Rente gestützt auf
Art. 17 ATSG und nicht in Zusammenhang mit Art. 21 Abs. 4 ATSG auf, welche
Bestimmung Sanktionscharakter hat. Das Mahn- und Bedenkzeitverfahren ist so zu
verstehen, dass die versicherte Person an ihre Schadenminderungspflicht
erinnert werden soll, bei deren Verletzung sie mit einer vorübergehenden oder
dauernden Kürzung oder Verweigerung der sozialversicherungsrechtlichen Leistung
zu rechnen haben wird (Art. 21 Abs. 4 Satz 1 ATSG; vgl. Urteil 8C_19/2016 vom
4. April 2016 E. 5.2.3). Ob bei einer Rentenaufhebung nach Art. 17 ATSG
überhaupt ein Mahn- und Bedenkzeitverfahren durchgeführt werden muss, was der
Auffassung des BSV entsprechend zu verneinen ist, kann vorliegend aber offen
bleiben (wohl anders die Rechtsprechung gemäss von BGE 122 V 218).

3.2.2. Gemäss Art. 21 Abs. 4 ATSG können - wie erwähnt - der versicherten
Person Leistungen vorübergehend oder dauernd gekürzt werden, wenn sie sich
einer zumutbaren Behandlung oder Eingliederung ins Erwerbsleben entzieht oder
widersetzt (Satz 1). Sie muss vorher schriftlich gemahnt sowie auf die
Rechtsfolgen hingewiesen werden (Satz 2) und es ist ihr eine angemessene
Bedenkzeit einzuräumen (Satz 3).

3.2.2.1. Das Gesetz schreibt nicht vor, wie die Verwaltung die Vorgaben von
Art. 21 Abs. 4 Satz 2 ATSG im Einzelnen zu erfüllen hat, weshalb ihr ein weiter
Ermessenspielraum einzuräumen ist. Nachdem die ABI im Gutachten vom 4. Oktober
2012 festgestellt hatte, wegen der ausgeprägten subjektiven
Krankheitsüberzeugung könnten keine beruflichen Massnahmen empfohlen werden,
prüfte die zuständige Abklärungsperson der IV-Stelle zu Recht anlässlich eines
am 3. Oktober 2013 geführten Gesprächs mit der Versicherten die subjektiven
Voraussetzungen betreffend erwerblicher Eingliederung. Gemäss dem am gleichen
Tag erstellten Protokoll sah sich die Versicherte ausserstande, einer aus
ärztlicher Sicht zumutbaren Arbeitstätigkeit nachzugehen. Nach Konsultation
ihres Rechtsvertreter gab sie auf dem am 8. Oktober 2013 unterzeichneten
Formular "Erklärung betreffend berufliche Eingliederungsmassnahmen" an, sie
könne sich den Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess unter keinen Umständen
vorstellen und sie verzichte deshalb in Kenntnis der Rechtsfolgen
(Rentenaufhebung bzw. -herabsetzung) auf berufliche Eingliederungsmassnahmen.

3.2.2.2. Mit dem beschriebenen Vorgehen erfüllte die IV-Stelle die Vorgaben von
Art. 21 Abs. 4 ATSG (Mahn- und Bedenkzeitverfahren). Sie begnügte sich nicht
mit einem Mahnschreiben, sondern thematisierte in einem Gespräch die in Frage
kommenden beruflichen Eingliederungsmassnahmen, und sie wies darauf hin, mit
welchen Rechtsfolgen die Versicherte zu rechnen haben würde, sollte sie sich
weiterhin weigern, eine zumutbare Beschäftigung aufzunehmen. Mit der mündlichen
Konfrontation konnte die Verwaltung, anders als auf dem reinen Schriftweg,
besser auf die Anliegen und Fragen der Versicherten eingehen. Zudem händigte
sie ihr das in E. 3.1.1 erwähnte Formular aus, womit sie ihr Gelegenheit bot,
die Sache in aller Ruhe zu überdenken und mit ihrem Rechtsvertreter zu
besprechen. Damit wurde die Schriftform erfüllt und der Anspruch auf Bedenkzeit
gewährt. Aus dem Umstand, dass die Versicherte das angesprochene Formular, mit
dem sie erneut auf die Rechtsfolgen ihrer Verweigerungshaltung hingewiesen
wurde, durch ihren Anwalt einreichen liess und dieser in seinem
Begleitschreiben vom 11. Oktober 2013 nicht geltend machte, das Mahn- und
Bedenkzeitverfahren sei nicht korrekt durchgeführt worden, ist ohne Weiteres zu
schliessen, dass die Beschwerdegegnerin zum damaligen Zeitpunkt das Vorgehen
der IV-Stelle zumindest in formaler Hinsicht nicht beanstandete.

3.2.2.3. Insgesamt ist festzuhalten, dass sich die Beschwerdegegnerin bis zu
der vom Bundesgericht in zeitlicher Hinsicht überprüfbaren Verfügung vom 18.
Februar 2014 (vgl. BGE 132 V 215 E. 3.1.1 S. 320) nicht um zumindest teilweise
zumutbare Arbeitstätigkeiten bemühte, sich mithin nicht in das Erwerbsleben
wieder einzugliedern versuchte. Sollte die Beschwerdegegnerin ihre Haltung
aufgeben und an einer beruflichen Eingliederungsmassnahme teilnehmen wollen,
wird sie sich bei der IV-Stelle wieder melden können, die darüber neu zu
verfügen hätte (vgl. BGE 130 V 54 E. 2 S. 66). Entscheidend ist nach dem
Gesagten zur Beurteilung des Prozessthemas letztlich, dass die
Beschwerdegegnerin sich zu keinem Zeitpunkt den möglichen
Eingliederungsmassnahmen unterziehen wollte, weshalb der geltend gemachte
Anspruch mangels Eingliederungswillens der Versicherten ohne Weiteres zu
verneinen war (vgl. dazu Urteil 8C_569/2015 vom 17. Februar 2016 E. 5.1 f. mit
Hinweisen).

4. 
Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch der IV-Stelle um aufschiebende
Wirkung gegenstandslos.

5. 
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
In Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons Solothurn vom 17. Juni 2015 aufgehoben.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. April 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Grunder

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