Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.412/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_412/2015

Urteil vom 5. November 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Fürsprecher Christoph Rutschi,
Beschwerdeführerin,

gegen

 Helsana Unfall AG, Recht, Postfach, 8081 Zürich Helsana,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 14.
April 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________ wurde in der Nacht auf den 29. August 2008 im Liegewagenabteil eines
von Basel nach Köln fahrenden Zugs Opfer einer Vergewaltigung (rechtskräftiges
Strafurteil des Landgerichts Koblenz/Deutschland vom ........). Die Helsana
Unfall AG übernahm als zuständiger Unfallversicherer Leistungen in Form von
Heilbehandlung und Taggeld und liess A.________ psychiatrisch begutachten
(Expertise der Frau Dr. med. B.________, FMH Psychiatrie und Psychotherapie,
vom 5. September 2012). Nach gescheiterten Vergleichsverhandlungen verneinte
die Helsana Unfall AG mit Verfügung vom 23. September 2013 die adäquate
Kausalität der weiterhin bestehenden Beschwerden und stellte ihre Leistungen
per 28. Februar 2013 (Taggeld) und 31. August 2013 (Heilbehandlung) ein, wobei
sie mangels echtzeitlichen Arbeitsunfähigkeitsattesten in der Zeit vom 6.
Oktober 2008 bis 2. Juni 2010 kein Taggeld gewährte. Gleichzeitig verneinte sie
einen Anspruch auf Invalidenrente und Integritätsentschädigung sowie auf
Übernahme von Kosten im Zusammenhang mit dem therapeutischen/begleiteten Wohnen
der Versicherten. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 4. März 2014
fest.

B. 
In teilweiser Gutheissung der dagegen geführten Beschwerde hob das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern den Einspracheentscheid vom 4. März 2014
insoweit auf, als ein Taggeldanspruch ab 1. März 2013 verneint wurde. Es wies
die Sache zur Abklärung im Sinne der Erwägungen und neuer diesbezüglicher
Verfügung an die Helsana Unfall AG zurück (Entscheid vom 14. April 2015).

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, der vorinstanzliche Entscheid sei insoweit aufzuheben, als der
Leistungsanspruch über den 31. August 2013 verneint werde. Es seien ihr die
gesetzlichen Leistungen über dieses Datum hinaus zuzusprechen. Ferner wird um
unentgeltliche Rechtspflege ersucht.
Die Helsana Unfall AG schliesst auf Abweisung der Beschwerde, das Bundesamt für
Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
280; vgl. auch BGE 141 V 236 E. 1 S. 236; 140 V 136 E. 1.1 S. 137 f.).
Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen
der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die
vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art.
97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2.

2.1. Praxisgemäss werden schreckbedingte plötzliche Einflüsse auf die Psyche
(sog. Schreckereignisse; zur Definition: BGE 129 V 177 E. 2.1 S. 179 f.;
Urteile 8C_533/2008 vom 26. November 2008 E. 2.2 in: SVR 2009 UV Nr. 20 S. 75,
U 548/06 2008 vom 20. September 2007 E. 2.2 in: SVR 2008 UV Nr. 7 S. 22) als
Einwirkungen auf den menschlichen Körper im Sinne des Unfallbegriffs (Art. 4
ATSG) anerkannt. Das Begriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit vermögen nur
aussergewöhnliche Schreckereignisse, die mit einem ausserordentlichen
psychischen Schock verbunden sind, zu erfüllen (Rumo-Jungo/ Holzer,
Bundesgesetz über die Unfallversicherung [UVG], 4. Aufl. 2012, S. 46). Die
seelische Einwirkung muss durch einen gewaltsamen, in der unmittelbaren
Gegenwart des Versicherten sich abspielenden Vorfall ausgelöst werden und in
ihrer überraschenden Heftigkeit geeignet sein, auch bei einem gesunden Menschen
durch Störung des seelischen Gleichgewichts typische Angst- und
Schreckwirkungen (wie Lähmungen, Herzschlag etc.) hervorzurufen (Urteil 8C_159/
2011 vom 11. Juli 2011 E. 4.1). In Frage kommen Ereignisse - wie etwa Brand-
oder Erdbebenkatastrophen, Eisenbahn- oder Flugzeugunglücke, schwere
Autokollisionen, Brückeneinstürze, Bombenabwürfe, verbrecherische Überfälle
oder sonstige plötzliche Todesgefahren sowie Seebeben (Urteil 8C_387/2007 vom
25. Februar 2008 E. 5.2.1) -, bei denen, anders als im Rahmen der üblichen
Unfälle, die psychische Stresssituation im Vordergrund steht, wogegen dem
somatischen Geschehen keine (entscheidende) Bedeutung beigemessen werden kann
(SVR 2011 UV Nr. 10 S. 35, 8C_584/2010 E. 4.1). An den Beweis der Tatsachen,
die das Schreckereignis ausgelöst haben, an die Aussergewöhnlichkeit dieses
Ereignisses sowie den entsprechenden psychischen Schock sind strenge
Anforderungen zu stellen (Urteil 8C_341/2008 vom 25. September 2008 E. 2.3).

