Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.502/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_502/2015

Urteil vom 26. Oktober 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Grunder.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Michael Weissberg,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Freiburg,
Route du Mont-Carmel 5, 1762 Givisiez,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision; Wiedererwägung;
Valideneinkommen),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts Freiburg
vom 2. Juni 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1974 geborene A.________ meldete sich am 11. November 1999 wegen der Folgen
des Motorradunfalles vom 30. August 1999 (Luxationsfraktur der
Brustwirbelkörper 9/10 mit sensomotorisch kompletter Paraplegie sub Th10; vgl.
Bericht des Zentrums B.________ vom 3. September 1999) zum Leistungsbezug bei
der Invalidenversicherung an. Mit Verfügungen vom 30. Januar und 20. Februar
2004 sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Freiburg ab 1. August 2000 gestützt
auf einen ermittelten Invaliditätsgrad von 80 % eine ganze Invalidenrente zu.
Das am 19. Januar 2012 von Amtes wegen eingeleitete Revisionsverfahren ergab,
dass die Versicherte seit 1. Dezember 2009 bei der C.________ AG teilzeitlich
als wissenschaftliche Mitarbeiterin angestellt war. Mit Mitteilung vom 4. Mai
2012 bestätigte die IV-Stelle den Anspruch auf eine ganze Invalidenrente.
Aufgrund von Einwänden des obligatorischen Unfallversicherers zog die IV-Stelle
die Mitteilung vom 4. Mai 2012 nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren in
Wiedererwägung und setzte die ganze Invalidenrente auf das Ende des der
Zustellung der Verfügung vom 24. Januar 2013 folgenden Monats gestützt auf
einen neu ermittelten Invaliditätsgrad von 68 % auf eine Dreiviertelsrente
herab. Zur Begründung führte sie aus, sie sei in dem am 4. Mai 2012
abgeschlossenen Revisionsverfahren bei der Bestimmung des Invaliditätsgrades
irrtümlich von einem unrichtigen Valideneinkommen ausgegangen.

B. 
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Kantonsgericht Freiburg ab
(Entscheid vom 2. Juni 2015).

C. 
A.________ lässt Beschwerde führen und beantragen, unter Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids sei ihr weiterhin eine ganze Invalidenrente
auszurichten.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht,
unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art.
42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die
rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1
S. 254).

2. 
Die Parteien sind sich darin einig, dass die das von Amtes wegen eingeleitete
Rentenrevisionsverfahren abschliessende Mitteilung vom 4. Mai 2012 hinsichtlich
der Bestimmung des Invaliditätsgrades (Art. 16 ATSG) auf einer zweifellos
unrichtigen Annahme desjenigen Erwerbseinkommens beruhte, das die Versicherte
hätte erzielen können, wenn sie nicht invalid geworden wäre (Valideneinkommen).
Daher durfte die IV-Stelle auf die genannte Revisionsmitteilung zurückkommen
(vgl. Art. 53 Abs. 2 ATSG) und den Rentenanspruch ex nunc et pro futuro (vgl.
Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV) ohne Bindung an frühere Invaliditätsschätzungen
neu beurteilen (BGE 141 V 9 vgl.1 S. 7 zuunterst f.).

3.

3.1.

3.1.1. Prozessthema bildet die Frage, ob sich die Beschwerdeführerin auch ohne
die invalidisierenden gesundheitlichen Folgen des Unfalles vom 30. August 1999
(komplette Paraplegie sub Th10) beruflich in gleicher Weise weiterentwickelt
hätte.

