Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.462/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_462/2015

Urteil vom 9. September 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiberin Berger Götz.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger,
Beschwerdeführerin,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung (Kausalzusammenhang),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts Luzern
vom 19. Mai 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1967 geborene A.________ war seit 12. Juli 2005 als Wäschereiarbeiterin für
die B.________ SA tätig und in dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Unfällen und
Berufskrankheiten versichert. Am 13. Juli 2005 brannte das Haus nieder, in
welchem sie mit ihrem Ehemann wohnte. Gemäss Bericht des Dr. med. C.________,
Spezialarzt FMH Innere Medizin, trat bei A.________ ein posttraumatisches
Stresssyndrom auf, nachdem das Ehepaar nur knapp durch die Feuerwehr über ein
Fenster vor den Flammen gerettet werden konnte. Die SUVA gewährte
Heilbehandlung und richtete Taggelder aus. Mit Verfügung vom 26. Juni 2007
schloss sie den Fall per 13. Juli 2007 ab und stellte die Taggeld- und
Heilkostenleistungen ein mit der Begründung, der natürliche Kausalzusammenhang
sei zwei Jahre nach dem Unfall nicht mehr gegeben. Nachdem A.________ dagegen
Einsprache erhoben hatte, holte die SUVA das psychiatrische Gutachten des Dr.
med. D.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 2. Mai
2013 ein und verschob im Anschluss daran die Einstellung der
Versicherungsleistungen auf den 30. September 2013 (Verfügung vom 21. Juli
2013). Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 11.
Dezember 2013).

B. 
Das Kantonsgericht Luzern wies die dagegen erhobene Beschwerde ab (Entscheid
vom 19. Mai 2015).

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, die SUVA habe ab 1. Oktober 2013 weiterhin die gesetzlichen
Leistungen zu erbringen und insbesondere eine Rente und eine angemessene
Integritätsentschädigung auszurichten.
Auf die Durchführung eines Schriftenwechsels wird verzichtet.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Im
Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der
Militär- oder der Unfallversicherung ist das Bundesgericht - anders als in den
übrigen Sozialversicherungsbereichen (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 1 und 2
BGG) - nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen
Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). Es wendet das
Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), prüft indessen - unter
Beachtung der Begründungspflicht in Beschwerdeverfahren (Art. 42 Abs. 1 und 2
BGG) - grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen
Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 280; vgl.
auch BGE 140 V 136 E. 1.1 S. 138). Es ist weder an die in der Beschwerde
geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es
kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen
oder es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden
Begründung abweisen (BGE 140 V 136 E. 1.1 S. 137 f.).

2. 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zum Unfallbegriff
nach Art. 4 ATSG, zu schreckbedingten plötzlichen Einflüssen auf die Psyche als
Einwirkungen auf den menschlichen Körper im Sinne des Unfallbegriffs (sog.
Schreckereignisse; zur Definition: BGE 129 V 177 E. 2.1 S. 179 f.; SVR 2009 UV
Nr. 20 S. 75, 8C_533/2008 E. 2.2; 2008 UV Nr. 7 S. 22, U 548/06 E. 2.2) und zum
für die Leistungspflicht des Unfallversicherers gemäss Art. 6 Abs. 1 UVG
vorausgesetzten natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang bei psychischer
Schädigung nach einem Schreckereignis - Prüfung der Adäquanz nach der
allgemeinen Formel: "gewöhnlicher Lauf der Dinge und allgemeine
Lebenserfahrung" (BGE 129 V 177; nicht publ. E. 6.1 des Urteils BGE 140 V 356,
in SVR 2014 UV Nr. 25 S. 81 [8C_51/2014]) - zutreffend dargelegt. Darauf wird
verwiesen.

3.

3.1. Das kantonale Gericht geht gestützt auf das Polizeiprotokoll vom 14.
September 2005 und die Aussagen der Versicherten davon aus, dass diese am 13.
Juli 2005 um ungefähr sieben Uhr morgens durch Menschenrufe aufgeweckt worden
sei. Durch das Fenster habe sie Feuerwehrpersonal und weitere Personen sehen
können. Folglich habe sie das Geschehen erst mitbekommen, als die Feuerwehr
bereits vor Ort gewesen sei. Sie habe denn auch davon ausgehen können, dass sie
durch das vorhandene Rettungspersonal in Sicherheit gebracht werden würde. Die
Westseite des Wohnhauses sei in jenem Zeitpunkt in Vollbrand gestanden und fast
das ganze Haus sei mit Rauch gefüllt gewesen. Die Beschwerdeführerin habe aber
von der Feuerwehr durch das Fenster evakuiert werden können. Das Ereignis und
die von ihr geschilderte Angst seien somit nur von kurzer Dauer gewesen.
Ausserdem hätten weder sie noch eine Drittperson einen erheblichen
Körperschaden erlitten. Dem Hausbrand könne zwar eine gewisse Eindrücklichkeit
nicht abgesprochen werden. Dennoch erscheine dieser nach der allgemeinen
Lebenserfahrung und dem gewöhnlichen Lauf der Dinge - unter Berücksichtigung
der weiten Bandbreite der Versicherten - nicht geeignet, eine psychische
Störung mit langfristiger vollständiger Erwerbsunfähigkeit herbeizuführen. Die
übliche und einigermassen typische Reaktion auf ein solches Ereignis dürfte
vielmehr darin bestehen, dass zwar eine Traumatisierung stattfinde, diese aber
vom Opfer in aller Regel innert einiger Wochen oder Monate überwunden werde.
Zudem vermöge das Erleben von Todesangst an sich keine adäquate Kausalität zu
begründen. Die andauernde psychische Störung könne daher nicht mehr in einem
weiten Sinn als angemessene und einigermassen typische Reaktion auf das
Ereignis bezeichnet werden. Fehle es somit am adäquaten Kausalzusammenhang, so
habe die Beschwerdegegnerin ihre Leistungen zu Recht auf den 30. September 2013
eingestellt. Es könne demzufolge offen bleiben, ob ein aussergewöhnliches
Schreckereignis und damit ein Unfall vom Sinne von Art. 4 ATSG vorliege, und ob
zwischen dem Ereignis vom 13. Juli 2005 und den psychischen Beschwerden ein
natürlicher Kausalzusammenhang gegeben sei.

