Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.491/2015
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_491/2015

Urteil vom 24. September 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Lanz.

Verfahrensbeteiligte
 A.________, vertreten durch Advokat Marco Albrecht,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Basel-Landschaft, Hauptstrasse 109, 4102 Binningen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 16.
April 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1960 geborene A.________ war als Kranführer tätig. Im Februar 2002 meldete
er sich bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle
Basel-Landschaft sprach ihm nach medizinischen Abklärungen mit Verfügung vom 1.
August 2003 rückwirkend ab Januar 2002 bei einem Invaliditätsgrad von 100% eine
ganze Invalidenrente zu. Dies bestätigte sie auf die vom Vorsorgeversicherer
erhobene Einsprache hin mit Entscheid vom 21. August 2003. Nach Einholen eines
polydisziplinären Gutachtens der medizinischen Gutachterstelle B.________ vom
19. Juni 2014 hob die IV-Stelle mit Verfügung vom 10. Dezember 2014 die Rente
gestützt auf lit. a Abs. 1 der Schlussbestimmungen zur 6. IV-Revision, erstes
Massnahmenpaket, vom 18. März 2011 (in Kraft getreten am 1. Januar 2012;
nachfolgend: SchlBest.) auf den ersten Tag des zweiten der Verfügungszustellung
folgenden Monats auf.

B. 
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht
Basel-Landschaft nach Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege mit Entscheid
vom 16. April 2015 ab.

C. 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die
IV-Stelle anzuweisen, die bisherige Rente weiterhin auszurichten. Eventuell sei
vorgängig ein unabhängiges Gutachten anzuordnen. Zudem sei die unentgeltliche
Rechtspflege für das letztinstanzliche Verfahren zu bewilligen.
Es wird kein Schriftenwechsel durchgeführt.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
280 mit Hinweis).
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Streitig und zu prüfen ist, ob die seit Januar 2002 ausgerichtete
Invalidenrente zu Recht in Anwendung von lit. a Abs. 1 SchlBest. aufgehoben
wurde.
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen zu den Begriffen Invalidität und
Erwerbsunfähigkeit sowie zur Bemessung der Invalidität von erwerbstätigen
Versicherten mittels Einkommensvergleich zutreffend dargelegt. Gleiches gilt
für die gesetzliche Regelung der (ordentlichen) Revision der Invalidenrente
nach Art. 17 Abs. 1 ATSG und der Revision nach lit. a SchlBest. in Verbindung
mit Art. 7 ATSG. Richtig dargestellt ist auch die Rechtsprechung zur
invalidisierenden Wirkung anhaltender somatoformer Schmerzstörungen und
vergleichbarer psychosomatischer Leiden im Sinne der sog.
Überwindbarkeitsrechtsprechung (BGE 130 V 352; 131 V 49; vgl. auch BGE 139 V
547) sowie zur Aufgabe von Arzt oder Ärztin bei der Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit, zu den Anforderungen an beweiswertige ärztliche Berichte und
Gutachten und zum Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Darauf wird verwiesen.
Zu erwähnen bleibt, dass das Bundesgericht zwischenzeitlich zur
invalidisierenden Wirkung psychosomatischer Leiden das Grundsatzurteil 9C_492/
2014 vom 3. Juni 2015 (BGE 141 V 281) erlassen hat.

3. 
Gemäss lit. a Abs. 1 SchlBest. werden Renten, die bei
pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne
nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden, innerhalb von drei Jahren
nach Inkrafttreten dieser Änderung überprüft. Sind die Voraussetzungen nach
Art. 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die Rente herabgesetzt oder aufgehoben, auch
wenn die Voraussetzungen von Art. 17 Abs. 1 ATSG nicht erfüllt sind. Gemäss
Abs. 4 findet Abs. 1 keine Anwendung auf Personen, die im Zeitpunkt des
Inkrafttretens dieser Änderung das 55. Altersjahr zurückgelegt haben oder im
Zeitpunkt, in dem die Überprüfung eingeleitet wird, seit mehr als 15 Jahren
eine Rente der Invalidenversicherung beziehen.
Nach Art. 7 Abs. 2 ATSG sind für die Beurteilung des Vorliegens einer
Erwerbsunfähigkeit ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen
Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsunfähigkeit liegt zudem nur
vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist.

