Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.350/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
8C_350/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 26. November 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiber Lanz.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Jean Baptiste Huber,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zug,
Baarerstrasse 11, 6300 Zug,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug
vom 19. März 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1967 geborene A.________ war vom 1. Juli 1987 bis zur arbeitgeberseitigen
Kündigung per 30. September 2013 als Rollmaschinenführer bei der B.________ AG
angestellt. Im April 2013 meldete er sich unter Hinweis auf eine nicht näher
beschriebene Krankheit bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die
IV-Stelle des Kantons Zug holte Berichte der behandelnden Ärzte und ein
polydisziplinäres (internistisch, psychiatrisch, rheumatologisch) Gutachten der
Begutachtungsstelle C.________, vom 27. Februar 2014 ein. Der psychiatrische
Experte der Begutachtungsstelle C.________ ergänzte seine Ausführungen mit
Schreiben vom 21. August 2014. Zudem nahmen RAD-Ärzte Stellung. Mit Verfügung
vom 9. Oktober 2014 verneinte die IV-Stelle einen Leistungsanspruch, da kein
invalidisierender Gesundheitsschaden vorliege.

B. 
Beschwerdeweise beantragte A.________, in Aufhebung der Verfügung vom 9.
Oktober 2014 sei ihm eine Dreiviertelsrente zuzusprechen; evtl. sei eine
erneute psychiatrische Begutachtung zu veranlassen und auf dieser Grundlage neu
über den Leistungsanspruch zu entscheiden. Das Verwaltungsgericht des Kantons
Zug wies die Beschwerde mit Entscheid vom 19. März 2015 ab.

C. 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, es sei der kantonale Entscheid aufzuheben und eine angemessene
Rente zuzusprechen; eventuell sei die Sache zur weiteren Abklärung an die
Vorinstanz, subeventuell an die Verwaltung zurückzuweisen.
Die IV-Stelle und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der
Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
280; vgl. auch BGE 141 V 236 E. 1 S. 236; 140 V 136 E. 1.1 S. 137 f.).
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Streitig ist der Anspruch auf eine Invalidenrente der Invalidenversicherung.
Im angefochtenen Entscheid sind die namentlich interessierenden Bestimmungen
und Grundsätze zum Invaliditätsbegriff, zum nach dem Grad der Invalidität
abgestuften Anspruch auf eine Invalidenrente, zur Bestimmung des
Invaliditätsgrades mittels Einkommensvergleich, zur Aufgabe von Arzt und Ärztin
bei der Invaliditätsbemessung sowie zur Beweiswürdigung, insbesondere bezüglich
ärztlicher Berichte und Gutachten, zutreffend dargelegt. Richtig wiedergegeben
ist auch die Rechtsprechung zur invalidisierenden Wirkung anhaltender
somatoformer Schmerzstörungen und vergleichbarer psychosomatischer Leiden im
Sinne der sog. Überwindbarkeitsrechtsprechung (BGE 130 V 352; 131 V 49; vgl.
auch BGE 139 V 547). Darauf wird verwiesen.
Zu erwähnen bleibt, dass das Bundesgericht zwischenzeitlich zur
invalidisierenden Wirkung somatoformer Schmerzstörungen und vergleichbarer
psychosomatischer Leiden das Grundsatzurteil 9C_492/2014 vom 3. Juni 2015 (BGE
141 V 281) erlassen hat.

3. 
Das kantonale Gericht ist zum Ergebnis gelangt, die Expertise der
Begutachtungsstelle C.________ vom 27. Februar 2014 erfülle grundsätzlich die
Anforderungen an beweiswertige ärztliche Gutachten. Zu überzeugen vermöchten
indessen nur die fachärztlichen Einschätzungen aus rheumatologischer und
internistischer Sicht, nicht aber diejenige des Psychiaters der
Begutachtungsstelle C.________.

4. 
Laut Gutachten der Begutachtungsstelle C.________ vom 27. Februar 2014 ergaben
die somatomedizinischen Abklärungen keinen Befund, welcher die Arbeitsfähigkeit
beeinträchtigt. Darauf ist gemäss dem vorinstanzlichen Entscheid abzustellen,
was nicht bestritten wird.

5. 
Streitig ist, ob ein invalidisierendes psychisches Leiden vorliegt.

5.1. Dr. med. D.________ hat im psychiatrischen Teilgutachten der
Begutachtungsstelle C.________ vom 13. Februar 2014 gestützt auf die Diagnose
einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung bei Verdacht auf
passiv-aggressive Persönlichkeitsakzentuierung, Differentialdiagnose
passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung, eine Arbeitsunfähigkeit von 50 %
attestiert. Diese Einschätzung wurde im Hauptgutachten der Begutachtungsstelle
C.________ vom 27. Februar 2014 übernommen. Mit ergänzender Stellungnahme vom
21. August 2014 hielt der psychiatrische Experte der Begutachtungsstelle
C.________ an ihr fest.

