Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.39/2015
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_39/2015

Urteil vom 5. März 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Berger Götz.

Verfahrensbeteiligte
A.________ AG,
vertreten durch Rechtsanwältin Nadine Hagenstein,
Beschwerdeführerin,

gegen

Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Aargau (AWA), Rain 53, 5000 Aarau,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung
(Kurzarbeitsentschädigung; Erlass),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 25. November 2014.

Sachverhalt:

A. 
Die A.________ AG führt Software für Kunden ein und entwickelt für diese
individuelle Applikationen. Sie bezog für ihre Mitarbeitenden von Juli 2009 bis
August 2011 Kurzarbeitsentschädigungen. Das Staatssekretariat für Wirtschaft
(SECO) forderte diese Gelder nach einer Arbeitgeberkontrolle im Gesamtbetrag
von Fr. 640'097.60 mit Verfügung vom 27. März 2012, bestätigt durch
Einspracheentscheid vom 26. April 2012 und - zwischenzeitlich in Rechtskraft
erwachsenem - Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. September 2013,
wieder zurück. Das Gesuch der A.________ AG um Erlass des
Rückforderungsbetrages vom 16. April 2012 lehnte das Amt für Wirtschaft und
Arbeit des Kantons Aargau (AWA) mangels guten Glaubens ab (Verfügung vom 17.
Januar 2014 bzw. berichtigte Verfügung vom 24. Januar 2014). Daran hielt es auf
Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 1. April 2014).

B. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die dagegen geführte
Beschwerde ab (Dispositiv-Ziffer 1); es erhob keine Verfahrenskosten
(Dispositiv-Ziffer 2) und sprach keine Parteientschädigung zu
(Dispositiv-Ziffer 3; Entscheid vom 25. November 2014).

C. 
Die A.________ AG lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
erheben mit dem Antrag, die Dispositiv-Ziffern 1 und 3 des vorinstanzlichen
Entscheids seien aufzuheben; Dispositiv-Ziffer 1 sei wie folgt abzuändern: In
teilweiser Gutheissung des Erlassgesuchs sei von der Rückforderung im Betrag
von Fr. 628'829.70 abzusehen; eventualiter sei von der Rückforderung im Betrag
von Fr. 580'097.50 abzusehen; subeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner wird beantragt, in Abänderung von
Dispositiv-Ziffer 3 sei ihr eine Parteientschädigung im Umfang von Fr.
4'263.30, eventualiter eine Parteientschädigung nach richterlichem Ermessen
zuzusprechen. Schliesslich sei der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu
erteilen.
Das AWA reicht keine Stellungnahme zur Beschwerde und zur darin beantragten
aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels ein. Das SECO verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Mit Eingabe vom 27. Februar 2015 macht die A.________ AG geltend, der
Beschwerde sei nun die aufschiebende Wirkung zu erteilen, nachdem die
Gegenpartei und die Aufsichtsbehörde keine Vernehmlassung eingereicht hätten.
Dem Schreiben liegt eine Honorarnote für das letztinstanzliche Verfahren im
Betrag von Fr. 8'856.- bei.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
280 mit Hinweisen).

1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.

2.1. Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zu den
Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die Rückerstattung zu Unrecht
bezogener Leistungen ganz oder teilweise erlassen werden kann, nämlich die
Gutgläubigkeit beim Leistungsbezug einerseits und - kumulativ - die grosse
Härte der Rückerstattung andererseits (Art. 25 Abs. 1 ATSG [anwendbar gemäss
Art. 95 Abs. 1 AVIG] in Verbindung mit Art. 4 ATSV), zutreffend dargelegt.
Darauf wird verwiesen.

2.2. Gemäss der vor Inkrafttreten des BGG ergangenen und weiterhin gültigen
Rechtsprechung ist bei der Frage nach der Gutgläubigkeit beim Leistungsbezug
hinsichtlich der Überprüfungsbefugnis des Gerichts zu unterscheiden zwischen
dem guten Glauben als fehlendem Unrechtsbewusstsein und der Frage, ob sich
jemand unter den gegebenen Umständen auf den guten Glauben berufen kann oder ob
er bei zumutbarer Aufmerksamkeit den bestehenden Rechtsmangel hätte erkennen
sollen. Die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein gehört zum inneren Tatbestand
und wird daher als Tatfrage nach Massgabe von Art. 105 Abs. 1 BGG von der
Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich beurteilt. Demgegenüber gilt die
Frage nach der gebotenen Aufmerksamkeit als frei überprüfbare Rechtsfrage,
soweit es darum geht, festzustellen, ob sich jemand angesichts der jeweiligen
tatsächlichen Verhältnisse auf den guten Glauben berufen kann (BGE 122 V 221 E.
3 S. 223).

3.