3.1.2. Nach der Rechtsprechung ist bei der Ermittlung des Valideneinkommens
entscheidend, was die versicherte Person im massgebenden Zeitpunkt aufgrund
ihrer beruflichen Fähigkeiten und persönlichen Umstände nach dem Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit verdient hätte. Da die Invaliditätsbemessung
der voraussichtlich bleibenden oder längere Zeit dauernden Erwerbsunfähigkeit
zu entsprechen hat (vgl. Art. 8 Abs. 1 ATSG), ist auch die berufliche
Weiterentwicklung zu berücksichtigen, die eine versicherte Person normalerweise
vollzogen hätte; dazu ist allerdings erforderlich, dass konkrete Anhaltspunkte
dafür bestehen, dass ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ein beruflicher
Aufstieg und ein entsprechend höheres Einkommen tatsächlich realisiert worden
wären. Blosse Absichtserklärungen genügen nicht. Vielmehr muss die Absicht,
beruflich weiterzukommen, bereits durch konkrete Schritte wie Kursbesuche,
Aufnahme eines Studiums etc. kundgetan worden sein. Im Revisionsverfahren
besteht insoweit ein Unterschied zur ursprünglichen Rentenfestsetzung, als der
in der Zwischenzeit tatsächlich durchlaufene beruflich-erwerbliche Werdegang
als invalide Person bekannt ist. Eine trotz Invalidität erlangte besondere
berufliche Qualifizierung erlaubt allenfalls (weitere) Rückschlüsse auf die
mutmassliche Entwicklung, zu der es ohne Eintritt des (unfallbedingten)
Gesundheitsschadens bis zum Revisionszeitpunkt gekommen wäre (BGE 139 V 28 E.
3.3.3.2 in fine S. 31 und 96 V 29; SVR 2010 UV Nr. 13 S. 51, 8C_550/2009 E.
4.2; Urteil 8C_90/2011 vom 8. August 2011 E. 5.3.2). Allerdings darf aus einer
erfolgreichen Invalidenkarriere in einem neuen Tätigkeitsbereich nicht ohne
Weiteres abgeleitet werden, die versicherte Person hätte ohne Invalidität eine
vergleichbare Position auch im angestammten Tätigkeitsgebiet erreicht (RKUV
2005 Nr. U 554 S. 315, U 340/04; Urteil 9C_607/2012 vom 17. April 2013 E. 3 in
fine mit Hinweisen).

3.2.

3.2.1. Es steht unbestritten fest, dass die Versicherte nach der
obligatorischen Schulzeit eine dreijährige Lehre zur kaufmännischen
Angestellten abschloss und danach während eines Jahres in den USA weilte, wo
sie eine High School besuchte. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz arbeitete sie
während drei Jahren als Direktionssekretärin bei einem
Versicherungsunternehmen, machte einen dreimonatigen Sprachaufenthalt in
Italien und arbeitete anschliessend ab Mai 1997 bei der D.________ AG (ab 1.
September 2000: E.________ AG sowie F.________ AG), wobei sie sich
berufsbegleitend zur Eidg. Dipl. Marketingplanerin (Abschluss im Frühling 1998)
ausbildete. Gemäss dem von der IV-Stelle eingeholten Fragebogen für
Arbeitgebende der F.________ AG vom 21. Januar 2003 wurde die Versicherte ab
September 2000 bis zum letzten Arbeitstag am 31. August 2003 zu ca. drei
Stunden pro Tag an drei bis fünf Tagen pro Woche als Projektleiterin für
Marketing und Kommunikation eingesetzt. Im Herbst 2003 nahm sie an der
Universität ein Studium in Medien- und Kommunikationswissenschaften auf, das
sie erfolgreich abschloss. Ab 1. Dezember 2009 war sie teilzeitlich als
wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der C.________ AG beschäftigt (Fragebogen
für Arbeitgebende vom 15. März 2013).

3.2.2. Das kantonale Gericht hat erwogen, weder anlässlich des Gesprächs mit
dem Inspektor des Schadenaussendienstes der Unfallversicherung (Bericht vom 24.
November 1999) noch desjenigen mit dem Berufsberater der Invalidenversicherung
(Bericht vom 17. August 2000) habe die Versicherte erwähnt, dass sie vor dem
Unfall vom 30. August 1999 beabsichtigte, eine Ausbildung aufnehmen zu wollen,
um künftig als Marketingleiterin erwerbstätig sein zu können. Das im
Verwaltungsverfahren aufgelegte Schreiben eines ehemaligen
Geschäftsleitungsmitgliedes der E.________ AG vom 5. Dezember 2012 sei wenig
aussagekräftig, zumal dieses erst nach der Verfügung der Unfallversicherung vom
22. November 2012 verfasst worden sei, mit welcher die Invalidenrente reduziert
wurde; im Übrigen handle es sich dabei um eine blosse Bestätigung der angeblich
erklärten Absicht, eine Weiterbildung aufnehmen zu wollen. In Bezug auf das
Schreiben der F.________ AG vom 29. Mai 2002 erübrige sich jeglicher Kommentar,
da die darin festgehaltene Lohnentwicklung als Valide bereits in dem im
unfallversicherungsrechtlichen Verfahren mit Urteil vom Dezember 2009 als nicht
überwiegend wahrscheinlich betrachtet worden sei. Unter diesen Umständen könne
aus der erfolgreichen Invalidenkarriere im neuen Tätigkeitsbereich nicht
abgeleitet werden, die Versicherte hätte im angestammten Beruf ohne Invalidität
eine vergleichbare Position erreicht. Insgesamt betrachtet müsse sich die
Versicherte das revisionsweise neu festzusetzende und unbestrittene
Invalideneinkommen anrechnen lassen, ohne dass deswegen zugleich der
Validenlohn auf der Grundlage neuer Bemessungskriterien zu bestimmen sei.

