Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.501/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_501/2015

Urteil vom 18. Dezember 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Maillard,
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold.

Verfahrensbeteiligte
A.________, vertreten durch
Rechtsanwältin Elisabeth Tribaldos,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
21. Mai 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1966, erlitt am 12. März 1998 einen Verkehrsunfall. Der
zuständige Unfallversicherer, die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
(nachfolgend: SUVA), erbrachte Leistungen (Heilbehandlung, Taggelder,
Integritätsentschädigung und Invalidenrente). Am 23. Oktober 2000 meldete er
sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des
Kantons Aargau sprach ihm mit Verfügung vom 25. Mai 2004 ab 1. Juni 2001 eine
ganze Invalidenrente zu. Mit Schreiben vom 6. Juni 2008 teilte ihm die
IV-Stelle mit, es habe sich keine Änderung des Rentenanspruchs ergeben. Im
Rahmen der 2011 eingeleiteten Überprüfung der Rente holte die IV-Stelle ein
polydisziplinäres Gutachten beim Institut B.________ vom 14. Juli 2014 ein und
hob am 26. September 2014 gestützt darauf die Invalidenrente per 1. November
2014 auf.

B. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die dagegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 21. Mai 2015 ab, wobei es die Aufhebung der Rente
mit der substituierten Begründung der Wiedererwägung schützte.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, es seien der vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung vom
26. September 2014 aufzuheben und ihm wieder eine ganze Invalidenrente
auszurichten. Zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Gemäss Art. 42 Abs. 1 BGG ist
die Beschwerde hinreichend zu begründen, andernfalls wird darauf nicht
eingetreten (Art. 108 Abs. 1 lit. b BGG). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich
nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine
erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen,
wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. Es kann die
Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur
insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und
begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).

1.2. Nach Art. 105 BGG legt das Bundesgericht seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Abs. 1). Es kann diese
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht (Abs. 2). Die Voraussetzungen für eine Sachverhaltsrüge nach Art.
97 Abs. 1 BGG und für eine Berichtigung des Sachverhalts von Amtes wegen nach
Art. 105 Abs. 2 BGG stimmen im Wesentlichen überein. Soweit es um die Frage
geht, ob der Sachverhalt willkürlich oder unter verfassungswidriger Verletzung
einer kantonalen Verfahrensregel ermittelt worden ist, sind strenge
Anforderungen an die Begründungspflicht der Beschwerde gerechtfertigt.
Entsprechende Beanstandungen sind vergleichbar mit den in Art. 106 Abs. 2 BGG
genannten Rügen. Demzufolge genügt es nicht, einen von den tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz abweichenden Sachverhalt zu behaupten. Vielmehr
ist in der Beschwerdeschrift nach den erwähnten gesetzlichen Erfordernissen
darzulegen, inwiefern diese Feststellungen willkürlich bzw. unter Verletzung
einer verfahrensrechtlichen Verfassungsvorschrift zustande gekommen sind.
Andernfalls können Vorbringen mit Bezug auf einen Sachverhalt, der von den
Feststellungen im angefochtenen Entscheid abweicht, nicht berücksichtigt
werden. Vorbehalten bleiben offensichtliche Sachverhaltsmängel im Sinne von
Art. 105 Abs. 2 BGG, die dem Richter geradezu in die Augen springen (BGE 133 IV
286 E. 6.2 S. 288; 133 II 249 E. 1.4.3 S. 255).

2. 
Streitig ist die Aufhebung der Invalidenrente per 1. November 2014.

3. 
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Revision einer
Invalidenrente (Art. 17 ATSG), die Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG; BGE 140
V 77 E. 3.1 S. 79) sowie über die Zulässigkeit der substituierten Begründung
der Wiedererwägung anstelle der Revision (SVR 2014 IV Nr. 39 S. 137 E. 3.2 mit
Hinweisen, 9C_121/2014) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt für die
Anforderungen an einen ärztlichen Bericht (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V
351 E. 3a S. 352). Darauf wird verwiesen.

4.

4.1. Die Vorinstanz schützte die Rentenaufhebung, da die ursprüngliche
Zusprechung einer ganzen Invalidenrente angesichts der vorhandenen ärztlichen
Einschätzungen durch den behandelnden Dr. med. C.________, Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie, vom 17. März 2001, des Hausarztes Dr. med.
E.________, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin, vom 21. Februar 2001 sowie
der Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie, Spital F.________,
vom 5. Juni 2003, wonach in der angestammten Tätigkeit volle Arbeitsunfähigkeit
und in einer angepassten Tätigkeit eine solche von 50 % vorliege, nicht
nachvollziehbar sei. Da sich der Bericht der Frau Dr. med. G.________,
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, SUVA, vom 19. Januar 2005 nicht
mit der zumutbaren Arbeitsfähigkeit, sondern der Integritätseinbusse im Rahmen
der Integritätsentschädigung befasse, sei auch dieser keine Grundlage für den
bei seiner Erstattung bereits erfolgten Rentenentscheid. Somit liege eine
unvollständige Sachverhaltsabklärung infolge klarer Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes vor, so dass die Voraussetzungen einer Wiedererwägung
im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG zu bejahen und der Rentenanspruch ex nunc et
pro futuro zu prüfen sei. Gestützt auf das den Anforderungen der Rechtsprechung
genügende Gutachten des Instituts B.________ vom 14. Juli 2014 sei der
Invaliditätsgrad korrekt ermittelt und die Invalidenrente zu Recht aufgehoben
worden.
Der Versicherte lässt dagegen einwenden, die Rentenzusprechung sei gestützt auf
die Ergebnisse eines Beschäftigungsprogramms der SUVA, welches eine maximale
Arbeitsleistung von zwei Stunden pro Tag ergeben habe, erfolgt. Da die
Verwaltung bei der Frage der Eingliederung einen grossen Ermessensspielraum
habe und demnach bei der Annahme von zweifelloser Unrichtigkeit nach der
Rechtsprechung Zurückhaltung angebracht sei, sei keine solche gegeben, auch
wenn das Ermessen heute strenger gehandhabt würde. Es liege weder eine
offensichtlich falsche Beurteilung des Sachverhalts noch eine unvollständige
Abklärung vor. Die Vorinstanz verletze Bundesrecht, wenn sie die rechtlichen
und tatsächlichen Umstände im Zeitpunkt der Rentenzusprechung nicht
berücksichtige. Die Vorinstanz hätte diese den der Abklärungspflicht genügenden
und bei den SUVA-Akten befindlichen Berichten des Dr. med. E.________ vom 13.
Oktober 2003, des Dr. med. C.________ vom 27. September 2003 und der
Besprechung vom 25. September 2003 entnehmen können.

