Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.183/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
8C_183/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 17. November 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Maillard,
Gerichtsschreiberin Hofer.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Advokat Guido Ehrler,
Beschwerdeführer,

gegen

SWICA Krankenversicherung AG,
Rechtsdienst, Römerstrasse 38, 8400 Winterthur,
Beschwerdegegnerin,

IV-Stelle Basel-Stadt,
Lange Gasse 7, 4052 Basel,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Drittauszahlung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Basel-Stadt vom 21. Januar 2015.

Sachverhalt:

A.

A.a. Der 1969 geborene A.________ war über seinen Arbeitgeber bei der SWICA
Krankenversicherung AG (nachfolgend: SWICA) kollektiv taggeldversichert. Ab dem
8. Oktober 2008 richtete ihm die SWICA zufolge einer krankheitsbedingten
Arbeitsunfähigkeit Taggelder aus. Das Arbeitsverhältnis endete am 31. Oktober
2008. Mit Wirkung ab    1. November 2008 trat A.________ in die
Einzel-Taggeldversicherung Salaria VVG der SWICA Gesundheitsorganisation über,
welche ihm weiterhin Taggelder ausrichtete.

A.b. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt verpflichtete die
IV-Stelle mit Entscheid vom 15. Januar 2014, A.________ mit Wirkung ab November
2009 eine halbe Invalidenrente zu gewähren. Mit Verfügung vom 8. Mai 2014
sprach ihm die IV-Stelle rückwirkend ab 1. November 2009 eine halbe Rente samt
zwei Kinderrenten zu. Unter Hinweis auf die allgemeinen
Versicherungsbedingungen machte die SWICA mit Verrechnungsantrag vom 15. April
2014 in der Zeit vom 1. November 2009 bis 9. August 2010 ausgerichtete
Vorschussleistungen in Höhe von Fr. 18'469.15 geltend. Die IV-Stelle hielt am
8. Mai 2014 fest, mangels unterschriftlicher Zustimmung der
leistungsansprechenden Person oder eines direkten Rückforderungsanspruchs
gegenüber Leistungen der Invalidenversicherung habe die SWICA keinen Anspruch
auf Verrechnung ihrer Taggeldleistungen mit Rentennachzahlungen. Sie überwies
daher den Betrag an den Versicherten.

B. 
Die SWICA reichte dagegen Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des
Kantons Basel-Stadt ein und beantragte, die IV-Stelle sei zu verpflichten, die
Verrechnung der Taggeldleistungen im Betrag von Fr. 18'469.15 zuzulassen. Das
kantonale Gericht lud A.________ zum Prozess bei. Mit Entscheid vom 21. Januar
2015 hiess es die Beschwerde gut, bejahte das vertragliche Rückforderungsrecht
der SWICA gegenüber der IV-Stelle für das von ihr erbrachte Krankentaggeld und
wies die Sache zum Erlass einer neuen Verfügung im Sinne der Erwägungen an die
IV-Stelle zurück.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die
Sache an das Sozialversicherungsgericht zurückzuweisen. Eventualiter sei die
Verfügung der IV-Stelle vom 8. Mai 2014 zu bestätigen. Zudem wird um
unentgeltliche Rechtspflege ersucht.
Die IV-Stelle schliesst auf Gutheissung der Beschwerde. SWICA und kantonales
Gericht verzichten auf eine begründete Stellungnahme. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. A.________ hat am 7.
Mai 2015 nochmals Stellung genommen.

Erwägungen:

1. 
Der vorinstanzliche Entscheid stellt ein vertragliches Rückforderungsrecht der
SWICA fest, welches dieser Anspruch auf Verrechnung und direkte Auszahlung der
dem Versicherten zugesprochenen IV-Rente und der beiden Kinderrenten bis zur
Höhe der für denselben Zeitraum erbrachten Taggelder zugesteht, und weist die
Sache an die Verwaltung zu neuer Verfügung in diesem Sinne zurück. Dabei
handelt es sich, formell, um einen Rückweisungsentscheid, der nur unter den
Voraussetzungen von Art. 92 oder 93 BGG beim Bundesgericht anfechtbar ist. Da
indessen die Rückweisung lediglich noch der Umsetzung des von der Vorinstanz
Angeordneten dient, wobei der Verwaltung kein Entscheidungsspielraum mehr
verbleibt, liegt in Wirklichkeit ein Endentscheid nach Art. 90 BGG vor.

