Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.486/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     

{T 0/2}
                   
8C_486/2015

Urteil vom 30. November 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiber Jancar.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Michael Grimmer,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Arbeitsunfähigkeit; Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 15. Mai 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1980 geborene A.________ war seit 24. August 2007 als arbeitslos gemeldet.
Am 22. November 2007 wurde sie als Fussgängerin von einem Auto angefahren.
Hierbei erlitt sie eine laterale Tibiakopfspalt-Impressionsfraktur und eine
Schädelprellung mit Rissquetschwunde supraorbital rechts. Am 27. November 2007
wurde die Versicherte im Spital B.________ operiert (offene Reposition,
Spongiosaplastik und Plattenosteosynthese am lateralen Tibiakopf rechts). In
diesem Spital erfolgten im April 2008 eine Arthroskopie und am 6. November 2008
die Osteosynthesematerialentfernung am Knie rechts. Am 21. Januar 2009 meldete
sie sich bei der IV-Stelle des Kantons Zürich zum Leistungsbezug an. Dr. med.
C.________, Facharzt FMH für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des
Bewegungsapparats, nahm am 24. April 2009 eine Arthroskopie mit Knorpelglättung
lateral/Gelenktoilette, am 29. Mai 2009 eine infrakondyläre zuklappende
Varisations-Osteotomie und am 5. März 2010 eine Arthroskopie mit
Osteosynthesematerialentfernung an der proximalen Tibia, Patellazentrierung
durch medialen Release, lateraler Retinaculum-Raffung und Narbenkorrektur am
Knie rechts vor. Am 7. Juni 2011 wurde im D.________, eine Kniearthroskopie
rechts (mit Innen- und Aussenmeniskusteilresektion, Reduktion der tibialen
Gelenksstufe nach proximaler Tibiafraktur, Teilsynovektomie, Entfernung freier
Gelenkkörper, Knorpelglättung retropatellär und im Bereich beider
Belastungszonen, Einlage einer Redon-Drainage) durchgeführt. Mit Verfügung vom
22. Januar 2014 sprach die IV-Stelle der Versicherten vom 1. Juli 2009 bis 30.
September 2010 eine ganze Invalidenrente zu (Invaliditätsgrad 100 %); danach
verneinte sie einen Rentenanspruch, da der Invaliditätsgrad nur noch 13 %
betrage.

B. 
In teilweiser Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde änderte das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Verfügung insoweit ab, als es
feststellte, dass die Versicherte ab 1. Juli 2009 Anspruch auf eine ganze
Invalidenrente und ab 1. Oktober 2010 bis 31. August 2012 Anspruch auf eine
halbe Invalidenrente habe (Entscheid vom 15. Mai 2015).

C. 
Mit Beschwerde beantragt die Versicherte, in teilweiser Aufhebung des
kantonalen Entscheides sei ihr ab 1. September 2012 eine unbefristete, halbe
Invalidenrente auszurichten.
Die IV-Stelle schliesst auf Beschwerdeabweisung. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D. 
Die unfallversicherungsrechtliche Streitigkeit ist Gegenstand des
Parallelverfahrens 8C_487/2015, das ebenfalls mit heutigem Rückweisungsurteil
erledigt wurde.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt
werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem
Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E.
2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Rechtsfragen sind
die vollständige Feststellung erheblicher Tatsachen sowie die Beachtung des
Untersuchungsgrundsatzes bzw. der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c
ATSG und der Anforderungen an den Beweiswert von Arztberichten. Die aufgrund
dieser Berichte gerichtlich festgestellte Gesundheitslage bzw. Arbeitsfähigkeit
und die konkrete Beweiswürdigung sind Sachverhaltsfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2
S. 397; nicht publ. E. 4.1 des Urteils BGE 135 V 254, veröffentlicht in SVR
2009 IV Nr. 53 S. 164 [9C_204/2009]).

2. 
Die Vorinstanz hat die Grundlagen über die Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG),
die Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG; Art. 4 Abs. 1 IVG), den
Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG), den Rentenanspruch (Art. 28 Abs. 2 IVG) und
die analoge Anwendung der Revisionsregeln (Art. 17 Abs. 1 ATSG; Art. 88a IVV)
bei rückwirkender Zusprechung einer abgestuften und/oder befristeten
Invalidenrente (nicht publ. E. 4.3.1 des Urteils BGE 137 V 369, in SVR 2012 IV
Nr. 12 S. 61 [9C_226/2011]; BGE 133 V 263 E. 6.1) richtig dargelegt. Gleiches
gilt zum Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232, 125 V 351).
Darauf wird verwiesen.