3.2.3. Nach der Rechtsprechung ist die Frage, welche hypothetischen
Erwerbseinkommen in die Vergleichsrechnung nach Art. 16 ATSG einzusetzen sind,
vom Bundesgericht frei, mithin ohne Bindung an die vorinstanzlichen
Feststellungen zu prüfen. Dies gilt u.a. dann, wenn - wie vorliegend - streitig
ist, ob das hypothetische Valideneinkommen gestützt auf das zuletzt vor dem
invalidisierenden Unfall erzielte Salär oder aber aufgrund von statistischen
Durchschnittswerten zu ermitteln ist (vgl. MEYER/REICHMUTH, Rechtsprechung des
Bundesgerichts zum IVG, Zürich/Basel/Genf 2014, Art. 28a, Rz. 34, S. 322 mit
Hinweisen).

3.2.4. Der vorinstanzlichen Beweiswürdigung kann nicht ohne Weiteres gefolgt
werden. Aus den Berichten des Schadenaussendienstes der Unfallversicherung vom
24. November 1999 und der Berufsberatung der IV-Stelle vom 17. August 2000
sowie den erwähnten Auskünften der F.________ AG vom 21. Januar 2003 ist
entgegen den Schlussfolgerungen des kantonalen Gerichts zu schliessen, dass die
Versicherte nach wie vor dem Unfall vom 30. August 1999 nicht nur als Eidg.
Dipl. Marketingplanerin, sondern auch als Projektleiterin eingesetzt wurde.
Dieser Umstand ist als deutliches Indiz dafür zu werten, dass die Versicherte,
die im Übrigen vom Inspektor des Schadenaussendienstes der Unfallversicherung
als sehr ehrgeizige junge Frau bezeichnet wurde, die teilweise ausgeübte
Funktion als Marketingleiterin mit einer entsprechenden Ausbildung festigen
wollte, um dadurch in der Lage zu sein, vom damaligen oder einem anderen
Arbeitgeber künftig ein höheres Gehalt verlangen zu können. Anders kann die
Aufnahme des im Herbst 2003 begonnen Studiums in Medien- und
Kommunikationswissenschaften nicht betrachtet werden, zumal sich die
Versicherte damit berufsspezifisch qualifizierte, welchen Aspekt die Vorinstanz
verkannt hat. Denn Medienwissenschaftler übernehmen Aufgaben und Funktionen, in
denen die Kommunikation, deren Grundlagen und Verbesserungsmöglichkeiten im
Zentrum stehen: Kommunikation und Informationsaustausch unter Mitarbeitenden
einer Firma oder Organisation, Kommunikation mit der breiten Öffentlichkeit,
mit der Kundschaft usw. (vgl. http://www.berufsbera- tung.ch/dyn/6010.aspx?
id_branch=285). Daher liegt es nahe, dass die Beschwerdeführerin von der
C.________ AG im angestammten Tätigkeitsgebiet eingesetzt wird. Ob dem so ist,
kann allerdings den Akten nicht entnommen werden, weshalb die Sache zur Klärung
dieser Frage an die Verwaltung zurückzuweisen ist.

4.

4.1. Der IV-Stelle werden als unterliegender Partei die Gerichtskosten
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

4.2. Sie hat die Beschwerdeführerin angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1
und 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts
Freiburg vom 2. Juni 2015 sowie die Verfügung der Beschwerdegegnerin vom 24.
Januar 2013 werden aufgehoben. Die Sache wird im Sinne der E. 3.2.4 an die
Beschwerdegegnerin zurückgewiesen, damit sie nach den vorzunehmenden
Abklärungen über den Anspruch auf Invalidenrente neu verfüge.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Kantonsgericht Freiburg zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Freiburg,
Sozialversicherungsgerichtshof, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 26. Oktober 2015
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Grunder

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