2.

2.1. Die IV-Stelle hat dem Beschwerdeführer mit Verfügung vom 8. Mai 2014 eine
Nachzahlung zugesprochen und einen Verrechnungsanspruch der SWICA verneint. Nur
die SWICA hat Beschwerde erhoben mit dem Antrag, ihr sei ein Verrechnungsbetrag
von Fr. 18'469.15 zuzusprechen. Der Versicherte hat selber nicht Beschwerde
erhoben, ist aber von der Vorinstanz beigeladen worden. Er hat in seiner
Stellungnahme vom 6. Oktober 2014 die von der SWICA geltend gemachte
Drittauszahlung bestritten mit der Begründung, diese könne sich nicht auf ein
normatives Rückforderungsrecht stützen.

2.2. Anfechtungsgegenstand ist eine Verfügung, womit dem Versicherten als
Adressaten eine Rente zugesprochen und eine Nachzahlung von Rentenbetreffnissen
festgestellt wird. Die Vorinstanz hat in den Erwägungen ihres Entscheids eine
direkte Überweisung (Drittauszahlung) eines Teils der dem Versicherten
zustehenden Rentennachzahlung zwecks Verrechnung mit diesem zu viel
ausgerichteten und deshalb zurückgeforderten Taggeldern der
Einzel-Krankentaggeldversicherung Salaria VVG bejaht. Damit hat sie den
Nachzahlungsbetrag gemäss Verfügung der IV-Stelle vom 8. Mai 2014 zu Ungunsten
des Versicherten und zu Gunsten der SWICA korrigiert. Soweit es um die
Drittauszahlung von Rentennachzahlungen der IV-Stelle geht, ist der Versicherte
in dieser Konstellation Drittbeschwerdeführer contra Adressat. Dabei ist er
nicht bloss Beigeladener, sondern Gegenpartei, da sein Rentenanspruch
Streitgegenstand ist (vgl. Urteile 8C_42/2012 vom 4. Oktober 2012; 9C_785/2010
vom 10. Juni 2011 E. 1.2; 9C_300/2008 vom 28. Oktober 2008 E. 3.1; 9C_806/2007
vom 20. Oktober 2008 E. 4). Dass die Vorinstanz ihn bloss als Beigeladenen
bezeichnet hat, schadet nicht, da er vor der Vorinstanz wie eine Partei seine
Rechte wahren konnte. Das Bundesgericht ist bisher ohne weiteres auf
Beschwerden von Versicherten eingetreten, welche die Zulässigkeit der
Verrechnung und Auszahlung von Rentennachzahlungen an bevorschussende Dritte
zum Gegenstand haben (Urteile 9C_96/2011 vom 31. März 2011; I 632/03 vom 9.
Dezember 2005).

3. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann eine - für den Ausgang des
Verfahrens entscheidende (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG) - Sachverhaltsfeststellung
von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

4.