3. 
Die Vorinstanz erwog im Wesentlichen, die Berichte der Dres. med. E.________,
Facharzt für Chirurgie FMH, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und
Traumatologie des Bewegungsapparats, und F.________, Facharzt für Orthopädische
Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparats, beide SUVA
Versicherungsmedizin, vom 6. Mai 2013, 22. Juli 2013, 28. Oktober 2013 und 28.
April 2014 erfüllten die praxisgemässen Anforderungen an eine medizinische
Expertise, weshalb darauf abzustellen sei. Demnach könne die Versicherte keine
kniebelastende Tätigkeit mehr verrichten, aber eine angepasste Tätigkeit noch
vollzeitlich ausüben. Dr. med. G.________, Spezialarzt FMH für Orthopädische
Chirurgie, begründe in den Berichten vom 30. August 2012, 31. Mai 2013, 4.
September 2013, 14. März 2014 und 9. Juli 2014 die von ihm postulierte 50%ige
Arbeitsunfähigkeit einzig damit, die Versicherte bedürfe vermehrter Pausen,
müsse sie doch auch beim unbelasteten normalen Stehen, Gehen und Sitzen - wegen
Schmerzen - nach gut 10 Min. die Haltung wechseln und liessen sich diese
längerfristig nicht allein dadurch beherrschen; nötig seien längere Pausen der
vollständigen Entlastung, in denen sie liegen müsse. Dr. med. G.________ könne
nicht gefolgt werden. Die Ärzte seien sich einig, dass nach 15 Min.
grundsätzlich ein Haltungswechsel nötig werde. Gehe man von der Zumutbarkeit
einer grundsätzlich sitzenden Tätigkeit aus, welche die Möglichkeit biete,
aufzustehen (z.B. mit Arbeit an einem Stehpult) und umherzugehen, könne die
Versicherte durch Verwendung einer Beinstütze auch während der Arbeit (z.B. am
Computer oder am Telefon) die Position einnehmen, die Dr. med. G.________
verlange und eine gestreckte Beinhaltung ermögliche. Dass die Versicherte
deswegen den halben Arbeitstag liegen müsste, sei nicht nachvollziehbar und und
auch nicht derart geschildert worden. Dass es ihr sehr wohl möglich sei, das
Bein auch längerdauernd in sitzender Haltung zu belassen, zeige der Umstand,
dass sie regelmässig nach Portugal reise. Der Flug dauere - sofern sie nicht
gar den Landweg benutze - 2 1/2 Stunden. Die Annahme einer vollumfänglichen
Arbeitsfähigkeit in angepasster Tätigkeit rechtfertige sich ab 29. Mai 2012,
als der SUVA-Kreisarzt Prof. Dr. med. H.________, Facharzt für Orthopädische
Chirurgie und Unfallchirurgie FMH, im Bericht vom 8. Mai 2012 das vom
SUVA-Kreisarzt Dr. med. I.________, Facharzt für Physikalische Medizin und
Rehabilitation, im Bericht vom 14. Juni 2010 erstellte Zumutbarkeitsprofil
bestätigt habe.

4.

4.1.

4.1.1. Zwischen den Beurteilungen der Dres. med. E.________ und F.________
einerseits sowie G.________ andererseits besteht eine erhebliche Diskrepanz
nicht nur bezüglich des Grades der Arbeitsfähigkeit, sondern auch hinsichtlich
der Befunde. Unter anderem ist die Schwere der Kniearthrose rechts umstritten.
Zudem ging Dr. med. G.________ von einer relevanten Beinverkürzung rechts von
gut 2 cm aus, während die Dres. med. E.________ und F.________ ausführten, es
liege weder eine reelle noch eine funktionelle Beinverkürzung vor.

4.1.2. Im Weiteren beruft sich die Versicherte auf die von Dr. med. G.________
festgestellten Beschwerden im rechten Fuss, in der rechten Hüfte, im Becken, im
Iliosakralgelenk (ISG) und im Rücken. Die Fussproblematik rechts wurde von den
Dres. med. E.________ und F.________ als unfallkausal taxiert und damit bei
ihrer Schätzung der Arbeitsfähigkeit einbezogen.

