Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.240/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_240/2015

Urteil vom 18. November 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiberin Kopp Käch.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Elisabeth Tribaldos,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

Sammelstiftung Vita,
8085 Zürich.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 25. Februar 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1978 geborene A.________ war zuletzt seit 17. Mai 2010 als Hilfsarbeiterin
Produktion/Näherin bei der B.________ AG tätig. Am 30. Januar 2012 meldete sie
sich unter Hinweis auf Rücken-, Nacken- und Kopfschmerzen, Schmerzausstrahlung
in die Beine sowie Erbrechen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug
an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau führte erwerbliche und medizinische
Abklärungen durch und veranlasste namentlich eine orthopädisch-psychiatrische
Begutachtung durch das Abklärungszentrum C.________ vom 28. Juni 2013. Nach
Konsultation des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) und des Rechtsdienstes
sowie nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren verneinte die IV-Stelle mit
Verfügung vom 5. Mai 2014 einen Rentenanspruch.

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 25. Februar 2015 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________
beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids seien ihr die
gesetzlichen Leistungen zuzusprechen, eventualiter sei die Sache zur erneuten
Abklärung und zum anschliessenden Entscheid über den Rentenanspruch an die
IV-Stelle zurückzuweisen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Im Rahmen des gewährten rechtlichen Gehörs lässt A.________ mit Eingabe vom 27.
Oktober 2015 zum zwischenzeitlich ergangenen BGE 141 V 281 Stellung nehmen.

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz auf Rüge hin oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen,
wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne
von Art. 95 beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs.
1 BGG).

1.2. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG) darf sich die
Verwaltung - und im Streitfall das Gericht - weder über die (den
beweisrechtlichen Anforderungen genügenden) medizinischen
Tatsachenfeststellungen hinwegsetzen noch sich die ärztlichen Einschätzungen
und Schlussfolgerungen zur (Rest-) Arbeitsfähigkeit unbesehen ihrer konkreten
sozialversicherungsrechtlichen Relevanz und Tragweite zu eigen machen. Die
medizinischen Fachpersonen und die Organe der Rechtsanwendung prüfen die
Arbeitsfähigkeit je aus ihrer Sicht (BGE 141 V 281 E. 5.2.1 S. 306; 140 V 193
E. 3 S. 194 ff.).

2. 
Streitig und - im Rahmen der dargelegten Kognition - zu prüfen ist die
vorinstanzlich bestätigte Verneinung des Anspruchs auf eine Invalidenrente.
Die hiefür massgeblichen Rechtsgrundlagen sind im Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 25. Februar 2015 zutreffend
dargelegt worden. Dies betrifft namentlich die Bestimmungen und Grundsätze zum
Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1
ATSG) und zu den Voraussetzungen des Rentenanspruchs (Art. 28 IVG). Richtig
sind auch die Ausführungen zur Aufgabe der Ärztin oder des Arztes im Rahmen der
Invaliditätsbemessung (BGE 132 V 93 E. 4 S. 99 f.; 125 V 256 E. 4 S. 261 mit
Hinweisen) sowie zum Beweiswert und zur Beweiswürdigung medizinischer Berichte
und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3 S. 352 mit
Hinweisen). Darauf wird verwiesen.

3.

3.1. Die Vorinstanz hat festgestellt, gemäss dem als beweiskräftig eingestuften
orthopädisch-psychiatrischen Gutachten des Abklärungszentrums C.________ vom
28. Juni 2013 leide die Beschwerdeführerin an einer Spondylarthrose und
Discusprotrusion L4/5 mit rezessaler Einengung L5 beidseits ohne eindeutige
Kompression der Nervenwurzeln sowie an einer leichten Spondylarthrose und
Discushernie L5/S1 mit Kontakt zur Nervenwurzel S1 links mit
Pseudolumboischialgie beidseits, an einer rezidivierenden depressiven Störung
mit anhaltender mittelgradiger Episode mit somatischem Syndrom, bestehend seit
mindestens 02/2012 (ICD-10: F33.11), an einer anhaltenden somatoformen
Schmerzstörung, bestehend seit mindestens 02/2012 (ICD-10: F45.4) sowie an
einem cervicovertebralen Syndrom. In der angestammten Tätigkeit als Näherin
hielten die Gutachter die Versicherte seit November 2011 zu 60 % und seit
Februar 2012 zu 40 % arbeitsfähig. In einer leidensadaptierten Tätigkeit
erachteten die Gutachter die Arbeitsfähigkeit aus orthopädischer Sicht als
nicht eingeschränkt; aus psychiatrischer Sicht könne eine 50%ige
Arbeitsfähigkeit bei vollem Stundenpensum seit etwa 02/2012 angenommen werden.
Weiter hat das kantonale Gericht erwogen, die Beschwerdegegnerin sei zu Recht
davon ausgegangen, dass die geklagten Beschwerden im Sinne der Rechtsprechung
gemäss BGE 130 V 352 und der darauf beruhenden weiteren Entscheide (u.a. BGE
139 V 547) überwindbar und daher nicht invalidisierend seien. Gemäss Gutachten
- so die Vorinstanz - liege keine eigenständige depressive Erkrankung vor,
sondern handle es sich bloss um eine Begleiterscheinung der anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung. Nachdem die somit anwendbaren sogenannten
Foerster-Kriterien nicht erfüllt seien, sei die IV-Stelle zu Recht von einer
Arbeitsfähigkeit von 100 % in einer leidensadaptierten Tätigkeit ausgegangen.