3.2. Die Beschwerdeführerin wendet ein, das kantonale Gericht habe das Ereignis
verharmlost. Es sei zu berücksichtigen, dass sie frühmorgens durch ein
absolutes Horrorszenario geweckt worden sei, in stickigem Rauch und umgeben von
lodernden Flammen. Ohne die externen Rettungskräfte hätte sie keine Chance
gehabt, das schreckliche Ereignis zu überleben. Sie sei den Flammen und dem
Rauch dermassen ausgeliefert gewesen, dass sie der Überzeugung gewesen sei, sie
werde bei lebendigem Leib verbrennen - keine Sekunde habe sie Gewissheit
gehabt, dass sie rechtzeitig gerettet werde. Bei der Rettung aus dem dritten
Obergeschoss habe sich die Westseite des Objektes im Vollbrand befunden und
beinahe das ganze Haus sei mit Rauch gefüllt gewesen.
Entgegen der Ansicht der Versicherten stellt die Vorinstanz eine gewisse
Eindrücklichkeit des Ereignisses nicht in Frage. D ie Beschwerdeführerin weist
jedoch selber darauf hin, dass die Feuerwehr schnell vor Ort gewesen sei. Sie
bestreitet nicht, dass sie erst durch die Rufe der Menschen geweckt worden war
und - unmittelbar nach dem Aufwachen - das Feuerwehrpersonal durch das Fenster
sehen konnte. Es ist nachvollziehbar, dass sie den Hausbrand und ihre Situation
in jenem Moment der Ungewissheit über das Gelingen der Rettung subjektiv als
bedrohlich empfand. Das Aufwachen in einem brennenden Haus mit unmittelbar
darauf folgender professioneller Rettung durch die Feuerwehr war mit Blick auf
die gesamten Umstände nach der hier massgebenden allgemeinen Adäquanzformel
(vgl. E. 2 hiervor) - unter Berücksichtigung einer "weiten Bandbreite" von
Versicherten - durchaus geeignet, eine vorübergehende psychische Störung mit
der Folge einer Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit zu verursachen. Es
ist der Beschwerdeführerin beizupflichten, dass von einem Schreckereignis
auszugehen ist. Die SUVA hat denn auch zunächst Versicherungsleistungen
erbracht und diese erst auf den 30. September 2013, somit über acht Jahre nach
dem Hausbrand, eingestellt. Verglichen mit ähnlichen Geschehnissen muss dem
Trauma, welches die Versicherte am 13. Juli 2005 erlebte, jedoch gemessen an
der allgemeinen Lebenserfahrung die Eignung abgesprochen werden, auch nach mehr
als acht Jahren noch eine anhaltende Erwerbsunfähigkeit zu verursachen (vgl.
BGE 129 V 177 E. 4.3 S. 185; Urteil 8C_469/2014 vom 4. August 2015 E. 6). Die
psychische Störung und die lang andauernde Erwerbsunfähigkeit können daher
nicht mehr in einem weiten Sinne als angemessene und einigermassen typische
Reaktion auf das Schreckereignis bezeichnet werden. Damit hat die Vorinstanz
den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen Ereignis und psychischen Beschwerden
für die in Frage stehende Zeit im Ergebnis zu Recht verneint. Soweit die
Versicherte geltend macht, das Gutachten des Dr. med. D.________ sei
"weitestgehend durch die damals noch geltende Überwindbarkeitspraxis des
Bundesgerichtes geprägt", ist sie darauf hinzuweisen, dass die
Adäquanzbeurteilung nicht medizinischer, sondern rechtlicher Natur ist (BGE 134
V 109 E. 6.2.1 S. 117). Schliesslich kann sie auch aus dem Hinweis auf das in
SVR 2008 UV Nr. 7 S. 22, U 548/06, publizierte Urteil des Bundesgerichts zur
Adäquanz bei psychischer Schädigung nach einem Seebeben nichts zu ihren Gunsten
ableiten. Denn anders als dort war für die Beschwerdeführerin in dem Zeitpunkt,
als sie sich nach dem Aufwachen der Gefahr gewahr wurde, in welcher sie sich
befand, Hilfe bereits in Sicht, um nur einen der relevanten Unterschiede
zwischen den beiden Konstellationen zu nennen. Es bleibt demzufolge bei der
vorinstanzlich bestätigten Leistungseinstellung.

4. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten (Art. 65 Abs. 1 und
Abs. 4 lit. a BGG) von der Beschwerdeführerin als unterliegender Partei zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. September 2015
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz

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