5.2. Das kantonale Gericht ist in Anwendung der Überwindbarkeitspraxis zum
Ergebnis gelangt, die diagnostizierte Schmerzstörung sei nicht invalidisierend.
Die nach dieser Rechtsprechung massgeblichen Kriterien seien nicht in
genügender Weise erfüllt, um auf ein mit zumutbarer Willensanstrengung nicht
überwindbares Leiden zu schliessen. Namentlich fehle es an einer erheblichen
psychischen Komorbidität.
Im Lichte der Überwindbarkeitsrechtsprechung spricht Einiges für die
vorinstanzliche Beurteilung. Der Psychiater der Begutachtungsstelle C.________
beurteilt die massgeblichen Kriterien einerseits für nicht erfüllt. Anderseits
macht er dies davon abhängig, ob als psychische Komorbidität lediglich eine
Persönlichkeitsakzentuierung oder aber eine Persönlichkeitsstörung vorliege.
Letztere Diagnose kann er aber nicht verlässlich bestätigen (Teilgutachten vom
13. Februar 2014 mit Ergänzung vom 21. August 2014). Sie erscheint auch eher
fraglich, zumal sie vom behandelnden Psychiater nicht gestellt wird. Dieser
wiederum bestätigt ebenfalls eine Arbeitsunfähigkeit, begründet dies aber nebst
der Schmerzstörung mit einer depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige
Episode. Es liegen somit divergierende fachärztliche Einschätzungen vor. Die
Frage der Komorbidität muss aber ohnehin nicht abschliessend beurteilt werden.
Zu prüfen ist, wie es sich nach den überarbeiteten Grundsätzen gemäss BGE 141 V
281 verhält.

5.3.

5.3.1. Weiterhin kann eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit nur
anspruchserheblich sein, wenn sie Folge einer fachärztlich einwandfrei
diagnostizierten Gesundheitsbeeinträchtigung ist (BGE 141 V 281 E. 2.1 S. 285
f.; zur Publikation vorgesehenes Urteil 8C_10/2015 vom 5. September 2015 E.
4.1) und keine Ausschlussgründe nach BGE 131 V 49 vorliegen (BGE 141 V 281 E.
2.2 S. 287 f.). Auch künftig wird der Rentenanspruch anhand von normativen
Rahmenbedingungen beurteilt, und es braucht medizinische Evidenz, dass die
Erwerbsunfähigkeit aus objektiver Sicht eingeschränkt ist. Indes hält das
Bundesgericht an der Überwindbarkeitsvermutung nicht weiter fest (BGE 141 V 281
E. 3.5 S. 294 und E. 3.7.1 S. 295; Urteil 8C_10/2015 E. 4.1). Anstelle des
bisherigen Regel/Ausnahme-Modells tritt ein strukturierter, normativer
Prüfraster. In dessen Rahmen wird im Regelfall anhand von auf den funktionellen
Schweregrad bezogenen Standardindikatoren das tatsächlich erreichbare
Leistungsvermögen ergebnisoffen und symmetrisch beurteilt, indem gleichermassen
den äusseren Belastungsfaktoren wie den vorhandenen Ressourcen Rechnung
getragen wird (BGE 141 V 281 E. 3.6 S. 295 und E. 4 S. 296 ff.; Urteil 8C_10/
2015 E. 4.1).

5.3.2. Zwar hatten die Ärztinnen und Ärzte bereits bis anhin ihre
Stellungnahmen zur Arbeitsfähigkeit so substanziell wie möglich zu begründen,
und es war für die ärztliche Plausibilitätsprüfung wichtig, in welchen
Funktionen die versicherte Person eingeschränkt ist. Die diesbezüglichen
Anforderungen hat das Bundesgericht aber nunmehr dahin gehend konkretisiert,
dass aus den medizinischen Unterlagen genauer als bisher ersichtlich sein muss,
welche funktionellen Ausfälle in Beruf und Alltag aus den versicherten
Gesundheitsschäden resultieren. Diagnosestellung und - in der Folge -
Invaliditätsbemessung haben somit stärker als bis anhin die entsprechenden
Auswirkungen der diagnoserelevanten Befunde zu berücksichtigen. Medizinisch
muss schlüssig begründet sein, inwiefern sich aus den funktionellen Ausfällen
bei objektivierter Zumutbarkeitsbeurteilung anhand der Standardindikatoren eine
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit ergibt. Wo dies nicht mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit dargetan werden kann, trägt weiterhin die materiell
beweisbelastete versicherte Person die Folgen. Eine anhaltende somatoforme
Schmerzstörung und vergleichbare Leiden können somit eine Invalidität
begründen, sofern funktionelle Auswirkungen der medizinisch festgestellten
gesundheitlichen Anspruchsgrundlage im Einzelfall anhand der
Standardindikatoren schlüssig und widerspruchsfrei mit zumindest überwiegender
Wahrscheinlichkeit in einem anspruchserheblichen Ausmass nachgewiesen sind (BGE
141 V 281 E. 6 S. 308; Urteil 8C_10/2015 E. 4.2).

5.4. Im vorliegenden Fall gestatten die medizinischen Akten keine verlässliche
Beurteilung, ob Ausschlussgründe vorliegen und - verneinendenfalls - ob die
massgeblichen Indikatoren nach BGE 141 V 281 in genügender Weise erfüllt sind,
um die Schmerzstörung als invalidisierend zu betrachten. Die Sache ist daher an
die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie - bei einem neu zu bestellenden
Experten - ein den Anforderungen von BGE 141 V 281 genügendes psychiatrisches
Gerichtsgutachten einhole und gestützt darauf neu entscheide.

6. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung
auszurichten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 141 V 281 E. 11.1
S. 312).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Zug, Sozialversicherungsrechtliche Kammer, vom
19. März 2015 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 26. November 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Lanz

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