Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.367/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_367/2015

Urteil vom 27. August 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Maillard,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen, Davidstrasse 21, 9000 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 15. April 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1952 geborene A.________ meldete sich mit Anspruchserhebung ab 8. Oktober
2013 zum Leistungsbezug bei der Arbeitslosenversicherung an und suchte im
Umfang von 80 % einer Vollzeitbeschäftigung eine Erwerbstätigkeit. Als
Heilpädagoge war er zuvor vom 1. Dezember 2006 bis 30. September 2011 als
Gruppenleiter in einem Wohnheim für Erwachsene mit einem Pensum von 85 %
angestellt gewesen. Diese Tätigkeit beendete er, um ab Oktober 2011 selbständig
erwerbend im heilpädagogischen Bereich tätig zu sein, wobei er seit 1. Dezember
2006 bei der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (SVA) als
Selbständigerwerbender im Nebenerwerb und ab 1. Oktober 2011 als selbständig
erwerbend im Haupterwerb eingetragen war; ab 1. Oktober 2013 ist er wieder als
Selbständigerwerbender im Nebenerwerb erfasst. Mit Verfügung vom 23. Oktober
2013 verneinte die Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen einen Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung, da er innerhalb der vom 8. Oktober 2011 bis 7.
Oktober 2013 dauernden Rahmenfrist für die Beitragszeit weder eine
Mindestbeitragszeit von zwölf Monaten vorweisen könne, noch von der Erfüllung
der Beitragszeit befreit sei. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest
(Einspracheentscheid vom 13. Februar 2014).

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 15. April 2015 in Aufhebung des Einspracheentscheids
vom 13. Februar 2014 teilweise gut. Es bejahte unter dem Gesichtspunkt der
rechtsmissbräuchlichen Gesetzesumgehung den Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung des Versicherten und wies die Sache zur ergänzenden
Prüfung der Anspruchsberechtigung ab 8. Oktober 2013 sowie neuer Verfügung an
die Arbeitslosenkasse zurück.

C. 
Die Arbeitslosenkasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Begehren um Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids
und dem sinngemässen Antrag, den Einspracheentscheid vom 13. Februar 2014 zu
bestätigen.
A.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Staatssekretariat für
Wirtschaft (SECO) verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Beim angefochtenen Rückweisungsentscheid handelt es sich, da das Verfahren
noch nicht abgeschlossen wird und die Rückweisung auch nicht einzig der
Umsetzung des oberinstanzlich Angeordneten dient, um einen selbständig
eröffneten Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG. Die Zulässigkeit der
Beschwerde setzt somit - alternativ - voraus, dass der Entscheid einen nicht
wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Abs. 1 lit. a) oder dass die
Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit
einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges
Beweisverfahren ersparen würde (Abs. 1 lit. b).

1.2. Die Vorinstanz gelangte zum Schluss, unter dem Aspekt der
rechtsmissbräuchlichen Gesetzesumgehung und der Vermittlungsfähigkeit sei der
Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung zu bejahen; es sei davon auszugehen,
dass der Versicherte bereit und in der Lage sei, sich im Umfang von 80 % dem
Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, weshalb die Sache zur ergänzenden
Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen an die Arbeitslosenkasse zurückzuweisen
sei. Hätte der kantonale Gerichtsentscheid Bestand, so wäre die
Arbeitslosenkasse unter Umständen gezwungen, eine ihres Erachtens
rechtswidrige, leistungszusprechende Verfügung zu erlassen. Diese könnte sie in
der Folge nicht selber anfechten; da die Gegenpartei in der Regel kein
Interesse haben wird, den allenfalls zu ihren Gunsten rechtswidrigen
Endentscheid anzufechten, könnte der kantonale Vorentscheid nicht mehr
korrigiert werden und würde zu einem nicht wieder gutzumachenden Nachteil für
die Verwaltung führen (vgl. BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.; Urteil 8C_682/2007
vom 30. Juli 2008 E. 1.2.2, nicht publ. in: BGE 134 V 392). Auf ihre Beschwerde
ist demnach einzutreten.

2. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG).

3.

3.1. Im angefochtenen Entscheid sind die gesetzlichen Vorschriften zur
Erfüllung der Beitragszeit (Art. 13 Abs. 1 AVIG) als einer Voraussetzung für
den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung (Art. 8 Abs. 1 lit. e AVIG) sowie zu
den Rahmenfristen (Art. 9 AVIG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.2. Art. 9a AVIG erfasst jene Personen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit
ohne Unterstützung der Arbeitslosenversicherung (Art. 71a ff. AVIG) aufgenommen
und wieder definitiv aufgegeben haben und bei (Wieder-) Anmeldung bei der
Arbeitslosenversicherung die Mindestbeitragszeit im Sinne von Art. 9 Abs. 3 in
Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 AVIG nicht erfüllen (vgl. THOMAS NUSSBAUMER,
Arbeitslosenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2007, S. 2213
Rz. 106). Wie Art. 71d Abs. 2 AVIG trägt Art. 9a AVIG dem erhöhten Risiko
Rechnung, welches mit der Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit
verbunden ist. Nach der ratio legis soll die Tatsache allein, dass aufgrund
einer nicht beitragswirksamen (vgl. Art. 3a Abs. 1 AVIV) selbständigen
Erwerbstätigkeit keine genügende Beitragszeit generiert werden konnte, bei
(Wieder-) Anmeldung zum Taggeldbezug den Anspruch nicht ausschliessen (BGE 133
V 82 E. 3.1 S. 85 f.; ARV 2007 S. 200, C 188/06).

