Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.515/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_515/2015

Urteil vom 16. November 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiberin Kopp Käch.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin,
Beschwerdeführerin,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung (vorinstanzliches Verfahren),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 29. Mai 2015.

Sachverhalt:

A.

A.a. Die 1973 geborene A.________ war seit 1. September 2007 als Sekretärin mit
einem Pensum von 60 % bei der B.________ AG tätig und damit bei der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Unfällen
versichert. Am 16. November 2007 erlitt A.________ als Lenkerin eines
Personenwagens eine Kollision mit einem über die Mittellinie hinausfahrenden
entgegenkommenden Fahrzeug. Die SUVA richtete bis Ende März 2008
Taggeldleistungen aus und übernahm die Kosten für einen stationären Aufenthalt
im Spital C.________ sowie für weitere Heilmassnahmen. Eine Kostenübernahme für
die 2009 erfolgte ambulante psychiatrische Behandlung im Sanatorium D.________
lehnte sie hingegen ab.

A.b. Nach Einholung einer interdisziplinären Begutachtung durch das Klinikum
E.________ (psychiatrisches Gutachten vom 17. November 2012,
klinisch-psychologisches Gutachten vom 19. November 2012 sowie neurologisches
Gutachten vom 15. Mai 2013) verneinte die SUVA mit Verfügung vom 30. Oktober
2013 eine weitere Leistungspflicht. Die von der Versicherten dagegen erhobene
Einsprache wies die SUVA mit Entscheid vom 17. März 2014 ab, während sie auf
die Einsprache der KPT Krankenkasse AG nicht eintrat.

B. 
A.________ und die KPT erhoben dagegen Beschwerde und beantragten, in Aufhebung
des Einspracheentscheids habe die SUVA A.________ die gesetzlichen Leistungen
zu erbringen. Im Rahmen eines zweiten Schriftenwechsels (Replik vom 17.
November 2014) liess A.________ um Durchführung einer öffentlichen Verhandlung
ersuchen. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich verzichtete auf
eine solche und wies die Beschwerden mit Entscheid vom 29. Mai 2015 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________
beantragen, es sei Ziffer 1 des angefochtenen Entscheids aufzuheben und die
SUVA anzuweisen, ihr eine Rente basierend auf einem Invaliditätsgrad von 100 %
sowie eine Integritätsentschädigung von mindestens 50 % zuzusprechen,
eventualiter sei die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückzuweisen, um an
spezialisierter und fachkompetenter Stelle ein neues Gutachten einzuholen.
Prozessual wird der Antrag auf Durchführung eines zweiten Schriftenwechsels
gestellt.
Mit Verfügung vom 25. August 2015 setzte das Bundesgericht dem Rechtsvertreter
der Versicherten wegen übermässiger Weitschweifigkeit der Rechtsschrift eine
Frist zur Behebung eines Mangels gemäss Art. 42 Abs. 6 BGG an, woraufhin eine
leicht gekürzte Beschwerde eingereicht wurde.

Die SUVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit
hat sich nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerdeführerin rügt vorab in formeller Hinsicht eine Verletzung von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK, weil sich das kantonale Gericht geweigert habe, die im
Schriftenwechsel beantragte öffentliche Verhandlung durchzuführen.

1.1. Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache
in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem
unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das
über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die
Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden
hat. Vorliegend sind zivilrechtliche Ansprüche im Sinne dieser Norm streitig (
BGE 122 V 47 E. 2a S. 50). Das kantonale Gericht, welchem es primär obliegt,
die Öffentlichkeit der Verhandlung zu gewährleisten (BGE 136 I 279 E. 1 S. 281;
122 V 47 E. 3 S. 54), hat bei Vorliegen eines klaren und unmissverständlichen
Parteiantrages grundsätzlich eine öffentliche Verhandlung durchzuführen (BGE
136 I 279 E. 1 S. 281; SVR 2014 UV Nr. 11 S. 37, 8C_273/2013 E. 1.2 mit
Hinweisen). Ein während des ordentlichen Schriftenwechsels gestellter Antrag
gilt dabei als rechtzeitig (BGE 134 I 331).

1.2. Der Grundsatz der Öffentlichkeit bezieht sich sowohl auf die Partei- als
auch auf die Publikums- und Presseöffentlichkeit. Er umfasst u.a. den Anspruch
des Einzelnen, seine Argumente dem Gericht mündlich in einer öffentlichen
Sitzung vortragen zu können. Dagegen gilt das Öffentlichkeitsprinzip nicht für
die Beratung des Gerichts; diese kann unter Ausschluss der Öffentlichkeit
geführt werden (BGE 122 V 47 E. 2c S. 51 f.; Urteil 8C_63/2015 vom 20. Mai 2015
E. 1.1). Der Öffentlichkeitsgrundsatz beinhaltet keinen Anspruch darauf, dass
bestimmte Beweismittel öffentlich und in Anwesenheit der Parteien abgenommen
werden. Die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung setzt daher im
Sozialversicherungsprozess einen - im erstinstanzlichen Verfahren zu stellenden
- ausdrücklichen oder zumindest konkludenten Parteiantrag voraus, aus dem klar
und unmissverständlich hervorgehen muss, dass eine konventionskonforme
Verhandlung mit Publikums- und Presseanwesenheit durchgeführt werden soll. Wird
lediglich eine persönliche Anhörung oder Befragung, ein Parteiverhör, eine
Zeugeneinvernahme oder die Durchführung eines Augenscheins verlangt, darf das
Gericht daraus schliessen, dass es der antragstellenden Person um die Abnahme
bestimmter Beweismittel und nicht um die Durchführung einer Verhandlung mit
Publikums- und Presseanwesenheit geht (BGE 122 V 47 E. 3a S. 55; Urteil 8C_63/
2015 vom 20. Mai 2015 E. 1.1)

2.

2.1. Die Beschwerdeführerin liess in der vorinstanzlichen Replik den Antrag
stellen, es sei eine öffentliche Verhandlung durchzuführen. Zur Begründung
berief sie sich auf Art. 6 EMRK und führte im Wesentlichen aus, sie wolle zum
Gericht sprechen, ihre Eindrücke vom Unfallereignis sowie das Verhältnis
zwischen ihr und dem begutachtenden Arzt schildern und ihre eigenen Zeugen
einvernehmen lassen.

2.2. Das kantonale Gericht entsprach diesem Begehren nicht mit der Begründung,
der erst in der Replik gestellte Antrag sei als verspätet zu erachten, da im
Falle der Durchführung einer Verhandlung kein schriftlicher zweiter
Schriftenwechsel durchgeführt worden wäre.

3.

3.1. Der Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung wurde in der
vorinstanzlichen Replik und damit rechtzeitig gestellt (vgl. E. 1.1). Er liegt
zudem in klar und unmissverständlich formulierter Weise vor. Insbesondere
brachte die Beschwerdeführerin darin zum Ausdruck, dass ihr an der Darlegung
ihres persönlichen Standpunktes vor einem unabhängigen Gericht gelegen war.
Soweit es der Beschwerdeführerin um die Abnahme bestimmter Beweismittel geht,
besteht jedoch kein Anspruch darauf, dass entsprechende Beweismassnahmen, wenn
erforderlich, öffentlich durchgeführt werden (vgl. Urteil 9C_162/2015 vom 12.
August 2015 E. 4.1 mit Hinweis).

3.2. Die Begründung, weshalb die Vorinstanz die beantragte öffentliche
Verhandlung nicht durchführte, ist falsch. Das kantonale Gericht legte im
angefochtenen Entscheid mit keinem Wort dar, weshalb der konkret gestellte
Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung so zu verstehen gewesen
wäre, dass damit lediglich eine persönliche Anhörung oder Befragung, ein
Parteiverhör, eine Zeugeneinvernahme oder die Durchführung eines Augenscheins
verlangt worden wäre, woraus das Gericht - gegebenenfalls - hätte schliessen
dürfen, dass es der antragstellenden Person um die Abnahme bestimmter
Beweismittel und nicht um die Durchführung einer Verhandlung mit Publikums- und
Presseanwesenheit geht (BGE 122 V 47 E. 3a S. 55; Urteil 8C_426/2014 vom 23.
April 2015 E. 2.3 mit Hinweis).

3.3. Indem das kantonale Gericht - ohne rechtsgenügliche Begründung für den
Verzicht darauf - von der beantragten öffentlichen Verhandlung abgesehen hat,
wurde dieser in Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleisteten Verfahrensgarantie nicht
Rechnung getragen. Es ist daher unumgänglich, die Sache an die Vorinstanz
zurückzuweisen, damit diese den Verfahrensmangel behebt und die von der
Beschwerdeführerin verlangte öffentliche Verhandlung durchführt. Hernach wird
sie über die Beschwerde materiell neu befinden (SVR 2014 UV Nr. 11 S. 37,
8C_273/2013 E. 4).

4. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Als unterliegende Partei hat
die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG; BGE
133 V 642 E. 5). Diese hat der Beschwerdeführerin überdies eine
Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 1 BGG).
 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 29. Mai 2015 aufgehoben. Die
Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der KPT Krankenkasse AG, Bern, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. November 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Kopp Käch

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