Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.269/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_269/2015

Urteil vom 18. August 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Hochuli.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Solothurn,
Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdeführerin,

gegen

 A.________, vertreten durch Assista Rechtsschutz AG TCS Rechtsschutz,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invaliditätsgrad; abgestufte Rente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 3. März 2015.

Sachverhalt:

A. 

A.a. A.________, reiste 1992 aus Serbien in die Schweiz ein. Ab 1999 arbeitete
sie als Raumpflegerin für die Firma B.________ AG im Spital C.________. Am 19.
März 2008 meldete sie sich bei der IV-Stelle des Kantons Solothurn wegen seit
drei Jahren anhaltender Rücken- und Fussschmerzen zum Leistungsbezug an. Nach
medizinischen und erwerblichen Abklärungen sprach die IV-Stelle der
Versicherten mit zwei Verfügungen vom 2. Juni 2010 rückwirkend für die Dauer
vom 1. Mai bis 31. Dezember 2008 bei einem Invaliditätsgrad von 100% eine ganze
und mit Wirkung ab 1. Januar 2009 eine Viertelsrente basierend auf einem
Invaliditätsgrad von 42% zu. Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit unangefochten in Rechtskraft
erwachsenem Entscheid vom 24. März 2011 in dem Sinne gut, als es die Verfügung
betreffend den Rentenanspruch ab 1. Januar 2009 aufhob und die Sache
diesbezüglich im Sinne der Erwägungen zur weiteren Abklärung - insbesondere zur
Einholung eines rheumatologisch-orthopädischen Gutachtens - an die Verwaltung
zurück wies.

A.b. Nach Durchführung der Abklärungen sprach die IV-Stelle der Versicherten
rückwirkend für die befristete Dauer vom 1. Mai 2008 bis 31. Mai 2009 eine
ganze Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 100% zu (Verfügung vom 30.
November 2012, welche die Verfügung vom 2. Juni 2010 ersetzte).

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde der A.________ hiess das Versicherungsgericht
des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 3. März 2015 gut, hob die angefochtene
Verfügung der IV-Stelle vom 30. November 2012 auf und verpflichtete Letztere,
der Versicherten auch über den 31. Mai 2009 hinaus unbefristet eine ganze
Invalidenrente auszurichten.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle, der angefochtene Gerichtsentscheid sei aufzuheben und die Verfügung
der IV-Stelle vom 30. November 2012 vollumfänglich zu bestätigen. Zudem sei der
Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen.

Während A.________ unter Verzicht auf eine Stellungnahme zum Gesuch um
aufschiebende Wirkung auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung.

D. 
Mit Verfügung vom 22. Juni 2015 hat der Instruktionsrichter der Beschwerde
aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt
werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Trotzdem prüft es - vorbehältlich offensichtlicher Fehler - nur die in
seinem Verfahren geltend gemachten Rechtswidrigkeiten (Art. 42 Abs. 1 und 2
BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2
BGG). Rechtsfragen sind die vollständige Feststellung erheblicher Tatsachen
sowie die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes bzw. der
Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG und der Anforderungen an den
Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232). Die aufgrund
Letzterer gerichtlich festgestellte Gesundheitslage bzw. Arbeitsfähigkeit und
die konkrete Beweiswürdigung sind Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397; nicht
publ. E. 4.1 des Urteils BGE 135 V 254, veröffentlicht in SVR 2009 IV Nr. 53 S.
164 [9C_204/2009]).

2. 
Streitig ist, ob sich der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin im Februar
2009 in anspruchsrelevanter erheblicher Weise verbessert hat, so dass die
IV-Stelle mit Verfügung vom 30. November 2012 bei einem ermittelten
Invaliditätsgrad von zuerst 100% sowie ab Februar 2009 noch 20% rückwirkend zu
Recht nur für die befristete Dauer vom 1. Mai 2008 bis 31. Mai 2009 eine ganze
Invalidenrente zugesprochen hat, oder ob im Gegenteil - wie vom kantonalen
Gericht festgestellt - eine anspruchsrelevante Änderung des
Gesundheitszustandes nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit nachweisbar ist, und die Versicherte deshalb auch über den
31. Mai 2009 hinaus Anspruch auf eine ganze Invalidenrente hat.

3.