2.2. Die Adäquanz zwischen einem Schreckereignis und den nachfolgend
aufgetretenen psychischen Störungen ist nach der allgemeinen Formel
(gewöhnlicher Lauf der Dinge und allgemeine Lebenserfahrung) zu beurteilen (BGE
129 V 177 E. 4.2 S. 184 f.). Dabei ist mit der Vorinstanz gemäss Rechtsprechung
nicht allein auf den psychisch gesunden Versicherten, sondern auf eine weite
Bandbreite der Versicherten abzustellen. In diesem Rahmen bilden auch solche
Versicherte Bezugspersonen für die Adäquanzbeurteilung, welche im Hinblick auf
die erlebnismässige Verarbeitung eines Unfalles zu einer Gruppe mit erhöhtem
Risiko gehören, weil sie aus versicherungsmässiger Sicht auf einen Unfall nicht
"optimal" reagieren. Daraus ergibt sich, dass für die Beurteilung der Frage, ob
ein konkretes Unfallereignis als alleinige Ursache oder als Teilursache nach
dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet
ist, zu einer bestimmten psychischen Schädigung zu führen, kein allzu strenger,
sondern im dargelegten Sinne ein realitätsgerechter Massstab angelegt werden
muss (BGE 129 V 177 E. 3.3 S. 181 ff. mit Hinweisen).

3. 
Streitig und zu prüfen ist einzig, ob aufgrund des sexuellen Übergriffs vom 29.
August 2008 über den 31. August 2013 hinaus eine Leistungspflicht des
obligatorischen Unfallversicherers für die in der Folge aufgetretenen
psychischen Beschwerden besteht. Dies setzt voraus, dass die noch vorhandenen
psychischen Leiden als adäquat kausale Folge des Ereignisses anzusehen sind.
Nach dem Gesagten ist hierzu die Frage zu beantworten, ob der Übergriff
gemessen an der allgemeinen Lebenserfahrung - unter Berücksichtigung der weiten
Bandbreite der Versicherten - geeignet ist, auch nach dem 31. August 2013 eine
psychische Störung mit anhaltender Erwerbsunfähigkeit herbeizuführen.

4. 
Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur soweit vorgebracht werden, als erst
der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG; zur Geltung
dieses Grundsatzes im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung
von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung: BGE 135 V 194 E. 3.4
S. 199 f.). Solche Umstände können namentlich in formellrechtlichen Mängeln des
angefochtenen Entscheides liegen, mit denen die Partei nicht rechnete und nach
Treu und Glauben nicht zu rechnen brauchte, oder darin, dass die Vorinstanz
materiell in einer Weise urteilt, dass bestimmte Sachumstände neu und erstmals
rechtserheblich werden. Der vorinstanzliche Verfahrensausgang allein bildet
noch keinen hinreichenden Anlass im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG für die
Zulässigkeit von unechten Noven, die bereits im kantonalen Verfahren ohne
Weiteres hätten vorgebracht werden können. Das Vorbringen von Tatsachen, die
sich erst nach dem angefochtenen Entscheid ereigneten oder entstanden (echte
Noven), ist vor Bundesgericht unzulässig (Urteil 8C_273/2015 vom 12. August
2015 E. 1.2 mit Hinweis). Demnach ist der nachgereichte Bericht der
Universitären psychiatrischen Dienste, Universitätsklinik für Psychiatrie und
Psychotherapie, vom 2. Juni 2015 als echtes Novum im vorliegenden Verfahren
unbeachtlich.

5.