4. 
Das kantonale Gericht hat erkannt, dass die IV-Stelle die Rente mit
Einspracheentscheid vom 21. August 2003 hauptsächlich wegen eines
pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildes ohne
nachweisbare organische Grundlage zugesprochen hat und demnach lit. a SchlBest.
anwendbar ist, zumal keine Ausschlussgründe gemäss Abs. 4 dieser Bestimmung
gegeben sind.
Bei der vorzunehmenden Prüfung, ob ein rentenbegründender Gesundheitsschaden
vorliegt, ist die Vorinstanz gestützt auf das Gutachten der medizinischen
Gutachterstelle B.________ vom 19. Juni 2014 zum Ergebnis gelangt, es bestehe
eine volle Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit.

4.1. Im Gutachten der medizinischen Gutachterstelle B.________ werden aus
somatomedizinischer Sicht im Wesentlichen folgende Diagnosen mit Auswirkungen
auf die Arbeitsfähigkeit gestellt: Mundbodenkarzinom rechts (ICD-10: C04.8) bei
Zustand nach operativen Eingriffen und Radiotherapie in den Jahren 2001 und
2002; intermittierende Schwindelsymptomatik (ICD-10: H82); chronisches
lumbovertebrales Schmerzsyndrom ohne fassbare radikuläre Symptomatik (ICD-10:
M54.5); chronisch intermittierendes zervikovertebrales Schmerzsyndrom ohne
fassbare radikuläre Symptomatik (ICD-10: M54.2). Die medizinischen Experten
erachten den Versicherten unter Berücksichtigung dieser Leiden für eine
körperlich leichte, wechselbelastende Tätigkeit ohne hohe
Kommunikationsanforderungen und Absturzgefährdung als zu 100% arbeits- und
leistungsfähig. Diese fachärztlichen Feststellungen wie auch die darauf
beruhende Beurteilung des kantonalen Gerichts werden nicht bestritten.

4.2. Nebst den somatischen Beschwerden wird im Gutachten der medizinischen
Gutachterstelle B.________ eine Schmerzverarbeitungsstörung (ICD-10: F54)
diagnostiziert. Eine andere psychiatrische Diagnose könne nicht gestellt
werden. Eine ängstliche depressive Anpassungsstörung stellte der psychiatrische
Experte nicht mehr fest. Das psychische Zustandsbild habe sich daher gebessert.
Der Gutachter erachtet die Arbeitsfähigkeit nicht als eingeschränkt.

4.2.1. Das kantonale Gericht hat gestützt auf die fachärztliche Einschätzung
erwogen, dass keines der Zusatzkriterien, welche nach der
Überwindbarkeitsrechtsprechung gegebenenfalls auf ein auch mit zumutbarer
Willensanstrengung nicht überwindbares Leiden schliessen liessen (BGE 130 V 352
E. 2.2.3 S. 354 f.), gegeben sei.
Der Versicherte bringt vor, die Gutachter begründeten die
Überwindbarkeitsvermutung nicht weiter. Insbesondere werde nicht darauf
eingegangen, dass er es angesichts eines Bezugs der Rente seit rund 14 Jahren
viel schwerer haben werde, die Schmerzstörung - wenn überhaupt möglich - zu
überwinden. Immerhin habe er eine lebensbedrohende Tumorkrankheit überwinden
müssen. Angesichts der Tatsache, dass er keine Zähne mehr habe und nicht normal
essen könne, werde er täglich an diese Krankheit erinnert. Die Folgen der
Krankheit behinderten ihn im normalen Leben schwer. Nicht zu übersehen sei auch
die Gefahr eines Rückfalls. Der psychiatrische Experte hat indessen in Kenntnis
der geltend gemachten Umstände eine psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit
ausdrücklich verneint. Er hat dies überzeugend begründet. Die Vorinstanz hat
daher zu Recht auf das Gutachten abgestellt. Dass sich der psychiatrische
Gutachter nicht auch ausdrücklich zu allen Kriterien der Überwindbarkeitspraxis
geäussert hat, ändert hieran nichts. Im Übrigen macht der Versicherte nicht
geltend, eines oder mehrere dieser Zusatzkriterien seien erfüllt.
Im Lichte der bisherigen Rechtsprechung ist der vorinstanzliche Entscheid somit
nicht zu beanstanden. Das Vorbringen des Beschwerdeführers, die Vorinstanz
hätte aufgrund seines Alters und der Dauer des Rentenbezuges die Prinzipien des
Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit besonders berücksichtigen müssen,
rechtfertigt keine andere Betrachtungsweise. Weder der eine noch der andere
Umstand schafft einen Vertrauenstatbestand, der eine weitere Rentenausrichtung
trotz fehlender Invalidität zu rechtfertigen vermöchte (Urteil 8C_274/2015 vom
25. Juni 2015 E. 2; vgl. auch BGE 140 V 514 E. 3.5 S. 519). Daran ändert auch
nichts, dass der Versicherte relativ kurz vor Erreichen der Ausschlussgründe
gemäss lit. a Abs. 4 SchlBest. stand.