3.2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, bei der im Gutachten vom 28. Juni
2013 attestierten Arbeitsfähigkeit von 50 % in einer leidensadaptierten
Tätigkeit handle es sich um die in Anbetracht der ausführlich diskutierten
Foerster-Kriterien noch zumutbare Restarbeitsfähigkeit. Eine somatoforme
Schmerzstörung könne in Verbindung mit einer mittelgradigen depressiven Störung
eine IV-rechtliche Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit bewirken und somit
zu einer teilweisen Unüberwindbarkeit der Beschwerden und zu einer teilweisen
Invalidisierung führen. Es lägen daher keine zwingenden rechtlichen Gründe vor,
von der schlüssig und widerspruchsfrei begründeten Meinung der medizinischen
Experten abzuweichen. Des Weiteren bringt die Beschwerdeführerin im
Wesentlichen vor, sie werde durch das Abweichen von der gutachterlich
attestierten Arbeitsunfähigkeit im Vergleich mit denjenigen Versicherten, bei
denen eine anhaltende depressive Störung ohne körperliches Syndrom bestehe,
rechtlich anders behandelt, obwohl die mittelgradige Depression als Ursache der
Arbeitsunfähigkeit dieselben Auswirkungen habe, was eine Verletzung von Art. 8
Abs. 2 BV sowie von Art. 6 Abs. 1 EMRK darstelle.

4.

4.1. Da das Bundesgericht mit BGE 141 V 281 (Urteil 9C_492/2014 vom 3. Juni
2015) seine Rechtsprechung zu den Voraussetzungen, unter denen anhaltende
somatoforme Schmerzstörungen und vergleichbare psychosomatische Leiden eine
rentenbegründende Invalidität zu bewirken vermögen, grundlegend überdacht und
teilweise geändert hat, ist zu prüfen, welche Auswirkungen sich dadurch auf den
hier zu beurteilenden Fall ergeben (zur Anwendbarkeit einer
Rechtsprechungsänderung auf laufende Verfahren vgl. BGE 137 V 210 E. 6 S. 266).
Dies gilt insbesondere auch darum, weil das kantonale Gericht seinen Entscheid
weitgehend mit der nun überholten Rechtsprechung begründete.

4.2. Stärker als bisher hat die Invaliditätsbemessung bei psychosomatischen
Störungen den Aspekt der funktionellen Auswirkungen zu berücksichtigen, was
sich schon in den diagnostischen Anforderungen niederschlagen muss. Das
bisherige Regel/Ausnahme-Modell wird durch ein strukturiertes Beweisverfahren
ersetzt. Massgebend sind in Schweregrad und Konsistenz der funktionellen
Auswirkungen eingeteilte Standardindikatoren. Die Anerkennung eines
rentenbegründenden Invaliditätsgrades ist nur zulässig, wenn die funktionellen
Auswirkungen der medizinisch festgestellten gesundheitlichen Anspruchsgrundlage
im Einzelfall anhand der Standardindikatoren schlüssig und widerspruchsfrei mit
(zumindest) überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sind (BGE 141 V 281
E. 6 S. 307 f.).

5. 
Die bei den Akten liegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere das von der
Vorinstanz als beweistauglich erachtete Gutachten des Abklärungszentrums
C.________ vom 28. Juni 2013, erlauben keine schlüssige Beurteilung im Lichte
der Beurteilungsindikatoren gemäss BGE 141 V 281. Die Expertise ist insofern
nicht umfassend, als sie keine fundierte Prüfung der Diagnosen unter dem
Gesichtspunkt allfälliger Fallumstände enthält, die die Gesundheitsschädigung
als nicht rechtserheblich erscheinen lassen (vgl. dazu BGE 141 V 281 E. 2.2 S.
287). Ebenso wenig lassen sich gestützt darauf die bei der Beschwerdeführerin
relevanten Indikatoren hinsichtlich funktionellem Schweregrad und Konsistenz
der funktionellen Auswirkungen der massgeblichen Befunde abschliessend
beurteilen (vgl. dazu BGE 141 V 281 E. 4.3 u. 4.4. S. 298 ff.). Die Sache ist
daher an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie ergänzende Abklärungen
veranlasse. Die Experten werden sich unter anderem eingehend zu den erwähnten
noch offenen Sachverhaltselementen zu äussern haben, wobei ihnen der von einer
interdisziplinären Arbeitsgruppe ausgearbeitete Fragenkatalog gemäss Anhang zum
IV-Rundschreiben Nr. 339 des Bundesamtes für Sozialversicherungen als Leitlinie
dienen mag. Danach wird die IV-Stelle über den Leistungsanspruch der
Beschwerdeführerin neu zu verfügen haben.

6. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG) und der Beschwerdeführerin
eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 25. Februar 2015 und die Verfügung
der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 5. Mai 2014 werden aufgehoben. Die Sache
wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen. Im
Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau
zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Sammelstiftung Vita, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. November 2015
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Kopp Käch

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