3.3. Das kantonale Gericht stellte sich unter Hinweis auf das Urteil 8C_966/
2010 vom 28. März 2011 auf den Standpunkt, die Anwendung der Rechtsprechung
gemäss BGE 123 V 234, wonach eine Überprüfung des Anspruchs auf
Arbeitslosenentschädigung unter dem Gesichtspunkt der rechtsmissbräuchlichen
Gesetzesumgehung bei arbeitgeberähnlichen Personen und ihren Ehegatten erfolgt,
finde auch bei selbständig erwerbenden Personen Anwendung. In Würdigung des
gesamten Verhaltens sei sowohl unter dem Aspekt des Rechtsmissbrauchs als auch
der Vermittlungsfähigkeit entscheidend, dass der Beschwerdegegner bereit und in
der Lage gewesen sei, sich im angegebenen Umfang um eine Arbeitnehmertätigkeit
zu bemühen und nicht mehr den Ausbau einer auf Dauer angelegten Selbständigkeit
anstreben würde.

3.4. Wie die Beschwerdeführerin zu Recht einwendet, verkennt die Vorinstanz,
dass - im Gegensatz zum zitierten Urteil 8C_966/2010 - nicht die Frage der auf
Dauer angelegten oder nur vorübergehenden Selbständigkeit in Zusammenhang mit
der Vermittlungsfähigkeit im Raum steht. Die Vermittlungsfähigkeit wird nicht
angezweifelt, weshalb sich die Vorinstanz zu Unrecht auf diese Rechtsprechung
stützt. Im zitierten Urteil wies die versicherte Person zudem durch ihre
aufgegebene, unselbständige Erwerbstätigkeit genügend Beitragszeit innerhalb
der ordentlichen Rahmenfrist von zwei Jahren (Art. 9 Abs. 3 in Verbindung mit
Art. 13 AVIG) aus. In casu erfüllt der Beschwerdegegner unstreitig die
Anspruchsvoraussetzung der genügenden Beitragszeit innerhalb der ordentlichen
Beitragsrahmenfrist gerade nicht. Es ist auch kein Grund für eine Befreiung
hiervon nach Art. 14 AVIG gegeben, weshalb einzig zu prüfen ist, ob ein
rahmenfristverlängernder Tatbestand durch die Aufnahme einer selbständigen
Erwerbstätigkeit ohne Förderbeiträge nach Art. 9a Abs. 2 AVIG vorliegt, um die
Mindestbeitragszeit von einem Jahr (Art. 13 Abs. 1 AVIG) für einen
Leistungsbezug von Taggeldern aufweisen zu können. Die rechtliche Würdigung der
Vorinstanz ist demnach unzutreffend.

3.5. Die Rahmenfristverlängerung nach Art. 9a Abs. 2 AVIG setzt mit der
Beschwerdeführerin - unter weiteren kumulativ zu erfüllenden Voraussetzungen,
auf die nicht näher einzugehen ist - eine definitive Aufgabe der selbständigen
Erwerbstätigkeit voraus, was nach den Kriterien gemäss der mit BGE 123 V 234
begründeten Rechtsprechung zu beurteilen ist. In diesem Sinne hat das
Bundesgericht in ARV 2013 S. 343, 8C_925/2012, erkannt, dass die zu jeder Zeit
gegebene faktische Möglichkeit, eine nebenerwerblich ausgeübte Selbständigkeit
durch Pensumerhöhung wieder auszudehnen, das Risiko eines Missbrauchs der
Arbeitslosenversicherung in sich birgt, weshalb die Rückstufung der
selbständigen Erwerbstätigkeit auf eine nebenerwerbliche Tätigkeit nicht
genügt, um die für die Rahmenfristverlängerung verlangte definitive
Geschäftsaufgabe zu bejahen (vgl. auch ARV 2007 S. 200, C 188/06 und
NUSSBAUMER, a. a. O., S. 2213 Rz. 108).

3.6. Unter den Parteien besteht Einigkeit darüber, dass der Versicherte,
zumindest im hier massgebenden Zeitraum, die selbständige Erwerbstätigkeit im
Nebenerwerb noch beibehielt. Wie er letztinstanzlich vernehmlassungsweise
einwendet gab er diese erst per 1. August 2014 unwiderruflich auf, was - seinen
Angaben gemäss - zur Anspruchsbejahung ab diesem Zeitpunkt führte. Damit ist
mit der Beschwerdeführerin der Anspruch auf Arbeitslosentaggelder ab 8. Oktober
2013 bis zur definitiven Aufgabe der selbständigen Erwerbstätigkeit als einer
Voraussetzung für eine Rahmenfristverlängerung nach Art. 9a Abs. 2 AVIG zu
verneinen. Die Beschwerde ist begründet.

4. 
Der Prozess ist kostenpflichtig (Art. 62 Abs. 1 Satz 1 BGG). Die Gerichtskosten
sind dem unterliegenden Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 15. April 2015 wird aufgehoben und der
Einspracheentscheid der Kantonalen Arbeitslosenkasse St. Gallen vom 13. Februar
2014 bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 27. August 2015
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Polla

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