3.1. Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen und die von der
Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, namentlich diejenigen zum Begriff der
Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG), der
Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG) und der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG)
zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die Ausführungen zum Anspruch und
Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 2 IVG), zur Bemessung des
Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der allgemeinen Methode
des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG in Verbindung mit Art. 28a Abs. 1 IVG;
BGE 130 V 343 E. 3.4 S. 348; 128 V 29 E. 1 S. 30; 104 V 135 E. 2a und b S. 136)
sowie zur Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten im Rahmen der Invaliditätsbemessung
(BGE 125 V 256 E. 4 S. 261) und zum Beweiswert medizinischer Berichte und
Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352). Richtig sind auch die Ausführungen zur
Praxis, wonach der Umstand allein, dass Umfang und allenfalls Dauer des
Rentenanspruchs über den verfügungsweise geregelten Zeitraum hinweg variieren,
unter anfechtungs- und streitgegenständlichem Gesichtspunkt belanglos ist; denn
wird nur die Abstufung oder die Befristung der Leistungen angefochten, wird
damit die gerichtliche Überprüfungsbefugnis nicht in dem Sinne eingeschränkt,
dass unbestritten gebliebene Bezugszeiten von der Beurteilung ausgeklammert
bleiben (BGE 131 V 164 E. 2.2 S. 165; 125 V 413 Erw. 2d mit Hinweisen). Darauf
wird verwiesen.

3.2. Beizufügen ist, dass die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die
Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben wird (Art. 17 Abs. 1
ATSG; Art. 88a IVV), wenn sich der Invaliditätsgrad eines Rentenbezügers
erheblich ändert. Anlass zur Rentenrevision gibt jede wesentliche Änderung in
den tatsächlichen Verhältnissen seit Zusprechung der Rente, die geeignet ist,
den Invaliditätsgrad und damit den Anspruch zu beeinflussen. Insbesondere ist
die Rente bei einer wesentlichen Änderung des Gesundheitszustandes oder der
erwerblichen Auswirkungen des an sich gleich gebliebenen Gesundheitszustandes
revidierbar (BGE 134 V 131 E. 3 S. 132). Nach der Rechtsprechung sind diese
Revisionsbestimmungen bei der rückwirkenden Zusprechung einer abgestuften oder
befristeten Rente analog anwendbar (BGE 133 V 263 E. 6.1 mit Hinweisen), weil
noch vor Erlass der ersten Rentenverfügung eine anspruchsbeeinflussende
Änderung eingetreten ist mit der Folge, dass dann gleichzeitig die Änderung
mitberücksichtigt wird. Wird rückwirkend eine abgestufte oder befristete Rente
zugesprochen, sind einerseits der Zeitpunkt des Rentenbeginns und anderseits
der in Anwendung der Dreimonatsfrist von Art. 88a IVV festzusetzende Zeitpunkt
der Anspruchsänderung die massgebenden Vergleichszeitpunkte (Urteil 8C_350/2013
vom 5. Juli 2013 E. 2.2 mit Hinweisen). Die Verbesserung der Arbeitsfähigkeit
aufgrund einer Angewöhnung oder Anpassung an die Behinderung kann auch ohne
wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes eine Rentenrevision
rechtfertigen. Hingegen ist die lediglich unterschiedliche Beurteilung eines im
Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhalts im revisionsrechtlichen Kontext
unbeachtlich (BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 10 f. mit Hinweisen).

4. 
Die Parteien sind sich einig, dass dem von der IV-Stelle eingeholten Gutachten
der Gutachterstelle D.________ (polydisziplinäres Gutachten vom 18. August 2011
der Gutachterstelle D.________) grundsätzlich voller Beweiswert zukommt.

5.

5.1. Nach einlässlicher Würdigung der umfangreichen medizinischen Aktenlage hat
das kantonale Gericht mit Blick auf die ausschlaggebenden fachärztlichen
Befunde ausführlich, nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass daraus
nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad auf eine im Februar 2009 eingetretene
anspruchserhebliche "graduelle Verbesserung des Gesundheitszustands"
geschlossen werden könne. Dem Gutachten der Gutachterstelle D.________ seien
nicht genügend konkrete Anhaltspunkte für eine positive Krankheitsentwicklung
oder eine Verbesserung der Arbeitsfähigkeit zu entnehmen. Letzteres lasse sich
gestützt auf das Gutachten der Gutachterstelle D.________ auch nicht mit einer
Angewöhnung oder Anpassung an die Behinderung begründen. Es sei vielmehr davon
auszugehen, dass die Gutachter der Gutachterstelle D.________ den im
Wesentlichen befundmässig gleich gebliebenen Sachverhalt im Vergleich zu den
früheren medizinischen Grundlagen unterschiedlich beurteilt hätten, was jedoch
praxisgemäss revisionsrechtlich unbeachtlich bleiben müsse (vgl. dazu hievor E.
2.2 i.f.).

