Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.342/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
8C_342/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 10. November 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiberin Schüpfer.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Martin Heuberger,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

Pensionskasse B.________,

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 24. Februar 2015.

Sachverhalt:

A.

A.a. Der 1964 geborene A.________ arbeitete seit Beginn des Jahres 2003 als
Lagerist bei der Firma B.________ AG. Das Arbeitsverhältnis wurde wegen
langandauernder Krankheit per Ende August 2004 aufgelöst (letzter effektiver
Arbeitstag: 12. Dezember 2003). Er meldete sich am 25. Mai 2004 bei der
Invalidenversicherung zum Bezug einer Rente an. Die IV-Stelle Aargau traf
medizinische Abklärungen und liess den Versicherten vom Servizio Accertamento
Medico dell' Assicurazione Invalidità (Medas) multidisziplinär begutachten
(Expertise vom 16. Oktober 2006). Dabei wurden unter anderem die Diagnosen
eines chronischen Schmerzsyndroms (Differentialdiagnosen: somatoformes
Schmerzsyndrom und Fibromyalgie) und eines depressiven Syndroms mit
somatoformen Anteilen im Bereich einer längeren depressiven Reaktion (ICD-10:
F43.21) gestellt. Mit Verfügung vom 29. März 2007 verneinte die IV-Stelle einen
Rentenanspruch bei einem - gestützt auf die von den Medas-Ärzten attestierte
Arbeitsfähigkeit von 70 % in einer adaptierten Tätigkeit - ermittelten
Invaliditätsgrad von 22 %. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies
eine dagegen erhobene Beschwerde rechtskräftig ab.

A.b. Auf Neuanmeldungen mit den Anträgen auf Umschulung (Verfügung vom 12.
August 2008) oder Rente (Verfügung vom 13. Februar 2009) trat die IV-Stelle
nicht ein, was vom Versicherungsgericht jeweils geschützt wurde (Entscheide vom
12. August 2008 und vom 22. September 2009).

A.c. Nachdem die IV-Stelle auf eine erneute Anmeldung zum Leistungsbezug vom 1.
Juli 2010 mit Verfügung vom 8. August 2011 wiederum nicht eingetreten war, hob
das Versicherungsgericht diese auf Beschwerde hin auf und wies die Sache an die
Verwaltung zurück, damit sie über den Rentenanspruch materiell verfüge
(Entscheid vom 7. August 2012). In Abklärung des medizinischen Sachverhalts zog
die IV-Stelle in der Folge Berichte der behandelnden Ärzte ein und liess
A.________ durch die Gutachtenstelle C.________ bidisziplinär begutachten
(Expertise vom 28. Oktober 2013). Mit Verfügung vom 24. April 2014 verneinte
die IV-Stelle einen Anspruch auf eine Invalidenrente erneut.

B. 
Das Versicherungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom
24. Februar 2015 ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihm
mindestens eine halbe Invalidenrente zu gewähren. Eventualiter sei die Sache
zur Durchführung weiterer medizinischer Abklärungen an die Verwaltung oder das
kantonale Gericht zurück zu weisen. Im Weiteren ersucht er um die Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde, ohne sich weiter zur
Sache zu äussern, während das kantonale Gericht und das Bundesamt für
Sozialversicherungen auf eine Stellungnahme verzichten.

Erwägungen:

1. 

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz auf Rüge hin oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen,
wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne
von Art. 95 beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs.
1 BGG).

1.2. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG) darf sich die
Verwaltung - und im Streitfall das Gericht - weder über die (den
beweisrechtlichen Anforderungen genügenden) medizinischen
Tatsachenfeststellungen hinwegsetzen noch sich die ärztlichen Einschätzungen
und Schlussfolgerungen zur (Rest-) Arbeitsfähigkeit unbesehen ihrer konkreten
sozialversicherungsrechtlichen Relevanz und Tragweite zu eigen machen. Die
medizinischen Fachpersonen und die Organe der Rechtsanwendung prüfen die
Arbeitsfähigkeit je aus ihrer Sicht (BGE 141 V 281 E. 5.2.1 S. 306; 140 V 193
E. 3         S. 194 ff.).

2. 
Im angefochtenen Entscheid sind die Bestimmungen und Grundsätze zum Anspruch
auf eine Invalidenrente, zur Aufgabe von Arzt und Ärztin bei der
Invaliditätsbemessung sowie zur Beweiswürdigung, namentlich bezüglich
ärztlicher Berichte und Gutachten, zutreffend dargelegt worden. Darauf wird
verwiesen.