5.1. Das kantonale Gericht erwog, es könne offen gelassen werden, ob ein
aussergewöhnliches Schreckereignis vorliege und auch, ob das Kriterium der
Plötzlichkeit erfüllt sei. Unter Hinweis auf die praxisgemäss hohen
Anforderungen an die Adäquanz zwischen psychischen Beschwerden und
Schreckereignissen gelangte es zur Auffassung, es lägen keine Umstände vor,
welche zur Bejahung der adäquaten Kausalität zwischen den noch bestehenden
psychischen Beschwerden und dem Ereignis vom 29. August 2008 führen würden. Es
könne offen gelassen werden, ob auch nach schweizerischem Strafrecht der
Tatbestand der Vergewaltigung erfüllt sei. Die sexuellen Handlungen, die die
Beschwerdeführerin habe über sich ergehen lassen müssen (Streicheln der Brüste,
mehrmaliges Eindringen mit einem Finger in die Vagina, Küssen auf Mund, Hals
und Brust, die Abwehr der Versicherten wurde mit Gewalt überwunden), seien von
ihrer Intensität her geringer als in den vom Bundesgericht beurteilten Fällen
mit Bejahung der Adäquanz: Während das Opfer im Urteil [des damaligen Eidg.
Versicherungsgerichts] U 193/2006 vom 20. Oktober 2006 E. 2.3.2, in: Plädoyer
2007/1 S. 75 "unter Lebensbedrohung zu einer ekelerregenden sexuellen Handlung,
welche einer Vergewaltigung gleichkommt, gezwungen" wurde (die Versicherte
wurde von einem betrunkenen Unbekannten in nächtlichem Hinterhof unter Drohung
mit einem Messer zu oralem Geschlechtsverkehr genötigt), habe die Versicherte
im dem Urteil 8C_522/2007 vom 1. September 2008 E. 4.3.3 zu Grunde gelegten
Fall "ganz konkret mit einer Vergewaltigung und/oder mit dem Tod" rechnen
müssen. Im vorliegenden Fall habe weder Todesgefahr bestanden, noch habe die
Beschwerdeführerin geltend gemacht, sie habe mit dem Vollzug des
Geschlechtsverkehrs gerechnet. Die Tat sei nicht wie im Urteil 8C_522/2007 an
einem vertrauten Ort verübt worden und die Situation hätte durch das Wecken der
im gleichen Liegewagen schlafenden Kinder des Täters mittels Schreien beendet
werden können. Daher sei das Ausmass der Verletzung der sexuellen Integrität
nicht als derart massiv im Sinne der Rechtsprechung zu werten, dass es nach dem
gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet wäre,
als adäquat kausal für die weiterhin bestehenden Beschwerden zu erscheinen.
Schliesslich sei die vorbestehende Psychopathologie und die im Vergleich zu
Gesunden erhöhte Vulnerabilität insofern mitberücksichtigt worden, als die
Adäquanz erst nach Ablauf von fünf Jahren verneint worden sei.

5.2.

5.2.1. Die Beschwerdeführerin wendet dagegen ein, sie sei im Tatzeitpunkt
18-jährig und sexuell unerfahren gewesen. Sie sei durch den Vorfall in ihrer
persönlichen und sexuellen Entwicklung erheblich gestört worden. Zudem käme
erschwerend hinzu, dass ihr Entwicklungsstand im Vergleich zu Gleichaltrigen
rückständig und sie aufgrund ihrer Persönlichkeit und Biografie im Tatzeitpunkt
besonders verletzlich gewesen sei. Sie habe seit der Geburt an gesundheitlichen
Problemen gelitten und sei deshalb während der gesamten Kindheit und Jugend in
Behandlung gewesen (neonatologische Komplikationen infolge Frühgeburt,
brückenneurotische Symptome [Enuresis nocturna], Anorexie während Jugendjahren;
Psychiatrisches Gutachten vom 5. September 2012). Im Unfallzeitpunkt sei die
vorbestehende psychiatrische Problematik jedoch soweit kompensiert gewesen,
dass sie bei 100%-iger Arbeitsfähigkeit ihre Ausbildung als Tierpflegerin habe
abschliessen können. Sie habe aber erhöhte Risikofaktoren aufgewiesen,
psychisch nicht ideal auf einen sexuellen Übergriff zu reagieren, was im
Verlauf nebst einer posttraumatischen Belastungsstörung zu einer Reaktivierung
der Essstörung, mehreren ernsthaften Suizidversuchen und stationären
Aufenthalten geführt habe.