5.2. Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe die nach Art. 17 ATSG und
der einschlägigen Rechtsprechung geltenden Grundsätze in Bezug auf die
rückwirkende Zusprechung einer befristeten Invalidenrente verletzt.

5.2.1. Vorweg scheint die IV-Stelle zu beanstanden, das kantonale Gericht sei
nach Massgabe seines rechtskräftigen Rückweisungsentscheides vom 24. März 2011
an seine eigene Auffassung gebunden geblieben. Der Zeitraum bis Ende 2008 sei
daher - unabhängig davon, dass damals im Wege der Rückweisung eine
rheumatologisch-orthopädische Abklärung nachzuholen war - im aktuellen
Beschwerdeverfahren keiner neuen Beurteilung mehr zugänglich gewesen.

5.2.2. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Zunächst ist festzuhalten,
dass anlässlich der ersten Beurteilung durch das kantonale Gericht die von der
Beschwerdeführerin per 31. Dezember 2008 verfügte Abstufung (ganze Rente bis
31. Dezember 2008 und Viertelsrente ab 1. Januar 2009) im Zusammenhang mit der
rückwirkenden Rentenzusprechung vom 2. Juli 2010 strittig und durch ergänzende
medizinische Abklärungen zu überprüfen war. Hätte das danach von der Verwaltung
eingeholte Gutachten der Gutachterstelle D.________ den für die ursprüngliche
Abstufung der Rente per 31. Dezember 2008 notwendigen Nachweis des Eintritts
einer wesentlichen Verbesserung des Gesundheitszustandes im September 2008 mit
dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachträglich
erbracht, wäre eine von der IV-Stelle im zweiten Rechtsgang erneut erlassene
Verfügung mit rückwirkender Zusprache einer identisch abgestuften Rente wohl
durch das kantonale Gericht zu bestätigen gewesen.

Am Streitgegenstand der ab 1. Mai 2008 rückwirkend zugesprochenen
Invalidenrente mit Abstufung bzw. Befristung änderte sich im zweiten Rechtsgang
- abgesehen von der nunmehr per 31. Mai 2009 verfügten Befristung -
grundsätzlich nichts. Dementsprechend ersetzte denn auch die IV-Stelle ihre
Verfügung vom 2. Juni 2010 durch diejenige vom 30. November 2012, mit welcher
sie die vom 1. Mai 2008 bis 31. Mai 2009 befristete Rente in einer einzigen
Verfügung zusprach. Praxisgemäss war dabei die gerichtliche
Überprüfungsbefugnis nicht in dem Sinne eingeschränkt, dass unbestritten
gebliebene Bezugszeiten von der Beurteilung hätten ausgeklammert bleiben müssen
(vgl. hievor E. 2.1 i.f.).

5.2.3. Soweit die Beschwerdeführerin die vorinstanzliche
Sachverhaltsfeststellung im Rahmen der eben erwähnten Überprüfungsbefugnis des
kantonalen Gerichts zu beanstanden scheint, legt sie nicht dar und ist nicht
ersichtlich, inwiefern die Vorinstanz dabei die rechtserheblichen Tatsachen
offensichtlich unrichtig - also willkürlich (vgl. SVR 2015 IV Nr. 26 S. 78,
8C_616/2014 E. 1.1 mit Hinweisen) - festgestellt oder anderweitig Bundesrecht
verletzt haben sollte.

5.3. Soweit die Beschwerde führende IV-Stelle entsprechende Einwände überhaupt
rechtsgenüglich erhob und begründete (Art. 42 Abs. 2 BGG), ist nach dem
Gesagten weder die Beweiswürdigung noch die Sachverhaltsfeststellung des
kantonalen Gerichts als bundesrechtswidrig zu beanstanden. Jedenfalls vermögen
die Vorbringen der Verwaltung den mit angefochtenem Entscheid verneinten
Eintritt einer anspruchserheblichen Änderung des Gesundheitszustandes im
Februar 2009 nicht in Frage zu stellen.

6. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die unterliegende IV-Stelle hat die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Versicherte hat Anspruch auf
eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1000.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. August 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Hochuli

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