4.2.2. Die Überprüfung nach BGE 141 V 281 führt zu keinem anderen Ergebnis.
Hervorzuheben ist, dass auch die fachgerecht gestellte Diagnose der anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung oder eines vergleichbaren psychosomatischen Leidens
nur dann zur Feststellung einer invalidenversicherungsrechtlich erheblichen
Gesundheitsbeeinträchtigung führt, wenn die Diagnose auch unter dem
Gesichtspunkt der Ausschlussgründe nach BGE 131 V 49 standhält (BGE 141 V 281
E. 2.2 S. 287, E. 4.2 S. 298). Besteht im Einzelfall Klarheit darüber, dass
solche Ausschlussgründe die Annahme einer Gesundheitsbeeinträchtigung
verbieten, so besteht von vornherein keine Grundlage für eine Invalidenrente,
selbst wenn die klassifikatorischen Merkmale einer somatoformen Schmerzstörung
oder eines anderen psychosomatischen Leidens gegeben sein sollten (BGE 141 V
281 E. 2.2.2 S. 288 mit Hinweis auf Art. 7 Abs. 2 erster Satz ATSG).
Die medizinischen Akten, insbesondere das Gutachten der medizinischen
Gutachterstelle B.________ vom 19. Juni 2014, geben hiezu verlässlichen
Aufschluss. Der psychiatrische Experte der medizinischen Gutachterstelle
B.________ gelangte zum Ergebnis, dass die diagnostizierte
Schmerzverarbeitungsstörung die Arbeitsfähigkeit nicht einschränkt. Diese
einlässlich begründete fachärztliche Beurteilung überzeugt auch im Lichte von
BGE 141 V 281. Aus dem Gutachten der medizinischen Gutachterstelle B.________
ergibt sich, dass der Versicherte nicht in medizinischer Behandlung steht und
keine Schmerzmedikamente oder Psychopharmaka einnimmt. Das spricht gegen einen
invalidisierenden Gesundheitsschaden (vgl. BGE 141 V 281 E. 2.2.1 S. 287 f. mit
Hinweis auf BGE 131 V 49 E. 1.2 S. 51, auch zum Folgenden). Hinzu kommt, dass
der Beschwerdeführer gemäss Gutachten der medizinischen Gutachterstelle
B.________ im Alltag ein weitgehend normales Leben führt und nicht wesentlich
unter seinen Beschwerden leidet. Das lässt sich nicht vereinbaren mit einer
nennenswerten psychisch bedingten Einschränkung bei erwerblichen Tätigkeiten.
Der psychiatrische Gutachter geht sodann von einer ausgeprägten subjektiven
Krankheitsüberzeugung aus, welche dazu führe, dass der Versicherte wenig
Motivation zeige, sich trotz allfälliger Restbeschwerden aktiv um seine
Genesung zu bemühen und den Belastungen der Arbeitswelt auszusetzen. Der
Experte sah sich aufgrund der offensichtlich fehlenden Motivation auch
ausserstande, Vorschläge für eine berufliche Reintegration zu machen. Das steht
der Annahme eines gesetzlich vorausgesetzten objektivierbaren
Gesundheitsschadens ebenfalls entgegen (BGE 141 V 281 E. 3.7.1 S. 295 mit
Hinweis auf Art. 7 Abs. 2 ATSG; vgl. auch Urteil 9C_173/2015 vom 29. Juni 2015
E. 4.2.5 und 4.3). Zusammenfassend überzeugt die fachärztlich attestierte volle
Arbeitsfähigkeit, weswegen eine Invalidität auszuschliessen ist. Damit erübrigt
sich die Durchführung eines strukturierten Beweisverfahrens nach den
Standardindikatoren gemäss BGE 141 V 281 E. 4 S. 296 ff. (Urteil 9C_173/2015 E.
4.3). Die Beschwerde ist abzuweisen.

5. 
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art.
66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der
vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen
Verbeiständung) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen ist,
die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung durch
einen Rechtsanwalt geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen
ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte
Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im
Stande ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Advokat
Marco Albrecht wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 1500.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 24. September 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Lanz

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben