Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.566/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_566/2015

Urteil vom 22. Dezember 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Maillard,
Gerichtsschreiberin Schüpfer.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Karl Kümin,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

HOTELA Vorsorgestiftung,
Rue de la Gare 18, 1820 Montreux,
GastroSocial Pensionskasse,
Bahnhofstrasse 86, 5000 Aarau.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 2. Juni 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1985 im Irak geborene A.________ arbeitete als Hilfskoch im Hotel
B.________. Am 2. Februar 2012 stürzte er auf einer Treppe und zog sich
Verletzungen am Rücken zu. Er meldete sich am 20. Juli 2012 wegen chronischen
Schmerzen und psychischen Beschwerden bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau
(IV-Stelle) traf Abklärungen in medizinischer und erwerblicher Hinsicht. Sie
holte bei der medizinischen Abklärungsstelle C.________ ein bidisziplinäres
Gutachten (orthopädisch/traumatologisch sowie psychiatrisch) vom 14. Mai 2014
ein. Zudem zog sie die Akten der involvierten Unfallversicherung, unter anderem
mit einem interdisziplinären Gutachten des ärztlichen Zentrums D.________ vom
20. Juni 2013, bei. Dr. med. E.________, Facharzt für Psychiatrie und
Psychotherapie vom Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) nahm dazu Stellung. Mit
Verfügung vom 3. November 2014 verneinte die IV-Stelle einen Leistungsanspruch,
da kein invalidisierender Gesundheitsschaden vorliege.

B. 
Beschwerdeweise beantragte A.________, in Aufhebung der Verfügung vom 3.
November 2014 seien ihm eine Rente der Invalidenversicherung und berufliche
Massnahmen zuzusprechen. Es sei ein medizinisches Obergutachten in
psychiatrischer und orthopädischer Fachrichtung und eine BEFAS-Abklärung in
Auftrag zu geben, eventuell sei die Sache zur Vornahme der beantragten
Abklärungen an die IV-Stelle zurückzuweisen. Das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau wies die Beschwerde mit Entscheid vom 2. Juni 2015 ab.

C. 
A.________ lässt mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des vorinstanzlichen
Entscheides sei ihm eine Invalidenrente zuzusprechen, eventualiter sei die
Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese nach weiteren Abklärungen
über den Rentenanspruch neu verfüge, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten führen. In prozessualer Hinsicht lässt er um die Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege ersuchen.
Die IV-Stelle und die mitbeteiligten Pensionskassen GastroSocial und Hotela
schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht und das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
280; vgl. auch BGE 141 V 236 E. 1 S. 236; 140 V 136 E. 1.1 S. 137 f.).
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Streitig ist der Anspruch auf eine Invalidenrente der Invalidenversicherung.
Das kantonale Gericht hat die bisherige Rechtsprechung zur
invalidenversicherungsrechtlichen Relevanz unklarer Beschwerdebilder (BGE 130 V
352 und seitherige Rechtsprechung) korrekt dargelegt. Nachdem das Bundesgericht
mit BGE 141 V 281 seine Rechtsprechung zu den Voraussetzungen, unter denen
anhaltende somatoforme Schmerzstörungen und vergleichbare psychosomatische
Leiden eine rentenbegründende Invalidität zu bewirken vermögen, grundlegend
überdacht und teilweise geändert hat, ist zu prüfen, welche Auswirkungen sich
dadurch auf den hier zu beurteilenden Fall ergeben (zur Anwendbarkeit einer
Rechtsprechungsänderung auf laufende Verfahren vgl. BGE 137 V 210 E. 6 S. 266).

3.

3.1. Weiterhin kann eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit nur
anspruchserheblich sein, wenn sie Folge einer fachärztlich einwandfrei
diagnostizierten Gesundheitsbeeinträchtigung ist (BGE 130 V 396). Auch künftig
wird der Rentenanspruch - in Nachachtung der verfassungs- und gesetzmässigen
Vorgaben von Art. 8 und 29 BV (Rechtsgleichheit) und Art. 7 Abs. 2 ATSG
(objektivierte Zumutbarkeitsbeurteilung) - anhand eines normativen Prüfrasters
beurteilt (vgl. BGE 130 V 352 E. 2.2.2 S. 353 und 139 V 547 E. 5.9 S. 558 f.)
und es braucht medizinische Evidenz, dass die Erwerbsunfähigkeit aus objektiver
Sicht eingeschränkt ist. Indes hält das Bundesgericht an der
Überwindbarkeitsvermutung nicht weiter fest (BGE 141 V 281 E. 3.5 S. 294).

3.2. Eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung und vergleichbare Leiden können
nach der geänderten Rechtsprechung eine Invalidität begründen, sofern
funktionelle Auswirkungen der medizinisch festgestellten gesundheitlichen
Anspruchsgrundlage im Einzelfall anhand der Standardindikatoren (E. 4 hienach)
schlüssig und widerspruchsfrei mit zumindest überwiegender Wahrscheinlichkeit
in einem anspruchserheblichen Ausmass nachgewiesen sind (BGE 141 V E. 6 S.
307).

4. 
Gemäss BGE 141 V 281 E. 3.6 S. 294 f. stellt sich die Frage, ob eine
diagnostizierte Schmerzstörung zu einer ganzen oder teilweisen
Arbeitsunfähigkeit führt, nicht mehr im Hinblick auf die Widerlegung einer
Ausgangsvermutung. Das bisherige Regel/Ausnahmemodell wird durch einen
strukturierten, normativen Prüfungsraster ersetzt. Anhand eines Kataloges von
Indikatoren erfolgt eine ergebnisoffene symmetrische Beurteilung des - unter
Berücksichtigung leistungshindernder äusserer Belastungsfaktoren einerseits und
Kompensationspotenzialen (Ressourcen) andererseits - tatsächlich erreichbaren
Leistungsvermögens. Wie in BGE 141 V E. 4.1 S. 296 f. weiter dargelegt wurde,
stehen vermehrt auch Ressourcen, welche die schmerzbedingte Belastung
kompensieren können und damit die Leistungsfähigkeit begünstigen, im Fokus.
Dieser Ansatz führt zu Anpassungen in der Formulierung der Indikatoren. Ebenso
ist eine gewisse sachliche Erweiterung der massgeblichen Prüfungsgesichtspunkte
angezeigt. Die im Regelfall beachtlichen Standardindikatoren können anhand
gemeinsamer Eigenschaften systematisiert werden:
Kategorie "funktioneller Schweregrad"
       Komplex "Gesundheitsschädigung"
       Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde
       Behandlungs- und Eingliederungserfolg oder -resistenz
       Komorbiditäten
       Komplex "Persönlichkeit" (Persönlichkeitsdiagnostik,
persönliche              Ressourcen)
       Komplex "sozialer Kontext"

Kategorie "Konsistenz" (Gesichtspunkte des Verhaltens)
       gleichmässige Einschränkung des Aktivitätenniveaus in allen
ver-       gleichbaren Lebensbereichen
       behandlungs- und eingliederungsanamnestisch
ausgewiesener              Leidensdruck.
Die Antworten, welche die medizinischen Sachverständigen anhand der (im
Einzelfall relevanten) Indikatoren geben, verschaffen den Rechtsanwendern
Indizien, wie sie erforderlich sind, um den Beweisnotstand im Zusammenhang mit
der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit bei psychosomatischen Störungen zu
überbrücken (BGE 141 V 281 E. 4.1 S. 297 f.).
In BGE 141 V 281 E. 4.3 und 4.4 S. 298-304 sind die vorstehend aufgezählten,
relevanten Indikatoren, die als Prüfungsraster rechtlicher Natur (BGE 141 V 281
E. 5 S. 304) für die Beurteilung heranzuziehen sind, näher erörtert.

5. 
Das kantonale Gericht ist zum Ergebnis gelangt, es könne offen gelassen werden,
ob auf das Gutachten der medizinischen Abklärungsstelle C.________ vom 14. Mai
2014 - welches Grundlage für die Verfügung der IV-Stelle bildete - abgestellt
werden könne, da das Gutachten des ärztlichen Zentrums D.________ vom 20. Juni
2013 beweiswertig sei. Demnach leide der Versicherte an einer mittelgradigen
depressiven Episode, einer Anpassungsstörung im Zusammenhang mit dem Unfall vom
2. Februar 2012, zusätzlichen Problemen in Verbindung mit Wohnbedingungen und
ökonomischen Verhältnissen und Problemen in Verbindung mit Ausbildung und
Bildung (anhaltender Analphabetismus), an einer anhaltenden somatoformen
Schmerzstörung, einer Sacrumkontusion, einer Spondylarthrose LWK3/4 rechts
sowie einer Spondylose L3. Weiter stellte es fest, die somatischen Diagnosen
hätten keine Auswirkung auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit.
Die Frage, ob der Beschwerdeführer infolge der psychiatrischen Diagnosen - wie
insbesondere der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, der Anpassungsstörung
und der mittelgradigen depressiven Episode - Rentenleistungen der
Invalidenversicherung beanspruchen kann, wird im angefochtenen Entscheid anhand
der Rechtsprechung zu den anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen gemäss BGE
130 V 352 gestützt auf die in jenem Urteil als massgebend erklärten
Foerster-Kriterien verneint.
Nachdem nunmehr die Rechtsprechung gemäss BGE 141 V 281 Anwendung findet, hat
die Beurteilung des tatsächlich erreichbaren Leistungsvermögens des
Versicherten anhand des Kataloges von Indikatoren (BGE 141 V 281 E. 4 S. 296
ff.) zu erfolgen.