3. 

3.1. Streitig und zu prüfen ist, ob ein Rentenanspruch besteht, wie dies der
Beschwerdeführer mit Neuanmeldung vom 1. Juli 2010 geltend macht. Das beurteilt
sich in analoger Anwendung der für die Rentenrevision geltenden Regeln.
Massgeblich ist demnach, ob eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen
Verhältnissen eingetreten ist, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit
den Rentenanspruch zu beeinflussen. Dabei bildet in zeitlicher Hinsicht die
letzte, auf einer materiellen Prüfung des Rentenanspruchs beruhende,
rechtskräftige Verfügung den Ausgangspunkt - hier demnach der 29. März 2007 -
und die streitige Verfügung den Endpunkt - hier der 24. April 2014 - für die
Beurteilung, ob eine solche Änderung eingetreten ist (vgl.    Art. 17 Abs. 1
ATSG; BGE 133 V 263 und 108; 130 V 71).

3.2. Die Vorinstanz hat den medizinischen Sachverhalt laut Medas-Gutachten vom
16. Oktober 2006 - welches als Grundlage der Verfügung vom 29. März 2007 diente
- mit demjenigen gemäss Gutachten der Gutachtenstelle C.________ vom 28.
Oktober 2013 verglichen. Sie stellte fest, gestützt auf die als beweiskräftig
eingestufte Expertise der Gutachtenstelle C.________ vom 28. Oktober 2013 habe
sich in somatischer Hinsicht keine wesentliche Änderung ergeben. Hingegen habe
sich der psychische Gesundheitszustand des Versicherten seit der
rentenablehnenden Verfügung im Jahre 2007 verschlechtert. Damit liege ein
Revisionsgrund vor.

3.3. Das kantonale Gericht führte weiter aus, gemäss Gutachten der
Gutachtenstelle C.________vom 28. Oktober 2013 leide der Beschwerdeführer an
einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode
(ICD-10: F33.1), an einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und
psychischen Faktoren (ICD-10: F45.41), an einer Ellbogengelenksarthrose links
(ICD-10: M19.92) und an einem chronischen zervikospondylogenen Schmerzsyndrom
(ICD-10: M53.0). Die Experten der Gutachtenstelle C.________ erachteten die
Arbeitsfähigkeit aus rheumatologischer Sicht in einer körperlich leichten bis
gelegentlich mittelschweren, wechselbelastenden Tätigkeit ohne besondere
Belastung für den linken Ellbogen und ohne Einnahme von Zwangshaltungen sowie
repetitiven Überkopfarbeiten als nicht eingeschränkt. Hingegen resultiere aus
psychiatrischer Sicht bei der langfristig vorhandenen affektiven Störung eine
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 50 %. Die eingetretene richtunggebende
Verschlechterung könne gemäss Gutachten ab einem Aufenthalt des Versicherten in
der psychiatrischen Klinik D.________ im Jahre 2009, spätestens jedoch ab dem
Zeitpunkt der Begutachtung im September 2013, angenommen werden. Die Vorinstanz
würdigte in der Folge die vom psychiatrischen Gutachter attestierte verminderte
Arbeitsfähigkeit im Lichte von BGE 130 V 352 und der darauf beruhenden weiteren
Rechtsprechung (u.a. BGE 139 V 547). Es hielt dafür, dass grundsätzlich von
einer Überwindbarkeit der Schmerzen auszugehen sei und beim Beschwerdeführer
nicht eine derart schwere psychiatrische Störung vorliege, die es ihm
verunmögliche, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Da die mittelgradige
depressive Episode auf der Grundlage psychosozialer Faktoren entstanden sei,
fiele sie invalidenversicherungsrechtlich ausser Betracht. Es könne nicht von
einer eigenständigen psychischen Erkrankung ausgegangen werden, weshalb eine
psychische Komorbidität von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer zu
verneinen sei. Nachdem auch die sogenannten Foerster-Kriterien (BGE 137 V 64 E.
4.1 S. 67 f.) nicht erfüllt seien, liege keine invalidisierende psychische
Arbeitsunfähigkeit vor.