3.1. Die Vorinstanz geht mit dem AWA davon aus, dass die Beschwerdeführerin
bereits in der Verfügung betreffend Voranmeldung zur Kurzarbeit über die
Notwendigkeit des Führens einer betrieblichen Arbeitszeitkontrolle, welche
namentlich täglich über die geleisteten Arbeitsstunden inklusive allfälliger
Mehrstunden, die wirtschaftlich bedingten Ausfallstunden sowie über sämtliche
übrigen Absenzen, wie z.B. Ferien-, Krankheits-, Unfall- oder
Militärdienstabwesenheiten Auskunft gibt, informiert worden sei. Sie weist
darauf hin, dass dies von der Arbeitgeberin denn auch nicht bestritten worden
sei. Vielmehr mache die Beschwerdeführerin geltend, dass Ausfallstunden und
Absenzen aus den Stundenrapporten ersichtlich seien. Das
Bundesverwaltungsgericht habe dies im Rückforderungsprozess nicht bestätigen
können und stattdessen unter anderem festgehalten, es vermöge nicht zu
überzeugen, dass es sich bei den freiwillig geleisteten Arbeitsstunden der
Mitarbeitenden um wirtschaftlich bedingte Ausfallstunden handle. Deshalb sei
davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin - wie beim Anmeldungsprozedere
zum Bezug von Kurzarbeitsentschädigung üblich - spätestens mit der ersten
Verfügung betreffend Voranmeldung Kenntnis davon gehabt habe oder bei Anwendung
eines Mindestmasses an Aufmerksamkeit hätte haben müssen, dass der Anspruch auf
Kurzarbeitsentschädigung eine rechtsgenügliche Arbeitszeitkontrolle mit
Auskunft über Arbeitsstunden, allfällige Mehrstunden, wirtschaftlich bedingte
Ausfallstunden sowie Abwesenheiten aus nicht wirtschaftlichen Gründen
voraussetze. Die Beschwerdeführerin habe keine solche Kontrolle geführt bzw.
sie habe sich in ihrer speziellen Situation, in welcher sie ihre Mitarbeiter
auf freiwilliger Basis sinnvoll beschäftigt habe, nicht erkundigt, ob ihre
Methode der Arbeitszeitkontrolle den gesetzlichen Ansprüchen, die an die
Geltendmachung von Kurzarbeitsentschädigung geknüpft seien, genüge. Weil ihr
dies aber durchaus zumutbar gewesen wäre, könne nicht mehr von einer lediglich
leichten Nachlässigkeit (die der Annahme des guten Glaubens nicht
entgegenstünde) gesprochen werden. Da Kurzarbeitsentschädigungen in der Höhe
von insgesamt mehr als einer halben Million Franken und von im
Monatsdurchschnitt rund Fr. 26'000.- zur Diskussion gestanden seien, müssten
strenge Anforderungen an die gebotene Aufmerksamkeit gestellt werden.

3.2. Die Vorbringen der Beschwerdeführerin vermögen diese Betrachtungsweise
nicht in Zweifel zu ziehen. Die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz
sind nicht mangelhaft im Sinne von Art. 97 Abs. 1 BGG und die rechtliche
Würdigung ist bundesrechtskonform:

