Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.392/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_392/2015

Urteil vom 14. September 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Lanz.

Verfahrensbeteiligte
 A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Philippe Senn,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 28.
April 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1968 geborene A.________ war als Elektromechaniker und danach als
Service-Kältemonteur tätig. Ab 2007 arbeitete er bei einer Segelschule. Im Juli
2010 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die
IV-Stelle Bern sprach ihm mit Verfügung vom 15. März 2012 für den Zeitraum vom
1. Januar bis 30. September 2011 eine befristete ganze Invalidenrente zu. Die
vom Versicherten hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Bern mit rechtskräftigem Entscheid vom 31. Juli 2012 ab. Im September
2012 meldete sich A.________ erneut zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle Bern
holte nebst weiteren Abklärungen ein orthopädisch-psychiatrisches Gutachten der
Medizinischen Gutachterstelle B.________ vom 9. Mai/ 4. Juni 2014 ein. Mit
Verfügung vom 6. November 2014 verneinte sie einen Rentenanspruch, da keine
Invalidität vorliege.

B. 
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Bern unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege mit Entscheid vom
28. April 2015 ab.

C. 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei rückwirkend
ab 1. Oktober 2011 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze
Invalidenrente zuzusprechen; eventuell sei die Sache zur Vervollständigung der
Abklärungen durch einen nicht vorbefassten Gutachter an das kantonale Gericht,
subeventuell an die Verwaltung zurückzuweisen. Weiter wird um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde, ohne sich weiter zur
Sache zu äussern. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
280; vgl. auch BGE 141 V 236 E. 1 S. 236; 140 V 136 E. 1.1 S. 137 f.).

Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
In der Beschwerde wird u.a. geltend gemacht, im Jahre 2011 habe keine
ausreichende Beurteilungsgrundlage vorgelegen, weshalb die gesundheitliche
Situation auch rückwirkend auf den Zeitpunkt der Erstanmeldung resp. der
Einstellung der damals zugesprochenen Rente neu zu beurteilen sei. Der
Versicherte will damit die Rentenbefristung gemäss der Verwaltungsverfügung vom
15. März 2012 in Frage stellen. Diese Verfügung ist indessen gerichtlich
rechtskräftig bestätigt worden. Die Frage, ob hierauf zurückzukommen wäre,
bildete nicht Gegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens. Auf die Beschwerde
ist daher in diesem Punkt nicht einzutreten.

3. 
Streitig und zu prüfen ist, ob erneut Anspruch auf eine Invalidenrente besteht.

3.1. Im angefochtenen Entscheid sind die Bestimmungen und Grundsätze zu den
Begriffen Invalidität und Erwerbsunfähigkeit, zum Anspruch auf eine
Invalidenrente, zur Aufgabe von Arzt und Ärztin bei der Invaliditätsbemessung,
zur Rentenprüfung bei Neuanmeldung unter Berücksichtigung
rentenrevisionsrechtlicher Gesichtspunkte sowie zur Beweiswürdigung, namentlich
bezüglich ärztlicher Berichte und Gutachten, zutreffend dargelegt.
Hervorzuheben ist, dass die Beurteilung sozialversicherungsrechtlicher
Leistungsansprüche verlässlicher medizinischer Entscheidungsgrundlagen bedarf.
Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob dieser
für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen
beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten
(Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen
Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet
und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (BGE 134 V 231 E. 5.1
S. 232 mit Hinweis). Im Verwaltungs- und im kantonalen Beschwerdeverfahren gilt
der Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG).

3.2. Das kantonale Gericht hat erwogen, bei Erlass der Verfügung vom 15. März
2012, mit der die bis 30. September 2011 befristete Rente zugesprochen wurde,
habe eine volle Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit bestanden. Die
Einschränkung auf angepasste Tätigkeiten sei mit körperlichen Diagnosen
begründet gewesen. Es ist sodann gestützt auf das Gutachten der Medizinischen
Gutachterstelle B.________ vom 9. Mai/4. Juni 2014 zum Ergebnis gelangt, sowohl
aus somatomedizinischer als auch aus psychiatrischer Sicht sei die
Arbeitsfähigkeit weiterhin gleich zu umschreiben und sei keine Veränderung des
Gesundheitszustandes eingetreten. Daher bestehe nach wie vor kein
Rentenanspruch.

3.3. In der Beschwerde werden zunächst Einwände gegen die Beurteilung des
körperlichen Gesundheitszustandes und seiner Auswirkungen auf die
Arbeitsfähigkeit erhoben. Geltend gemacht wird, die Vorinstanz habe den
rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt sowie
Beweisregeln, den Anspruch auf rechtliches Gehör und den Untersuchungsgrundsatz
verletzt. Was zur Begründung dieser Rügen vorgebracht wird, ist indessen nicht
stichhaltig. Die medizinischen Akten gestatten jedenfalls den Schluss, dass
körperlich keine relevante Verschlechterung seit der erstmaligen Verneinung
eines Rentenanspruchs eingetreten ist. Daran vermag nichts zu ändern, dass nach
Auffassung der orthopädischen Experten der Medizinischen Gutachterstelle
B.________ für den damaligen Zeitraum keine detaillierte Beschreibung des
Gesundheitszustandes aus orthopädischer Sicht vorliegt. Das kantonale Gericht
hat sodann in nicht zu beanstandender Beweiswürdigung erkannt, dass das
Gutachten der Medizinischen Gutachterstelle B.________ beweiswertig ist und
genügenden Aufschluss für die sich stellenden Fragen bietet, obschon sich der
orthopädische Experte nicht ausdrücklich zu allen ihm vorgelegenen
Arztberichten geäussert hat. Sodann befremdet zwar, dass sich der Orthopäde der
Medizinischen Gutachterstelle B.________ geweigert hat, die vom
Beschwerdeführer gestellten Zusatzfragen gesondert zu beantworten. Die
Zusatzfragen aus seinem Fachgebiet beschränkten sich aber darauf,
Einschätzungen zu anderen Arztberichten sowie zu möglichen Zwangshaltungen
aufgrund der körperlichen Problematik zu erlangen, und die Vorinstanz hat weder
offensichtlich unrichtig noch in anderer Weise bundesrechtswidrig festgestellt,
dass ihre Nichtbeantwortung resp. nicht gesonderte Beantwortung den Beweiswert
des orthopädischen Gutachtens nicht schmälert. Im Vorgehen der Vorinstanz kann
zudem keine Verletzung des Gehörsanspruchs gesehen werden. Die entsprechende
Rüge wird in der Beschwerde auch nicht weiter begründet. Die erst
letztinstanzlich aufgelegten Berichte eines Chiropraktors und eines Orthopäden
können sodann als unzulässige Noven im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG nicht
berücksichtigt werden. Sie rechtfertigten ohnehin kein anderes Ergebnis.