4.2. Mit der Vorinstanz ist festzuhalten, dass aus medizinischer Sicht
lediglich eine Arbeitsunfähigkeit von 50 % ausgewiesen ist. Daran ändert auch
die Argumentation des Versicherten unter Verweis auf die Akten der SUVA nichts,
wonach die volle Erwerbsunfähigkeit gestützt auf den fehlgeschlagenen
Arbeitsversuch als Abwartshilfe erstellt sei. Denn die ärztlicherseits
attestierte zumutbare Arbeitsfähigkeit von 50 % in einer angepassten Tätigkeit
wird durch diesen einmaligen Arbeitsversuch nicht widerlegt resp. die
Unzumutbarkeit einer Tätigkeit im ersten Arbeitsmarkt damit nicht objektiv
nachgewiesen. Auch wenn der aktuelle Art. 7 Abs. 2 ATSG im Zeitpunkt der
Rentenzusprechung noch nicht in Kraft war, entsprach dessen Inhalt doch der
dannzumal geltenden konstanten Rechtsprechung, wonach eine Erwerbsunfähigkeit
nur vorliegt, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist (vgl. dazu
auch Kieser, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, N. 55 und 57 zu Art. 7 ATSG). Damit
basiert aber die ursprüngliche Rentenzusprechung, welche von der Unzumutbarkeit
einer Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt ausgeht, auf einem unvollständig
erstellten resp. den Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1 ATSG) missachtenden
Sachverhalt.
Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Rente 2008 bestätigt wurde, da
damals keine umfassende Prüfung des Rentenanspruchs stattgefunden hat. Ebenso
führt der Einwand, die Frage der Eingliederungsfähigkeit weise grosse
Ermessenszüge auf, so dass infolge vertretbarer Ermessensausübung keine
zweifellose Unrichtigkeit erstellt sei, zu keinem anderen Ergebnis. Denn
vorliegend beruht der Entscheid auf einer Ermessensüberschreitung, indem -
unter Verletzung der Pflicht zu einer rechtskonformen Abklärung der für den
Entscheid notwendigen Parameter - eine Erwerbsunfähigkeit angenommen wurde,
obwohl diese nicht objektiv ausgewiesen war. Schliesslich geht auch der Einwand
des unterlassenen Beizugs der SUVA-Akten fehl, lagen doch die vom Versicherten
als massgeblich erachteten Berichte des Dr. med. C.________ vom 27. September
2003 und der Besprechung vom 25. September 2003 der IV-Stelle bei der
ursprünglichen Rentenzusprechung vor. Entgegen der Ansicht des Versicherten
vermöchten aber auch diese SUVA-Akten keine volle Arbeitsunfähigkeit auf dem
ersten Arbeitsmarkt objektiv zu begründen; denn Dr. med. E.________ gibt in
seinem Bericht vom 13. Oktober 2003 keine Begründung für die blosse
Zumutbarkeit von 2 Stunden Arbeit pro Tag an, Dr. med. C.________ äussert sich
in seinem Bericht vom 27. September 2003 nicht zur zumutbaren Arbeitsfähigkeit
und bei der Aktennotiz über die Besprechung vom 25. September 2003 handelt es
sich weder um eine Beurteilung eines medizinischen Sachverständigen noch um
eine Einschätzung von Fachpersonen der Berufsberatung, so dass auch damit keine
objektive Unzumutbarkeit ausgewiesen ist. Die Vorinstanz hat folglich zu Recht
die Voraussetzungen einer Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG bejaht.

4.3. Der Anspruch auf eine Rente ist demnach neu zu prüfen. Mit der Vorinstanz
ist dazu auf das den Anforderungen der Rechtsprechung genügende Gutachten des
Instituts B.________ vom 14. Juli 2014 abzustellen. Der Versicherte bringt
dagegen vor Bundesgericht ebenso wenig Einwände vor wie gegen die
Invaliditätsermittlung als solche (E. 4 und 5 des kantonalen Entscheids). Da
sich aus den Akten auch keine Anhaltspunkte ergeben, wonach diese
offensichtlich unzutreffend wären, hat es beim vorinstanzlichen Entscheid sein
Bewenden.

5. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten vom Beschwerdeführer
als unterliegender Partei zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihm ist indessen die
unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren (Art. 64 BGG), weil die Bedürftigkeit
aktenkundig und die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen ist sowie
die anwaltliche Vertretung geboten war. Es ist jedoch auf Art. 64 Abs. 4 BGG
hinzuweisen, wonach der Gerichtskasse Ersatz zu leisten sein wird, wenn dies
später möglich sein sollte.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwältin Elisabeth Tribaldos wird als unentgeltliche Anwältin bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. Dezember 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Riedi Hunold

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