Hingegen gaben die beiden Letzteren an, sie hätten bei der Versicherten
statische Veränderungen im Rückenbereich gefunden, namentlich eine ventrale
Beckenkippung, eine lumbale Hyperlordose und einen thorakalen Flachrücken;
hierbei handle es sich um wachstumsbedingte, oft familiäre Formvarianten des
Achsenskeletts, die gehäuft zur Schmerzproblematik im Rücken und im ISG
führten; der ganze Beschwerdekomplex sei überwiegend wahrscheinlich nicht Folge
des Unfalls vom 22. November 2007, sondern dieser Haltungsveränderungen des
Achsenskeletts. Demnach haben die Dres. med. E.________ und F.________ diese
Problematik bei ihrer Arbeitsfähigkeitsschätzung nicht berücksichtigt. Gleiches
gilt betreffend die von der Vorinstanz angeführten SUVA-Kreisärzte Prof. Dr.
med. H.________ und Dr. med. I.________ (vgl. E. 3 hievor). Die
Invalidenversicherung als finale Versicherung hat indessen im Unterschied zur
Unfallversicherung sämtliche Leiden der Versicherten unabhängig von ihrer
Ursache zu berücksichtigen (BGE 124 V 174 E. 3b S. 178; SVR 2011 IV Nr. 55 S.
163 E. 4.5.6 [8C_671/2010]; Urteil 8C_371/2013 vom 28. November 2013 E. 4.4).

4.1.3. Entgegen der Vorinstanz ist weiter festzuhalten, dass die Berichte der
SUVA-Ärzte Dres. med. E.________ und F.________ nicht im gesetzlich
vorgesehenen Verfahren für die Anordnung von Gutachten eingeholt wurden (vgl.
Art. 44 ATSG; BGE 137 V 210), weshalb sie auch nicht als solche gewertet werden
können. Da sie ihre Berichte zu Handen der SUVA erstellten, kommt ihnen
vielmehr der Beweiswert versicherungsinterner ärztlicher Feststellungen zu.
Dies gilt auch für die Berichte der SUVA-Kreisärzte Prof. Dr. med. H.________
und Dr. med. I.________. Wenn auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit
und Schlüssigkeit versicherungsinterner ärztlicher Berichte bestehen, ist eine
versicherungsexterne Begutachtung anzuordnen (BGE 139 V 225 E. 5.2 S. 229 mit
Hinweis). Solche Zweifel bestehen aufgrund der Ausführungen des von der
Versicherten ins Feld geführten Dr. med. G.________ allemal. Dieser ist nicht
ihr behandelnder Arzt, weshalb auch nicht gesagt werden kann, er argumentiere
aufgrund auftragsrechtlicher Vertrauensstellung im Zweifelsfall eher zu ihren
Gunsten (BGE 135 V 465 E. 4.5. S. 470).

4.2. Die Versicherte beruft sich auf einen Bericht der Frau Dr. med.
J.________, Neurologie FMH, vom 26. August 2014. Hierin wurde ausgeführt, die
elektrophysiologischen Befunde zeigten eine leichtgradige axonale Läsion des N.
peronaeus superficialis rechts. Ursache der residualen neuropathischen
Beschwerden im proximalen Anteil des rechten lateralen Unterschenkels sei eine
leichtgradige Neuropathie des N. peronaeus superficialis rechts. Die Vorinstanz
erwähnte zwar diesen Bericht, nahm aber zu der dort angeführten neurologischen
Problematik im Hinblick auf die Arbeitsfähigkeit materiell nicht Stellung.

4.3. Die Versicherte bringt vor, sie unternehme ausschliesslich Flugreisen nach
Portugal. Bei solchen Flügen müsse lediglich während der ca. 10 bis max.
15-minütigen Start- und Landephase gesessen werden. Dazwischen könne sie
aufstehen und ein paar Schritte gehen. Der Flug dauere in etwa wie die von Dr.
med. G.________ empfohlene Arbeitszeit, die sie an einen Stück leisten könne.
Längere Bus- oder Autofahren unternehme sie nicht. Da Gegenteiliges nicht
bewiesen ist, ist der vorinstanzliche Verweis auf die Reisen der Versicherten
nicht stichhaltig.

4.4. Nach dem Gesagten kann auf die Beurteilungen der SUVA-Ärzte Dres. med.
E.________, F.________ und I.________ sowie Prof. Dr. med. H.________ nicht
abgestellt werden. Die Angaben der von der Versicherten angerufenen Berichte
der Dres. med. G.________ und J.________ können ebenfalls nicht als
Beurteilungsgrundlage dienen. Demnach ist die Sache an die IV-Stelle
zurückzuweisen, damit sie eine versicherungsexterne medizinische Begutachtung
der Versicherten veranlasse und gestützt hierauf über ihren Leistungsanspruch
neu verfüge.

5. 
Die unterliegende IV-Stelle trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68
Abs. 2 BGG; BGE 141 V 281 E. 11.1 S. 312).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 15. Mai 2015 und die
Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 22. Januar 2014 werden
aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons
Zürich zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 30. November 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Jancar

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