6.

6.1. In intertemporaler Hinsicht verlieren gemäss altem Verfahrensstandard
eingeholte Gutachten nicht per se ihren Beweiswert. Vielmehr ist im Rahmen
einer gesamthaften Prüfung des Einzelfalls entscheidend, ob ein abschliessendes
Abstellen auf die vorhandenen Beweisgrundlagen vor Bundesrecht standhält (BGE
137 V 210 E. 6 S. 266). In sinngemässer Anwendung auf die nunmehr
materiell-beweisrechtlich geänderten Anforderungen ist in jedem Fall zu prüfen,
ob die beigezogenen administrativen und/oder gerichtlichen
Sachverständigengutachten - gegebenenfalls im Kontext mit weiteren
fachärztlichen Berichten - eine schlüssige Beurteilung im Lichte der
massgeblichen Indikatoren erlauben oder nicht. Je nach Abklärungstiefe und
-dichte kann zudem unter Umständen eine punktuelle Ergänzung genügen (BGE 141 V
281 E. 8 S. 309).

6.2. Vorliegend erlauben die medizinischen Unterlagen keine zuverlässige
Beurteilung von Diagnosen und Arbeitsunfähigkeit des Beschwerdeführers im
Lichte der geänderten Rechtsprechung. Weder das von der IV-Stelle in Auftrag
gegebene Gutachten der medizinischen Abklärungsstelle C.________ vom 14. Mai
2014 noch dasjenige des ärztlichen Zentrums D.________ vom 20. Juni 2013 oder
die früheren fachärztlichen Berichte und Stellungnahmen ermöglichen eine
schlüssige Beurteilung, insbesondere nicht eine solche nach Massgabe der
relevanten Indikatoren (E. 4 hievor; BGE 141 V 281 E. 4.2 S. 298). Die
Gutachter der medizinischen Abklärungsstelle C.________ haben vorwiegend die
ihnen von der IV-Stelle unterbreiteten Fragen aus dem Kriterienkatalog von BGE
130 V 352 beantwortet, der nach der geänderten Rechtsprechung nicht mehr
massgebend ist. Auch der RAD-Arzt prüfte die Überwindbarkeit nach den nunmehr
überholten Kriterien. Schliesslich berichtet der Psychiater des ärztlichen
Zentrums D.________ zwar über eine erhöhte Vulnerabilität beziehungsweise eine
individuelle Disposition für den Erwerb psychischer Störungen. Indessen lag der
Schwerpunkt des Gutachtenauftrages auf dem ursächlichen Zusammenhang zwischen
dem Unfall vom 2. Februar 2012 und den festgestellten gesundheitlichen
Störungen. Da dieser von den Experten klar verneint wurde, erübrigte sich eine
nähere Auseinandersetzung mit den Belastungsfaktoren einerseits und dem
vorhandenen Kompensationspotenzial, also dem weiterhin bestehenden
Leistungsvermögen, andererseits. Dementsprechend sind die Angaben auch dieses
Gutachtens im Zusammenhang mit der Beurteilung gemäss der geänderten
Rechtsprechung BGE 141 V 281 nicht einschlägig. Die Sache ist daher an die
Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie ein psychiatrisches Obergutachten einhole
und gestützt auf die vom Sachverständigen gewonnenen Erkenntnisse über den
Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Invalidenrente im Lichte der geänderten
Rechtsprechung neu entscheide.

7. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung
auszurichten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Damit wird das Gesuch
um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 2. Juni 2015 aufgehoben. Die Sache
wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird
die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der HOTELA Vorsorgestiftung, der GastroSocial
Pensionskasse, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt
für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. Dezember 2015
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Schüpfer

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