3.2.1. Das Bundesverwaltungsgericht hatte im Rückforderungsverfahren
festgestellt, dass die ursprünglichen Arbeits- und Spesenrapporte der
Mitarbeitenden zwar grundsätzlich dem Erfordernis einer täglich fortlaufend
geführten Arbeitszeiterfassung über die effektiv geleisteten Arbeitsstunden
entsprochen hätten, doch sei daraus zu ersehen, dass sie an den geltend
gemachten Kurzarbeitstagen vollumfänglich gearbeitet und teilweise sogar
Mehrstunden geleistet oder aus nicht wirtschaftlichen Gründen (Kursbesuch,
Ferien-/Feiertagsbezüge bzw. Krankheitsabsenzen) abwesend gewesen seien
(Entscheid vom 3. September 2013). Die Argumentation der Beschwerdeführerin,
die Mitarbeiter seien während der ihnen zwangsweise auferlegten Freizeit auf
freiwilliger Basis einer sinnvollen Beschäftigung nachgegangen mit dem Ziel,
sie zu unterstützen und ihre Arbeitsplätze zu sichern, und sie hätten diese
Tätigkeiten einzig zur eigenen und gegenseitigen Motivation in die Arbeits- und
Spesenrapporte eingetragen, weshalb es sich dabei um wirtschaftlich bedingte
Ausfallstunden handle, vermöge nicht zu überzeugen. Das
Bundesverwaltungsgericht schloss nicht aus, dass die Aufnahme dieser von den
Arbeitnehmenden freiwillig geleisteten Arbeit in die ursprünglichen Arbeits-
und Spesenrapporte (welche nachträglich korrigiert worden waren) erfolgt sei,
um die aufgewendeten Stunden später allfälligen Kunden in Rechnung zu stellen.
Entgegen der Ansicht der Arbeitgeberin kann keine Rede davon sein, dass das
kantonale Gericht überhöhte Anforderungen an die zumutbare Aufmerksamkeit
gestellt hätte. Bei der gebotenen Sorgfalt hätte es der Beschwerdeführerin auch
ohne genaue Kenntnis der Voraussetzungen einer genügenden Arbeitszeitkontrolle,
allein schon aufgrund des gesunden Menschenverstandes, klar sein müssen, dass
nicht nur "produktive", sondern auch "unproduktive" - nach ihrer im
Rückforderungsprozess aufgestellten Behauptung "freiwillige, vor allem während
der Freizeit geleistete" - Arbeitsstunden, welche ihren Kunden nicht berechnet
werden konnten, nicht als Ausfallstunden qualifiziert werden können. Zumindest
aber hätte sie sich bezüglich der von ihr selber vorgenommenen Einordnung der -
aus ihrer Sicht - freiwillig geleisteten Arbeitsstunden ihrer Mitarbeitenden
als wirtschaftlich bedingte Ausfallstunden bei genügender Aufmerksamkeit
unsicher sein müssen und aufgrund ihrer Zweifel bei der Behörde nachfragen
sollen, ob trotz Beschäftigung ihrer Mitarbeiter "auf freiwilliger Basis"
Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung bestehen könne. Es erübrigt sich, auf
ihren pauschalen Einwand einzugehen, wonach keine Antragsteller je die
Voraussetzungen für den Erlass von Rückerstattungen erfüllen könnten, wenn all
denjenigen, welche Leistungen beziehen, obschon sich nachträglich herausstelle,
dass die Anspruchsvoraussetzungen nicht gegeben waren, der Vorwurf gemacht
werde, sie hätten sich erkundigen müssen. Denn die Annahme des kantonalen
Gerichts, dass die Beschwerdeführerin dem gebotenen Mindestmass an Sorgfalt
nicht nachgekommen sei, weshalb die ausgebliebene Erkundigung nicht als leichte
Nachlässigkeit qualifiziert werden könne, ist mit Blick auf die konkreten
Umstände nicht rechtsfehlerhaft.

3.2.2. Es ist der Beschwerdeführerin zwar beizupflichten, dass die Höhe der
ausbezahlten Kurzarbeitsentschädigung allein keine strengeren Anforderungen an
die gebotene Aufmerksamkeit rechtfertigen. Soweit sie allerdings behauptet,
gerade wegen der hohen ausbezahlten Summe von Fr. 640'000.- habe sie darauf
vertrauen dürfen, dass ihre Anträge von der Beschwerdegegnerin genau geprüft
worden seien, bevor es zur Zahlung gekommen sei, und sie habe in guten Treuen
aus dem Erhalt von Kurzarbeitsentschädigung die Rechtmässigkeit ihres Vorgehens
ableiten dürfen, kann ihr nicht gefolgt werden. Auch aus ihrem Vorhalt,
hinsichtlich der gebotenen Aufmerksamkeit dürfe von ihr nicht mehr verlangt
werden als von den in ihrem eigentlichen Aufgabenbereich tätigen
Verwaltungsstellen, lässt sich nichts zu ihren Gunsten ableiten. Sie übersieht
bei ihrer Argumentation, dass die Behörde zur Prüfung eines Anspruchs auf
Kurzarbeitsentschädigung auf die Angaben der Antragstellerin zum Ausmass und
zur voraussichtlichen Dauer der Kurzarbeit angewiesen war. Die Unrichtigkeit
der mitgeteilten Ausfallstunden ergab sich erst aus der späteren Überprüfung
der betrieblichen Arbeitszeitkontrolle durch das SECO und konnte der Verwaltung
zum Zeitpunkt der Auszahlung von Kurzarbeitsentschädigung noch nicht bekannt
sein, weshalb durch die Tatsache der Leistungsausrichtung - auf der Basis der
Angaben der Beschwerdeführerin - mitnichten eine Vertrauensgrundlage geschaffen
werden konnte.

3.3. Da es an der Erlassvoraussetzung des guten Glaubens fehlt, kommt auch kein
teilweiser Erlass in Frage. Die Vorinstanz, welche sich mit diesem
Eventualstandpunkt der Arbeitgeberin nicht befasst hat, muss sich deshalb in
diesem Zusammenhang keine Verletzung der Begründungspflicht und des
Verhältnismässigkeitsprinzips vorwerfen lassen.

4. 
Bei diesem Ergebnis ist nicht zu prüfen, ob - als weitere Voraussetzung für den
Erlass der Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen - eine grosse
Härte vorliegt.

5. 
Das Gesuch um aufschiebende Wirkung wird mit dem Entscheid in der Hauptsache
gegenstandslos. Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten von
der unterliegenden Beschwerdeführerin zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 11'000.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. März 2015
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Ursprung

Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben