Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.352/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]               
{T 0/2}
                             
8C_352/2015, 8C_353/2015

Urteil vom 24. September 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Grunder.

Verfahrensbeteiligte
8C_352/2015
Helsana Versicherungen AG, Recht, Postfach, 8081 Zürich Helsana,
Beschwerdeführerin,

gegen

AXA Versicherungen AG, General Guisan-Strasse 40, 8400 Winterthur
Beschwerdegegnerin,

und

8C_353/2015
A.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Patrick Thomann,
Beschwerdeführerin,

gegen

AXA Versicherungen AG, General Guisan-Strasse 40, 8400 Winterthur
Beschwerdegegnerin,

Gegenstand
Unfallversicherung (Kausalzusammenhang),

Beschwerden gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 13. April 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1973 geborene A.________ ist seit April 1996 beim Betagtenheim B.________
als Pflegefachfrau angestellt und damit bei der AXA Versicherungen AG (im
Folgenden: AXA), Winterthur, obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen
versichert. Am 6. Dezember 2011 rutschte die Versicherte auf einer Treppe aus,
stürzte und verletzte sich an der linken Schulter (Unfallmeldung UVG vom 13.
Dezember 2011). Die AXA erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung;
Taggeld). Nach diversen medizinischen Abklärungen holte sie die Stellungnahme
des Dr. med. C.________, Facharzt FMH für Chirurgie, Sportmedizin SGSM, Leiter
medizinischer Dienst Region D.________, vom 2. Mai 2013 ein. Demnach erlitt die
Versicherte im Jahre 1991 eine Schulterluxation links, nicht aber beim Unfall
vom 6. Dezember 2011, zumal auf dem MRI (magnetic resonance imaging) vom 9.
Dezember 2011 keine frischen strukturellen Läsionen sichtbar geworden seien;
möglich sei, dass die Versicherte eine Schulterdistorsion erlitt, deren Folgen
spätestens sechs Monate nach dem 6. Dezember 2011 als abgeheilt zu betrachten
seien. Mit Verfügung vom 8. Mai 2013 hielt die AXA fest, ab 1. Juni 2012
bestehe zufolge Erreichen des Status quo sine kein Anspruch auf Leistungen aus
der obligatorischen Unfallversicherung mehr. Die von der Versicherten und ihrem
Krankenversicherer, Helsana Versicherungen AG (im Folgenden: Helsana), Zürich,
erhobenen Einsprachen lehnte die AXA ab (Einspracheentscheid vom 18. September
2013.

B. 
Hiegegen reichten sowohl A.________ als auch die Helsana Beschwerde ein. Das
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn vereinigte die Verfahren und wies
die Beschwerden mit Entscheid vom 13. April 2015 ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde führen und beantragen, unter Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids sei die AXA zu verpflichten, die Leistungen über
den 1. Juni 2012 hinaus zu erbringen; eventualiter sei die Angelegenheit zu
weiteren medizinischen Abklärungen an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
Die Helsana verweist auf die im Verfahren 8C_352/2015 gemachten Ausführungen.
Die AXA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D. 
Die Helsana führt ebenfalls Beschwerde und beantragt, unter Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids habe die AXA die gesetzlichen UVG-Leistungen zu
erbringen; eventualiter sei die Sache zur weiteren Abklärung zurückzuweisen.

A.________ lässt beantragen, die Beschwerde sei gutzuheissen. Die AXA schliesst
auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Da den beiden Beschwerden derselbe Sachverhalt zugrunde liegt, sich die
gleichen Rechtsfragen stellen und die Rechtsmittel den nämlichen Entscheid
betreffen, rechtfertigt es sich, die beiden Verfahren zu vereinigen und in
einem einzigen Urteil zu erledigen (BGE 128 V 124 E. 1 S. 126).

2.

2.1. Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 132 II 257E. 2.5 S. 262; 130 III 136E. 1.4 S. 140). Gemäss
Art. 42 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde hinreichend zu begründen, andernfalls
wird darauf nicht eingetreten (Art. 108 Abs. 1 lit. b BGG). Das Bundesgericht
prüft grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie
eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu
prüfen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II
249 E. 1.4.1 S. 254). Es kann die Verletzung von Grundrechten und von
kantonalem und interkantonalem Recht nur insofern prüfen, als eine solche Rüge
in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).

2.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). Daher kommt den Vorbringen der
Beschwerdeführerin und der Helsana, das kantonale Gericht habe die Beweise
willkürlich gewürdigt, keine selbständige Bedeutung zu.

3.

3.1. Die vom Unfallversicherer einmal anerkannte Leistungspflicht entfällt
erst, wenn dieser nachweist, dass der Gesundheitszustand erreicht ist, wie er
unmittelbar vor dem Unfall bestanden hat (Status quo ante) oder wie er sich
nach dem schicksalsmässigen Verlauf eines krankhaften Vorzustandes auch ohne
Unfall früher oder später eingestellt hätte (Status quo sine; RKUV 1994 Nr. U
206 S. 328 f., U 180/93 E. 3b mit Hinweisen). Trifft ein Unfall auf einen
vorgeschädigten Körper und steht aus ärztlicher Sicht fest, dass weder der
Status quo ante noch der Status quo sine je wieder erreicht werden können, so
spricht die Rechtsprechung von einer richtunggebenden Verschlimmerung (vgl.
RUMO-JUNGO/HOLZER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum
Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die Unfallversicherung [UVG], 4.
Aufl., Zürich/Basel/Genf 2012, S. 54 mit Hinweis auf das Urteil 8C_467/2007 vom
25. Oktober 2007 E. 3.1).

3.2.

3.2.1. Ob zwischen einem schädigenden Ereignis und einer gesundheitlichen
Störung ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht, ist Tatfrage, worüber die
Verwaltung bzw. im Beschwerdefall das Gericht im Rahmen der ihm obliegenden
Beweiswürdigung nach dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu befinden hat. Die blosse Möglichkeit eines
Zusammenhangs genügt für die Begründung eines Leistungsanspruches nicht (BGE
119 V 335 E. 1 S. 338; 118 V 286 E. 1b S. 289 f., je mit Hinweisen). Die
Parteien tragen im Sozialversicherungsrecht in der Regel eine Beweislast nur
insofern, als im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener
Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten
wollte. Diese Beweisregel greift erst Platz, wenn es sich als unmöglich
erweist, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer Beweiswürdigung
einen Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich
hat, der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 117 V 261 E. 3b S. 264). Der Beweis
des natürlichen Kausalzusammenhangs (bzw. dessen Wegfallen) ist in erster Linie
mittels Auskünften ärztlicher Fachpersonen zu führen ( RUMO-JUNGO/HOLZER,
a.a.O., S. 55 mit Hinweisen).

3.2.2. Bei Entscheiden gestützt auf versicherungsinterne ärztliche
Beurteilungen, die im Wesentlichen oder ausschliesslich aus dem Verfahren vor
dem Sozialversicherungsträger stammen, sind an die Beweiswürdigung strenge
Anforderungen zu stellen sind. Bestehen auch nur geringe Zweifel an der
Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der ärztlichen Feststellungen, ist eine
versicherungsexterne medizinische Begutachtung im Verfahren nach Art. 44 ATSG
oder ein Gerichtsgutachten anzuordnen (BGE 135 V 465 E. 4 S. 467 ff.; 122 V 157
E. 1d S. 162).

4.

4.1. Das kantonale Gericht hat erkannt, dass zur Beurteilung des natürlichen
Kausalzusammenhangs auf die voll beweiskräftigen, anhand sämtlicher
medizinischer und anderweitiger Unterlagen erstellten Auskünfte des Dr. med.
C.________ abgestützt werden könne. Er lege nachvollziehbar dar, dass auf den
radiologischen Aufnahmen vom 9. Dezember 2011 sowie 9. Januar 2012 keine neuen
strukturellen Schädigungen sichtbar geworden seien, weshalb anzunehmen sei,
dass die andauernden Beschwerden auf Vorzustände oder allenfalls auf den von
der erstbehandelnden Dr. med. E.________ erwähnten Sturz beim Skifahren von ca.
im Jahr 1991 zurückzuführen seien. Zwar seien die medizinischen Akten dieses
Unfalles nicht mehr verfügbar, indessen sei angesichts fehlender frischer
Läsionen anzunehmen, dass die Versicherte am 6. Dezember 2011 keine (Sub)
Luxation des linken Schultergelenks erlitten habe. Daher sei auch die Annahme
des Dr. med. C.________, die Versicherte habe beim Treppensturz allenfalls eine
Schulterdistorsion, nicht aber eine Schulterluxation erlitten, ohne Weiteres
nachvollziehbar.

4.2. Die Beschwerdeführerin und die Helsana machen zu Recht geltend, dass an
der Schlüssigkeit des Dr. med. C.________ zumindest geringe Zweifel bestehen.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass für den Sturz beim Skifahren in den
Jahren 1991/1992 keine ärztlichen Akten mehr verfügbar sind und diesbezüglich
unbestritten feststeht, dass die Versicherte schon nach wenigen Wochen während
über zwanzig Jahren beschwerdefrei war. Daher leuchtet wenig ein, wenn Dr. med.
C.________ von der als spekulativ zu bezeichnenden Annahme ausgeht, die
Versicherte habe damals eine Luxation des linken Schultergelenkes erlitten,
deren Folgen nunmehr für die geltend gemachten Beschwerden verantwortlich sein
sollen. Das kantonale Gericht hat sich denn auch von dieser Schlussfolgerung
mit der Erwägung distanziert, das Krankheitsbild sei "allenfalls" auf den
damaligen Unfall zurückzuführen. Es hat die dezidierte Auffassung des
behandelnden Dr. med. F.________, Facharzt für orthopädische Chirurgie und
Traumatologie FMH, Shouldercare, der ein erfahrener Spezialist auf dem Gebiete
von Schulterverletzungen ist, vor allem mit der Bemerkung widerlegt, er habe
sich zu den ihm von Dr. med. C.________ schriftlich gestellten Fragen nicht
geäussert und er habe im Übrigen in seinen Berichten nie Bezug auf den Unfall
aus den Jahren 1991/1992 genommen, weshalb seinen Auskünften bei der
Beurteilung der Kausalität kein relevanter Stellenwert zukomme. Nachdem mit dem
von der Versicherten ins kantonale Verfahren eingebrachten Bericht des Dr. med.
F.________ vom 20. Februar 2014, gemäss welchem sämtliche von ihm klinisch wie
arthroskopisch erhobenen Befunde (Bankart-Läsion und Hill-Sachs-Delle) in
Übereinstimmung mit den radiologischen Aufnahmen vom 9. Januar und 19.
September 2012 standen und daher eindeutig auf das Unfallereignis vom 6.
Dezember 2011 zurückzuführen waren, lässt sich die vorinstanzliche
Beweiswürdigung nicht ohne Weiteres halten. Die Beschwerdeführerin und die
Helsana weisen zu Recht darauf hin, dass die Röntgenaufnahme vom 9. Dezember
2011 allein dazu diente, eine knöcherne Verletzung auszuschliessen, sich danach
radiologisch aber eine traumatisch bedingte Bankart- oder Perthesläsion und
Hill-Sachs-Delle nachweisen liessen.

4.3. Zusammengefasst sind zumindest geringe Zweifel an den Auskünften des Dr.
med. C.________ angebracht, weshalb die Sache praxisgemäss und entsprechend den
Anträgen der Beschwerdeführerin sowie der Helsana an das kantonale Gericht
zurückzuweisen ist, damit es ein medizinisches Gutachten einhole. Der Einwand
der AXA, das Urteil U 417/01 vom 17.7.2002 E. 3a und E. 3c (SVR 2002 Nr. UV 6
S. 522), wonach ein Leistungsanspruch der versicherten Person auch dann
besteht, wenn eines von mehreren in Frage kommenden Unfallereignissen nicht mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit möglich ist, sei nicht einschlägig, trifft den
entscheidenden Punkt nicht. Auch gemäss dem für sie arbeitenden Dr. med.
C.________ war die Ursache der Befunde im linken Schultergelenk einer (Sub)
Luxation und somit einem Unfall zuzuschreiben. Im Übrigen wird das anzuordnende
Gerichtsgutachten zur Klärung auch dieser Frage beitragen.

5.

5.1. Der AXA werden als unterliegender Partei die Gerichtskosten auferlegt
(Art. 66 Abs. 1 BGG).

5.2. Sie hat die Beschwerdeführerin (A.________) angemessen zu entschädigen
(Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Verfahren 8C_352/2015 und 8C_353/2015 werden vereinigt.

2. 
Die Beschwerden werden gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Solothurn vom 13. April 2015 wird aufgehoben. Die Sache wird an das
kantonale Gericht zurückgewiesen, damit es nach erfolgter Abklärung über den
Anspruch auf Leistungen aus der obligatorischen Unfallversicherung neu
entscheide.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'600.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

4. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin (A.________) für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 24. September 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Grunder

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