Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.210/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_210/2015

Urteil vom 4. November 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Berger Götz.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Zimmermann,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
17. Februar 2015.

Sachverhalt:

A. 
Die 1962 geborene A.________ arbeitete zuletzt von Mai 1995 bis November 1996
als Hilfsarbeiterin in Teilzeit bei der B.________ AG. Am 8. Juni 1999 meldete
sie sich wegen Beschwerden an Hand, Schulter und Rücken bei der
Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Nach Abklärungen in medizinischer
(Gutachten des Zentrums C.________, vom 18. Februar 2003) sowie in erwerblicher
Hinsicht sprach die IV-Stelle des Kantons Thurgau A.________ rückwirkend ab 1.
April 2000 eine ganze Invalidenrente zu (vgl. Mitteilung vom 12. März 2004).
Der Anspruch auf eine ganze Rente wurde revisionsweise in den Jahren 2006 und
2010 bestätigt. Nachdem A.________ ihren Wohnsitz in den Kanton Aargau verlegt
hatte, veranlasste die neu zuständige IV-Stelle des Kantons Aargau im Rahmen
eines im Jahr 2012 eingeleiteten Revisionsverfahrens eine polydisziplinäre
Begutachtung. Gestützt auf das Gutachten der D.________ AG vom 10. Juni 2013
hob die Verwaltung die ganze Rente gestützt auf die Schlussbestimmungen der
Änderung des IVG vom 18. März 2011 (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket, in
Kraft getreten am 1. Januar 2012 [AS 2011 5659]; nachfolgend: SchlBest IVG) mit
Verfügung vom 1. November 2013 auf.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 17. Februar 2015 ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde führen und beantragen, in Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids sei ihr weiterhin eine ganze Rente auszurichten,
eventualiter sei die Sache an die Verwaltung zur rechtskonformen
Sachverhaltsabklärung und Neubeurteilung zurückzuweisen.
Sämtliche Verfahrensbeteiligte verzichten auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung
nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist aufgrund der Vorbringen in der
Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid
in der Anwendung der massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen
(u.a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG), einschliesslich einer
allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105
Abs. 2 BGG).

2. 
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin auch nach dem 31.
Dezember 2013 einen Anspruch auf eine Invalidenrente hat.

2.1. Unabhängig von einem materiellen Revisionsgrund kann der
Versicherungsträger nach Art. 53 Abs. 2 ATSG wiedererwägungsweise auf formell
rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese
zweifellos unrichtig sind und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist.
Wird die zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung erst vom
Gericht festgestellt, kann dieses ein (zu Unrecht) auf Art. 17 ATSG gestütztes
Rückkommen mit dieser substituierten Begründung schützen (BGE 125 V 368 E. 2 S.
369; SVR 2014 IV Nr. 39 S. 137, 9C_121/2014 E. 3.2.1). Vorausgesetzt wird, dass
kein vernünftiger Zweifel an der Unrichtigkeit der Verfügung möglich, also nur
dieser einzige Schluss denkbar ist (SVR 2014 IV Nr. 39 S. 137, 9C_121/2014 E.
3.2.1). Dies trifft in der Regel zu, wenn eine Leistungszusprechung aufgrund
falscher Rechtsregeln erfolgte oder wenn massgebliche Bestimmungen nicht oder
unrichtig angewandt wurden. Soweit indessen ermessensgeprägte Teile der
Anspruchsprüfung vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage einschliesslich
der Rechtspraxis im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung (BGE 125
V 383 E. 3 S. 389 f.) in vertretbarer Weise beurteilt worden sind, scheidet die
Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus (SVR 2014 IV Nr. 39 S. 137, 9C_121/2014
E. 3.2.1; Urteil 8C_680/2014 vom 16. März 2015 E. 3.1, 9C_427/2014 vom 1.
Dezember 2014 E. 2.2).

2.2. Die Vorinstanz schloss eine Rentenrevision gestützt auf die SchlBest IVG
aus, weil die Rentenzusprache zwar aufgrund von pathogenetisch-ätiologisch
unklaren syndromalen Beschwerdebildern, aber auch aufgrund des
Karpaltunnelsyndroms und der mittelgradigen depressiven Episode erfolgte.
Hingegen hob sie die Invalidenrente mittels substituierter Begründung der
Wiedererwägung gestützt auf Art. 53 Abs. 2 ATSG auf. Das kantonale Gericht
erachtete die zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung als
gegeben, weil trotz der geäusserten Bedenken des RAD-Arztes am Gutachten des
Zentrums C.________ vom 18. August 2003 keine weiteren Abklärungen durch die
Verwaltung erfolgt seien und eine ganze Invalidenrente gestützt auf eine 30%ige
Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit verfügt worden sei. Dabei habe
die Verwaltung zudem ausser Acht gelassen, dass die Einschätzung der
Arbeitsunfähigkeit auch unter Berücksichtigung von psychosozialen
Belastungsfaktoren erfolgt sei. Gestützt auf das Gutachten der D.________ AG
vom 10. Juni 2013 sei von einer 70%igen Arbeitsfähigkeit in der angestammten
Tätigkeit auszugehen, was mittels Prozentvergleich einen rentenausschliessenden
IV-Grad ergebe. Deshalb sei die Renteneinstellung gemäss Verfügung vom 1.
November 2013 im Ergebnis rechtens.