3.4. Umstritten ist im Weiteren, ob sich bezüglich des psychischen
Gesundheitszustandes eine anspruchsrelevante Änderung ergeben hat. Das
kantonale Gericht hat dies gestützt auf die psychiatrische Einschätzung im
Gutachten der Medizinischen Gutachterstelle B.________ vom 9. Mai/4. Juni 2014
verneint. Darin ist der psychiatrische Experte zum Ergebnis gelangt, es liege
eine leichte depressive Störung im Sinne einer chronischen depressiven
Verstimmung (Dysthymie) vor. Eine leidensadaptierte Tätigkeit sei zu 100 %
zumutbar.

3.4.1. Der Versicherte wendet ein, seine fürsorgerische Unterbringung im
Februar 2014 sei nicht in die Begutachtung der Medizinischen Gutachterstelle
B.________ einbezogen worden. Es seien auch keine Arztberichte zu dieser
fürsorgerischen Massnahme eingeholt worden. Indem das kantonale Gericht dennoch
erwogen habe, der psychiatrische Experte habe die fürsorgerische Unterbringung
berücksichtigt, habe es den rechtserheblichen Sachverhalt willkürlich und
falsch festgestellt. Die Nichtberücksichtigung der medizinischen Akten zur
fürsorgerischen Unterbringung bei der Begutachtung stelle überdies einen
erheblichen Fehler dar, welcher die Expertise nicht verwertbar mache. Das
Abstellen der Vorinstanz auf das fehlerhafte und unvollständige Gutachten
verletze geltendes Recht.

3.4.2. Die Einwände sind begründet. Der Beschwerdeführer hat im
Verwaltungsverfahren am 27. Februar 2014 eine Stellungnahme zur vorgesehenen
Begutachtung der Medizinischen Gutachterstelle B.________ eingereicht. Darin
hat er erwähnt, dass ihm gegenüber am 30. und 31. Januar 2014 eine
fürsorgerische Unterbringung wegen psychischer Störung verfügt worden sei und
er sich hierauf bis 24. Februar 2014 in der Psychiatrischen Klinik C.________
aufgehalten habe. Er legte die entsprechenden Verfügungen bei. In diesen
begründen die Fachärzte der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie
die angeordnete Massnahme namentlich mit einer schizoiden
Persönlichkeitsstörung mit dissozialen Zügen und Hinweisen für wahnhaftes
Erleben sowie mit einer akuten Fremdgefährdung durch Morddrohung gegenüber dem
behandelnden Arzt und Drohung mit Amoklauf gegen verschiedene Ärzte.

Das kantonale Gericht hat festgestellt, der psychiatrische Experte der
Medizinischen Gutachterstelle B.________ habe die fürsorgerische Unterbringung
berücksichtigt. Das findet indessen im Gutachten keine Stütze. Der
psychiatrische Experte erwähnt lediglich "Ängste, nach vorübergehender
Inhaftierung wegen angeblicher Bedrohung 02/204 neuerlich von der Exekutive
abgeholt zu werden". Der Hinweis auf eine Inhaftierung ist nicht nur
unzutreffend. Er gibt vor allem weder Auskunft über die Gründe der -
wohlverstanden - medizinisch begründeten Einweisung noch über die Diagnosen,
welche hiezu geführt haben, und deren Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit. Es
kann sodann offen bleiben, ob es sich bei dem vom Beschwerdeführer erst
letztinstanzlich aufgelegten Arztbericht vom 17. Februar 2014 um ein
unzulässiges Novum handelt. Denn aufgrund der Vorbringen des Versicherten wären
Verwaltung und Vorinstanz ohnehin gehalten gewesen, die medizinischen Berichte
über die fürsorgerische Unterbringung in der psychiatrischen Klinik einzuholen
und sich damit auseinanderzusetzen. Insoweit ist die Abklärungspflicht verletzt
worden und das psychiatrische Gutachten unvollständig. Die Sache ist an die
Verwaltung zurückzuweisen, damit diese die notwendigen Abklärungen nachhole und
neu verfüge.
Soweit sich überdies aus der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts zu
anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen und vergleichbaren psychosomatischen
Leiden (Urteil 9C_492/2014 vom 3. Juni 2015, zur Publikation vorgesehen)
erweiterte Anforderungen an die Begutachtung ergeben, werden diese durch die
Verwaltung zusätzlich zu berücksichtigen sein. In diesem Sinne ist die
Beschwerde gutzuheissen.

4. 
Bei diesem Verfahrensausgang hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu
tragen und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 66
Abs. 1, Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Damit ist das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 28. April 2015 und die Verfügung der
IV-Stelle Bern vom 6. November 2014 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer
Verfügung an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde
abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. September 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Lanz

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