Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.551/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_551/2015

Urteil vom 17. März 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Jancar.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Urs P. Keller,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Arbeitsunfähigkeit, Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 15. Juni 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1967 geborene A.________ absolvierte die Lehre und die Meisterausbildung
als Floristin sowie diverse Weiterbildungen. Seit 1989 war sie unter anderem
Leiterin und Dozentin der B.________ GmbH. Am 12. Dezember 2006 erlitt sie
einen Arbeitsunfall, bei dem sich eine Stoffrolle aus einem Arbeitsregal löste
und auf ihren Kopf fiel. Im Austrittsbericht des Spitals C.________ vom 4.
Januar 2007 wurden als Folge dieses Unfalls eine Commotio cerebri und eine
Distorsion der Halswirbelsäule (HWS) Grad I-II mit passagerer Hypästhesie am
rechten Arm diagnostiziert; zudem wurde die Diagnose eines Status nach schwerer
Lebenskrise nach Todesfällen im persönlichen Umfeld gestellt. Am 19. Juli 2008
meldete sich die Versicherte bei der IV-Stelle des Kantons Zürich zum
Leistungsbezug an. Diese holte diverse Arztberichte und ein bidisziplinäres
(psychiatrisches und rheumatologisches) Gutachten der asim, Academy of Swiss
Insurance Medicine, Universitätsspital Basel, Basel, vom 31. Dezember 2009 ein.
In der Folge zog sie bei der asim ein neuropsychologisches Gutachten vom 8.
November 2010 und eine tridisziplinäre Beurteilung der Arbeitsfähigkeit vom 25.
November 2010 bei. Weiter holte die IV-Stelle einen Abklärungsbericht für
Selbstständigerwerbende vom 1. Februar 2013 ein. Mit Verfügung vom 19. Mai 2014
verneinte sie den Rentenanspruch.

B. 
Die hiegegen geführte Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Entscheid vom 15. Juni 2015 ab.

C. 
Mit Beschwerde beantragt die Versicherte, in Aufhebung des kantonalen
Entscheides sei ihr eine ganze Invalidenrente zuzusprechen; eventuell sei die
Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen und diese anzuhalten, den Anspruch
aufgrund der geänderten bundesgerichtlichen Praxis gemäss BGE 141 V 281 neu zu
prüfen.

Die IV-Stelle schliesst auf Beschwerdeabweisung. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.

Mit Verfügung vom 15. Dezember 2015 eröffnete das Bundesgericht der
Versicherten, ihre aus frei zugänglich Internetseiten sich ergebenden
beruflichen Aktivitäten liessen nicht auf gesundheitsbedingte Einschränkungen
der Arbeitsfähigkeit schliessen. Es müsse deshalb mit der Abweisung der
Beschwerde infolge Simulation und Aggravation gerechnet werden. Sie erhalte
Gelegenheit, hierzu Stellung zu nehmen. Mit Stellungnahme vom 17. Februar 2016
hält die Versicherte an der Beschwerde fest.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt
werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem
Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E.
2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Rechtsfragen sind
die vollständige Feststellung erheblicher Tatsachen sowie die Beachtung des
Untersuchungsgrundsatzes bzw. der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c
ATSG und der Anforderungen an den Beweiswert von Arztberichten (vgl. E. 2
hienach). Die konkrete Beweiswürdigung ist Sachverhaltsfrage (BGE 132 V 393 E.
3.2 S. 397; nicht publ. E. 4.1 des Urteils BGE 135 V 254, veröffentlicht in SVR
2009 IV Nr. 53 S. 164 [9C_204/2009]).

2. 
Die Vorinstanz hat die Grundlagen über die Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG;
Art. 4 Abs. 1 IVG), die Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und den Beweiswert von
Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232, 125 V 351 E. 3a S. 352) richtig
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3. 
In rheumatologischer Hinsicht wurde im asim-Gutachten vom 31. Dezember 2009/25.
November 2010 ein chronisches zervikovertebra-les-/zervikozephales Syndrom bei
Status nach Kopfkontusion mit Commotio cerebri am 12. Dezember 2006 (ICD-10
M53.0) diagnostiziert. Weiter wurde ausgeführt, aufgrund der am
Bewegungsapparat erhobenen Befunde sollte sowohl die ursprüngliche als auch die
seit 2007 ausgeübte angepasste Tätigkeit ganztags zumutbar sein. Dabei bestehe
eine 20%ige Einschränkung aufgrund eines vermehrten Pausenbedarfs. Es
resultiere eine Endarbeitsfähigkeit von 80 %. Körperlich anstrengendere
Tätigkeiten mit Heben von Lasten über 15 kg, wie bei Aufstellungsarbeiten
notwendig, sollten vermieden werden. Eine körperlich leichte wechselbelastende
Alternativtätigkeit ohne länger dauernde Arbeit über Kopf sei aus
rheumatologischer Sicht zu 100 % zumutbar.

4.

4.1. Psychiatrischerseits wurde im asim-Gutachten vom 31. Dezember 2009/25.
November 2010 eine schwere Anpassungsstörung (ICD-10 F43.2) mit Einfluss auf
die Arbeitsfähigkeit gestellt. Ohne Einfluss auf diese seien eine
undifferenzierte Somatisierungsstörung (ICD-10 F45.1) und eine Akzentuierung
von Persönlichkeitszügen (ICD-10 Z73.1 [starkes Erfolgsstreben, Neigungen zu
Zwangshaftigkeit und Genauigkeit]). Im neuropsychologischen Teilgutachten vom
8. November 2010 wurden folgende Diagnosen gestellt: 1. Leichte bis
mittelschwere neuropsychische Störung (Aufmerksamkeit, Gedächtnis,
Exekutivfunktionen) bei Diagnosen 2-4; 2. Commotio cerebri und HWS-Distorsion
am 12. Dezember 2006; 3. Anhaltende zervikale Schmerzsymptomatik; 4.
Affektiv-depressive Störung. In der tridisziplinären (psychiatrischen,
rheumatologischen und neuropsychologischen) asim-Konsensbeurteilung vom 25.
November 2010 wurde ausgeführt, in der angestammten Tätigkeit bestehe eine
Arbeitsfähigkeit von zeitlich 50 %; aufgrund der zusätzlichen
neuropsychologischen Leistungseinbusse betrage die effektive Leistungsfähigkeit
40 %. Versuche die Versicherte, ihre Berufstätigkeit auf ihr Kerngeschäft, die
Leitung der Floristikschule zu reduzieren und diese entsprechend
umzustrukturieren, wie sie das in den letzten 2 Jahren getan habe, sei eine
Arbeitsfähigkeit von 80 % zumutbar; dabei bestehe eine zusätzliche
neuropsychologische Leistungseinschränkung auf 80 %. Somit sei in einer
angepassten Arbeitssituation (im bisherigen Betätigungsfeld) eine
Arbeitspräsenz von 80 % mit einem darin vorhandenen 80%igen
Arbeitsleistungsvermögen möglich. Dies entspreche einer
Gesamtleistungsfähigkeit von 65 % (bezogen auf eine normale 100%ige
Leistungsfähigkeit). Diese angepasste (bisherige) Tätigkeit entspreche der
Verweisungstätigkeit.

4.2. Die Frage, ob die Versicherte infolge der psychiatrischen Diagnosen
Rentenleistungen beanspruchen kann, verneinte die Vorinstanz nach der früheren
Rechtsprechung zu den anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen und
vergleichbaren psychosomatischen Leiden gemäss BGE 130 V 352 gestützt auf die
sog. Förster-Kriterien.

4.3. Der Versicherten ist beizupflichten, dass das bezüglich dieser
gesundheitlichen Störungen ergangene Grundsatzurteil BGE 141 V 281 vom 3. Juni
2015 auf laufende Verfahren anzuwenden ist (vgl. BGE 141 V 281 E. 8 S. 309 mit
Hinweis auf BGE 137 V 210 E. 6 S. 266; Urteil 8C_634/2015 vom 22. Januar 2016
E. 4.1). Sie macht weiter geltend, das asim-Gutachten (E. 4.1 hievor)
ermögliche eine schlüssige Beurteilung der nach diesem Urteil massgebenden
neuen Indikatoren. Gestützt hierauf habe sie Anspruch auf eine ganze
Invalidenrente.

4.4. Mit Eingabe vom 17. Februar 2016 legte die Versicherte dar, inwiefern sie
ihre Erwerbstätigkeit an die von ihr geklagten gesundheitlichen Beschwerden
angepasst hat. Im Lichte dieser Ausführungen kann der Rentenanspruch nicht ohne
Weiteres wegen Aggravation und Simulation (hierzu vgl. BGE 141 V 281 E. 2.2 S.
87 f.) verneint werden. Die Beschwerdegegnerin wird darüber aber zu befinden
haben.

5. 

5.1. Im asim-Gutachten wurde die Arbeitsfähigkeit in psychischer Hinsicht
einzig mit einer schweren Anpassungsstörung (ICD-10 F43.2) begründet (E. 4.1
hievor). Weiter hält es fest, diese sei durch den Unfall vom 12. Dezember 2006
bedingt. Diese Sicht lässt zumindest Fragen offen. Denn gemäss den
Klassifikationskriterien werden unter F43.2 Störungen erfasst, deren Symptome
meist nicht länger als sechs Monate anhalten. Anders verhält es sich bei den
längeren depressiven Reaktionen (F43.21). Eine solche wurde im vorliegenden
Fall jedoch gerade nicht diagnostiziert. Ebenso wenig enthält das Gutachten
eine Spezifikation nach F43.22, F43.23, F43,24 oder F43.25, womit - gemäss
Beschrieb zu den klinisch-diagnostischen Leitlinien - Trauerreaktionen jeder
Dauer erfasst werden, die in Art oder Inhalt aus der Norm fallen (vgl. HORST
DILLING/WERNER MOMBOUR/MARTIN H. SCHMIDT [Hrsg.], Internationale Klassifikation
psychischer Störungen, ICD-10, Kapitel V (F), Klinisch-diagnostische
Leitlinien, 10. Aufl. 2015, S. 209 f.). In dieser Hinsicht besteht
Klärungsbedarf; dies umso mehr, als bei länger anhaltender Trauersymptomatik
eben auch Z-Kodierungen der ICD-10 in Frage kommen (vgl. HORST DILLING/WERNER
MOMBOUR/MARTIN H. SCHMIDT [Hrsg.], a.a.O., S. 209 f.), bei denen es sich - wie
die Vorinstanz richtig erkannt hat - nicht um rechtserhebliche
Gesundheitsschädigungen handelt (SVR 2012 IV Nr. 52 S. 188 E. 3.1 und 3.3
[9C_573/2011]; Urteil 8C_810/2013 vom 9. April 2014 E. 5.2.2)

5.2. Die im asim-Gutachten weiter diagnostizierte undifferenzierte
Somatisierungsstörung (ICD-10 F45.1), der kein Einfluss auf die
Arbeitsfähigkeit beigemessen wurde (E. 4.1 hievor), gehört zum Symptomenkomplex
der somatoformen Störungen (Urteil 8C_478/2015 vom 12. Februar 2016 E. 4.2, zur
Publikation vorgesehen). Die medizinischen Unterlagen erlauben keine
zuverlässige Beurteilung von Diagnosen und Arbeitsunfähigkeit der
Beschwerdeführerin im Lichte der geänderten Rechtsprechung. Weder das
asim-Gutachten noch die anderen ärztlichen Berichte und Stellungnahmen
ermöglichen eine schlüssige Beurteilung, insbesondere nicht nach Massgabe der
relevanten Indikatoren (vgl. auch Urteile 9C_514/2015 vom 14. Januar 2016 E. 4
und 8C_566/2015 vom 22. Dezember 2015 E. 6.2).

6. 
Hievon abgesehen liegt das asim-Gutachten vom 31. Dezember 2009/25. November
2010 zu lange zurück und kann auch deshalb nicht als Grundlage für die
Beurteilung des psychischen Gesundheitszustandes im massgebenden Zeitpunkt der
Verfügung vom 19. Mai 2014 dienen (BGE 132 V 215 E. 3.1.1 S. 320).

Die Sache ist daher an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie ein
interdiszplinäres medizinisches Gutachten für den ganzen hier interessierenden
Zeitraum einhole und gestützt darauf über den Rentenanspruch der
Beschwerdeführerin neu verfüge.

7. 
Die unterliegende IV-Stelle trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68
Abs. 2 BGG; BGE 141 V 281 E. 11.1 S. 312).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 15. Juni 2015 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 19. Mai 2014 werden aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Zürich
zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 4'200.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 17. März 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Jancar

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