2.3. Beschwerdeweise wird vorgebracht, dass dem Gutachten des Zentrums
C.________ vom 18. Februar 2003 voller Beweiswert zukomme, insbesondere sei die
attestierte Arbeitsunfähigkeit von 70 % auch in leidensangepasster Tätigkeit
begründet. Diese Einschätzung stimme mit den übrigen medizinischen Akten
überein. Bei den Gutachtern handle es sich um erfahrene Ärzte, weshalb
auszuschliessen sei, dass fälschlicherweise psychosoziale Belastungsfaktoren
bei der attestierten Arbeitsunfähigkeit berücksichtigt worden seien. Die
Voraussetzungen einer Wiedererwägung seien genauso wenig gegeben wie die einer
Revision nach Art. 17 ATSG oder nach den SchlBest IVG.

3.

3.1. Entgegen den Ausführungen in der Beschwerde ist der Vorinstanz
zuzustimmen, dass die IV-Stelle die berechtigten Zweifel ihres RAD-Arztes am
Gutachten des Zentrums C.________ vom 18. Februar 2003 ignorierte. Zu Recht
wies das kantonale Gericht auf die Ausführungen des RAD-Arztes hin, wonach in
somatischer Hinsicht der orthopädische Facharzt im Gutachten des Zentrums
C.________ zumindest von einer Teilarbeitsfähigkeit ausging. So hielt der
Orthopäde des Zentrums C.________ ausdrücklich fest, in radiologischer Hinsicht
resultierten äusserst geringe Befunde und ausser einer ausgeprägten
lumbal-linkskonvexen Skoliose seien die Verhältnisse unauffällig. Die
radiologischen Untersuchungen der Hände und Handgelenke ergaben blande Befunde.
Der Orthopäde des Zentrums C.________ diagnostizierte nur einen Verdacht auf
ein Karpaltunnelsyndrom beidseits. Gestützt auf seine Beurteilung schloss er
auf eine lediglich "mässige" Einschränkung in der Tätigkeit als Hausfrau. Damit
stehen seine Ausführungen im Widerspruch zur Diagnosestellung der Kommission
für medizinische Begutachtung und zu deren Einschätzung der Arbeitsfähigkeit.
Obschon der orthopädische Teilgutachter lediglich eine Verdachtsdiagnose
stellte, findet sich unter den Hauptdiagnosen (mit Einfluss auf die
Arbeitsfähigkeit) ein Karpaltunnelsyndrom beidseits. Die Schlussfolgerung der
Kommission, wonach die Arbeitsfähigkeit aufgrund der somatischen Krankheiten
deutlich eingeschränkt sei, lässt sich aus den Erläuterungen des orthopädischen
Facharztes nicht ableiten. Demzufolge durfte die Vorinstanz darauf schliessen,
dass die Verwaltung zu Unrecht auf die im Gutachten des Zentrums C.________
attestierte Arbeitsunfähigkeit abstellte.

3.2. Bezüglich der im Gutachten des Zentrums C.________ diagnostizierten
depressiven Störung, gegenwärtig mittelschwere Episode, führte die Vorinstanz
weiter richtig aus, dass der psychiatrische Gutachter des Zentrums C.________,
entgegen den Ausführungen in der Beschwerde, psychosoziale Belastungsfaktoren
mitberücksichtigt habe. So hielt der Psychiater fest: "Zeitlich zusammenfallend
mit der schwierigen psychosozialen Belastungssituation, insbesondere auch durch
die schwere Erkrankung der älteren Tochter, traten bei der Versicherten auch
Depressionen auf (...) ". Bezüglich der Arbeitsfähigkeit erläuterte er, dass
sich sowohl die anhaltende somatoforme Schmerzstörung als auch die depressive
Phase einschränkend auswirkten. Eine fachärztliche Stellungnahme zur Bedeutung
der als ausserordentlich schwer beschriebenen psychosozialen
Belastungssituation fehlt gänzlich. Das kantonale Gericht stellte demnach
zutreffend fest, die Verwaltung hätte weitere Abklärungen tätigen müssen, um
die Bedeutung der psychosozialen Faktoren bei der Bemessung der
Arbeitsfähigkeit zu eruieren. Die Vorinstanz schloss aus den fehlenden weiteren
psychiatrischen Abklärungen und aus den Widersprüchen im Gutachten des Zentrums
C.________ bezüglich der somatischen Befunde zu Recht auf eine Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes durch die IV-Stelle. Die kantonalgerichtliche
Beweiswürdigung, wonach die ursprüngliche Rentenverfügung in Wiedererwägung zu
ziehen sei, da sie offensichtlich unrichtig sei, ist demnach nicht
bundesrechtswidrig. Die voraussetzungslose Überprüfung der laufenden Rente
sowie die im Gutachten der D.________ AG festgestellte und unbestrittene
Arbeitsfähigkeit von 70 % in der angestammten Tätigkeit sind korrekt.

4. 
Schliesslich wird der von der Vorinstanz errechnete rentenausschliessende
IV-Grad von 30 % nicht beanstandet. Zusammenfassend ist daher festzuhalten,
dass der angefochtene Gerichtsentscheid, mit welchem die
Rentenaufhebungsverfügung vom 1. November 2013 bestätigt wird, rechtmässig ist.

5. 
Bei diesem Verfahrensausgang werden die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin
als unterliegender Partei auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. November 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz

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