5.2.2. Die Versicherte lässt weiter zur Adäquanzfrage ausführen, die
prätraumatische Persönlichkeit, ereignisbezogene Faktoren sowie der
anschliessende Verlauf seien vorinstanzlich in bundesrechtswidriger Weise bei
der Beurteilung der Adäquanz nicht berücksichtigt worden. Der sexuelle Aspekt
sei, da das Verneinen der adäquaten Kausalität hauptsächlich mit der geringen
Intensität der Gewalt und der abverlangten sexuellen Handlungen begründet
worden sei, verharmlost worden. Sexualdelikte verletzten einen besonders
schützenswerten und sensiblen Bereich und hätten oft psychische Störungen zur
Folge, so auch hier. Zudem sei geradezu offensichtlich, dass die vorhandene
Prädisposition zur nicht optimalen Verarbeitung geführt hätten. Ihre Reaktion
sei aber nicht derart aussergewöhnlich und singulär, dass sie nicht mehr zur
erweiterten Bandbreite der Versicherten zu zählen wäre. Der Gesundheitszustand
sei ferner nicht so labil und prekär gewesen, das jederzeit mit dem Eintritt
der Schädigung zu rechnen gewesen sei, zumal sie im Tatzeitpunkt voll
arbeitsfähig gewesen sei. Trotz intensiver Behandlung mit stationären
Aufenthalten sei keine stabile Besserung des Gesundheitszustands erreicht
worden, die Adäquanz sei weiterhin zu bejahen.

6.

6.1. Eine Vergewaltigung bedeutet eine massive Verletzung der sexuellen
Selbstbestimmung sowie der psychischen und sexuellen Integrität des Opfers.
Dies gilt auch für den vorliegenden, allenfalls nach schweizerischem Strafrecht
unter die Norm von Art. 189 Strafgesetzbuch (StGB; SR 311.0; sexuelle Nötigung)
fallenden sexuellen Übergriff, zumal eine sexuelle Nötigung nach Art. 189 StGB
für das Opfer eine ähnlich schwere Beeinträchtigung bedeuten kann wie eine
Vergewaltigung, weshalb bei der zu beurteilenden Frage unerheblich ist, ob die
Versicherte noch mit dem Vollzug des Geschlechtsverkehrs hat rechnen müssen
oder nicht und ob die Tat mit physischen Verletzungen einherging. Die
Vergewaltigung löste weiter unbestrittenermassen eine unmittelbare Angst- und
Schreckreaktion aus. Es liegt - auch mit Blick auf die von der Vorinstanz
aufgeworfene Frage der Plötzlichkeit der Einwirkung auf die Psyche - ein den
Unfallbegriff erfüllendes, aussergewöhnliches Schreckereignis vor (Urteile U
548/06 vom 20. September 2007 in: SVR, 2008 UV Nr. 7 S. 22 E. 4.4, U 193/06 vom
20. Oktober 2006 in: Plädoyer 2007/1 S. 75 und 8C_522/2007 vom 1. September
2008; Myriam Schwendener, Sexuelle Gewalt als Unfall, Jusletter vom 5. März
2007), wovon auch die Beschwerdegegnerin ausgeht.

6.2. Entgegen der Ansicht des Unfallversicherers ist sodann nicht die Tat
allein entscheidend für die Beurteilung der Adäquanz. Die prätraumatische
Persönlichkeitsstruktur der versicherten Person ist - wie erwähnt - ebenfalls
insoweit miteinzubeziehen, als auch solche Versicherte Bezugspersonen für die
Adäquanzbeurteilung bilden, die im Hinblick auf die erlebnismässige
Verarbeitung eines Unfalls nicht "optimal" reagieren (E. 2.2 hievor). In diesem
Sinne ist die konstitutionelle Prädisposition der versicherten Person
gleichfalls relevant.