3.4. Der Beschwerdeführer argumentiert, die Gutachter der Gutachtenstelle
C.________ hätten in erster Linie eine rezidivierende depressive Störung als
selbstständige Diagnose angeführt. Weiter könne die chronische Schmerzstörung
gemäss Gutachten nur teilweise als syndromales Beschwerdebild bezeichnet
werden, hätten doch auch somatische Beschwerden objektiviert werden können. Er
rügt sinngemäss eine Verletzung von Bundesrecht durch die Vorinstanz, weil
diese von den Schlussfolgerungen der medizinischen Gutachter, es bestehe aus
psychischen Gründen eine 50 %ige Arbeitsunfähigkeit, abgewichen sei. Beim
Zusammentreffen einer zuverlässig diagnostizierten depressiven Episode - die
beim Versicherten schon seit vielen Jahren andauere und auch seit mehr als fünf
Jahren therapeutisch (u.a. auch stationär) und medikamentös behandelt werde -
und einer somatoformen Schmerzstörung sei gemäss Praxis (8C_251/2013; SVR 2014
IV Nr. 12 S. 47) in erster Linie die fachärztliche Feststellung zur Beurteilung
des Gesundheitszustandes und der Arbeitsunfähigkeit massgeblich.

4. 

4.1. Da das Bundesgericht mit BGE 141 V 281 (Urteil 9C_492/2014 vom 3. Juni
2015) seine Rechtsprechung zu den Voraussetzungen, unter denen anhaltende
somatoforme Schmerzstörungen und vergleichbare psychosomatische Leiden eine
rentenbegründende Invalidität zu bewirken vermögen, grundlegend überdacht und
teilweise geändert hat, ist zu prüfen, welche Auswirkungen sich dadurch auf den
hier zu beurteilenden Fall ergeben (zur Anwendbarkeit einer
Rechtsprechungsänderung auf laufende Verfahren vgl. BGE 137 V 210 E. 6 S. 266).
Dies gilt insbesondere auch darum, weil das kantonale Gericht seinen Entscheid
weitgehend mit der nun überholten Rechtsprechung begründete.

4.2. Stärker als bisher hat die Invaliditätsbemessung bei psychosomatischen
Störungen den Aspekt der funktionellen Auswirkungen zu berücksichtigen, was
sich schon in den diagnostischen Anforderungen niederschlagen muss. Das
bisherige Regel/Ausnahme-Modell wird durch ein strukturiertes Beweisverfahren
ersetzt. Massgebend sind in Schweregrad und Konsistenz der funktionellen
Auswirkungen eingeteilte Standardindikatoren. Die Anerkennung eines
rentenbegründenden Invaliditätsgrades ist nur zulässig, wenn die funktionellen
Auswirkungen der medizinisch festgestellten gesundheitlichen Anspruchsgrundlage
im Einzelfall anhand der Standardindikatoren schlüssig und widerspruchsfrei mit
(zumindest) überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sind (BGE 141 V 281
E. 6 S. 307 f.).

4.3. Die bei den Akten liegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere das von
der Vorinstanz als beweistauglich erachtete Gutachten der Gutachtenstelle
C.________ vom 28. Oktober 2013, erlauben keine schlüssige Beurteilung im
Lichte der Beurteilungsindikatoren gemäss BGE 141 V 281. Die Expertise ist
insofern nicht umfassend, als sie keine fundierte Prüfung der Diagnosen unter
dem Gesichtspunkt allfälliger Fallumstände enthält, die die
Gesundheitsschädigung als nicht rechtserheblich erscheinen lassen (vgl. dazu
BGE 141 V 281 E. 2.2 S. 287). Ebenso wenig lassen sich gestützt darauf die beim
Beschwerdeführer relevanten Indikatoren hinsichtlich funktionellem Schweregrad
und Konsistenz der funktionellen Auswirkungen der massgeblichen Befunde
abschliessend beurteilen (vgl. dazu BGE 141 V 281 E. 4.3 u. 4.4. S. 298 ff.).
Die Sache ist daher an die IV-Stelle zurück zu weisen, damit sie ergänzende
Abklärungen veranlasse. Die Experten werden sich unter anderem eingehend zu den
erwähnten noch offenen Sachverhaltselementen zu äussern haben, wobei ihnen der
von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe ausgearbeitete Fragenkatalog gemäss
Anhang zum IV-Rundschreiben Nr. 339 des Bundesamtes für Sozialversicherungen
als Leitlinie dienen mag. Danach wird die IV-Stelle über den Leistungsanspruch
des Beschwerdeführers neu zu verfügen haben.

5. 
Bei diesem Verfahrensausgang hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine
Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Das Gesuch um
unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung für das letztinstanzliche
Verfahren ist damit gegenstandslos.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 24. Februar 2015 und die Verfügung
der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 24. April 2014 werden aufgehoben. Die
Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Aargau
zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Pensionskasse B.________, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. November 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Schüpfer

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