6.3. Die Gutachterin Dr. med. B.________ führte aus, es liege bei der
Versicherten eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1; PTBS) als
direkt traumaassoziiert zu wertender psychiatrischer Störungsanteil vor, was
seit der initialen posttraumatischen Behandlung ab Sommer 2008 von sämtlichen
behandelnden Institutionen bestätigt würde. Des Weiteren sei eine mittelgradig
depressive Episode (ICD-10: F32.11) mit somatischem Syndrom als komorbide
Störung gegeben sowie eine Persönlichkeitsänderung nach Belastung (ICD-10:
F62), wobei die Belastung in der missglückten Bewältigung des Traumas, bzw.
deren Folgen zu sehen sei. Nach dem Ereignis fände sich eine fulminante
Veränderung der Bezüge, der Lebensführung, der psychischen Integrität und
Stabilität, welche sich als Persönlichkeitsveränderung klassifizieren lasse.
Auslöser sei nicht allein das traumatisierende Ereignis, sondern die damit
einhergehende psychiatrische Destabilisierung bzw. Erkrankung. Als missglückte
Behandlungsversuche der posttraumatischen Krankheitsentwicklung sei die
Benzodiazepinabhängigkeit ICD-10: F13.25) und Opiatabhängigkeit, gegenwärtig
abstinent (ICD-10: F11.20) zu betrachten. Die zweite Essstörungsphase sei ohne
den Unfall nicht denkbar, das gelte noch uneingeschränkter für die PTBS und das
depressive Syndrom. Dem Unfallereignis kommt für die Entstehung der psychisch
bedingten Erwerbsunfähigkeit aus gutachterlicher Sicht wie auch nach Ansicht
sämtlicher involvierter Fachärzte, massgebende Bedeutung zu. Es steht ausser
Frage, dass sexuelle Gewalt eine unmittelbare Bedrohung, körperlich und
seelisch verletzt zu werden, beinhaltet und die Vornahme sexueller Handlungen
gegen den Willen der betroffenen Person zu einer psychischen Dekompensation in
der vorliegenden Form führen können. Als erschwerendes Element ist hier zu
berücksichtigen, dass das Sexualdelikt an einer 18-Jährigen, sexuell
unerfahrenen und mit Blick auf ihre psychiatrische Vorgeschichte seelisch
labilen Versicherten verübt wurde. Dass sich die Beschwerdeführerin während der
Tat still verhalten und nicht durch Schreien auf sich aufmerksam gemacht hat,
sei es aus Scham, Ekel oder anderen Gründen, ist aus adäquanzrechtlicher Sicht
nicht wichtig. Nach der Erfahrung des Lebens reagiert eine Person, die
gewaltsam zu sexuellen Handlungen genötigt wurde, unter solchen Umständen im
Hinblick auf die Tatverarbeitung nachvollziehbar nicht bestmöglich und kann -
innerhalb der Bandbreite der Versicherten - nach dem gewöhnlichen Lauf der
Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung einen nachhaltigen psychischen
Gesundheitsschaden erleiden. Dass die (nunmehr) im Vordergrund stehende
posttraumatische Belastungsstörung, wobei sich die Komplexität und
Individualität des Krankheitsbildes vor allem in ihrem variablen Verlauf
widerspiegelt, mit Blick auf den schweren Verlauf auch über den Zeitpunkt der
Leistungseinstellung Ende August 2013 hinaus andauert, ist mit den
ICD-Diagnose-Kriterien vereinbar, wonach eine solche bei wenigen Patienten über
viele Jahre einen chronischen Verlauf nimmt und dann in eine andauernde
Persönlichkeitsänderung (F62.0) übergeht (Dilling/Freyberger [Hrsg.],
Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, 7. Aufl. 2014,
S. 173-175). Bei der Reaktion der im Tatzeitpunkt erst 18-jährigen, in ihrer
Persönlichkeit noch nicht gefestigten Versicherten handelt es sich wohl um eine
starke, nicht aber um eine aussergewöhnliche, singuläre Reaktion psychogener
Art. Die Beschwerdeführerin war damals so weit psychisch kompensiert, als sie
voll arbeitsfähig war und die Lehre als Tierpflegerin abschliessen konnte,
weshalb nicht gesagt werden kann, sie sei aufgrund ihres prämorbiden
psychischen Zustands und der hierin gründenden erhöhten Vulnerabilität für die
Entwicklung psychischer Störungen ausserhalb der weiten Bandbreite von
Versicherten. Mit Blick auf den anzuwendenden realitätsgerechten Massstab (E.
2.2 hiervor) ist die psychische Störung mit andauernder Erwerbsunfähigkeit auch
über den 31. August 2013 hinaus adäquat kausal auf den sexuellen Übergriff
zurückzuführen.

7. 
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66
Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen
(Art. 68 Abs. 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 14. April 2015,
wird, soweit angefochten, aufgehoben. Der Einspracheentscheid der Helsana
Unfall AG vom 4. März 2014 wird aufgehoben.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. November 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Polla

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