4.1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, indem
das Sozialversicherungsgericht - von Amtes wegen - entscheidwesentliche
Unterlagen eingeholt habe, ohne dass ihm Gelegenheit gegeben worden sei, sich
dazu zu äussern. Bei den von der Vorinstanz eingeholten Akten handelt es sich
um die allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) für die kollektive
Taggeldversicherung nach VVG 2006, die AVB für die Einzeltaggeldversicherung
Salaria VVG 2009, den Versicherungsantrag und die persönliche Offerte für die
Taggeldversicherung Salaria VVG 2008, die Policen über die
Einzeltaggeldversicherung (Taggeld CHF 140.-) und die Einzeltaggeldversicherung
(Taggeld CHF 35.-) sowie den Auszug aus der Leistungshistory über bezahlte
Krankentaggelder. Gestützt auf die neu aufgelegten Zusatzbedingungen der
Taggeldversicherung Salaria nach VVG stellte die Vorinstanz ein
Rückforderungsrecht der SWICA gegenüber der Invalidenversicherung fest. Dabei
ging sie davon aus, dass die AVB 2005 und 2009 Bestandteil des
Versicherungsvertrages zwischen dem Beschwerdeführer und der SWICA geworden
seien. Laut Beschwerdeführer hat sich die Vorinstanz auf AVB gestützt, die
bisher von keiner Partei in das Verfahren eingebracht worden waren, von denen
er keine Kenntnis gehabt habe und zu denen er nicht habe Stellung nehmen
können. Überdies hätten die Zusatzbedingungen zur Taggeldversicherung Salaria
VVG, auf welche sich die Vorinstanz stütze, nicht Bestandteil des geltenden
Einzelversicherungsvertrages gebildet. Deshalb wäre die Vorinstanz verpflichtet
gewesen, vor Erlass des Entscheids den Parteien Gelegenheit zu geben, zu den
neu zu den Akten genommenen Unterlagen Stellung zu nehmen.

4.2. Da der verfassungsmässige Gehörsanspruch (Art. 29 Abs. 2 BV) gemäss
bundesgerichtlicher Rechtsprechung als ein solcher formeller Natur gilt, ist er
hier vorweg zu behandeln, weil seine Verletzung ungeachtet der
Erfolgsaussichten des Rechtsmittels in der Sache selbst zur Aufhebung des
angefochtenen Entscheids führt (vgl. BGE 132 V 387 E. 5.1 S. 390). Aus dem
Anspruch auf rechtliches Gehör ergibt sich insbesondere das Recht der
Betroffenen, sich vor Erlass eines Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche
Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen
Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise
entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn
dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen. Der Anspruch auf
rechtliches Gehör umfasst als Mitwirkungsrecht somit alle Befugnisse, die einer
Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam
zur Geltung bringen kann (BGE 140 I 99 E. 3.4 S. 103; 136 I 265 E. 3.2 S. 272;
135 II 286 E. 5.1 S. 293; BGE 132 II 485 E. 3.2 S. 494; BGE 127 I 54 E. 2b S.
56; BGE 117 Ia 262 E. 4b    S. 268; je mit Hinweisen; Urteil 8C_488/2014 vom
18. August 2015   E. 3.1). Vorausgesetzt dafür sind genügende Kenntnisse über
den Verfahrensverlauf, weshalb die Parteien in geeigneter Weise über die
entscheidwesentlichen Vorgänge und Grundlagen vorweg orientiert werden müssen (
BGE 140 I 99 E. 3.4 S. 103; Urteil 4A_178/2015 vom 11. September 2015 E. 3.2).

4.3. Das kantonale Gericht hat die SWICA am 12. Januar 2015 aufgefordert,
ergänzende Unterlagen einzureichen. Diese wurden von der SWICA mit Eingabe vom
15. Januar 2015 übermittelt. Dabei befanden sich Dokumente, die bisher von
keiner Partei ins Verfahren eingebracht worden waren. Dem Beschwerdeführer
sowie der IV-Stelle wurden diese am 21. Januar 2015 zur Kenntnisnahme
zugestellt. Vom gleichen Tag datiert auch der vorinstanzliche Entscheid. Indem
die Vorinstanz die von ihr beigezogenen Unterlagen dem Beschwerdeführer nicht
vorgängig zur Kenntnis brachte, hat sie seinen Anspruch auf rechtliches Gehör
verletzt. Wie vorhergehend ausgeführt, folgt aus dem Anspruch auf rechtliches
Gehör insbesondere das Recht der Betroffenen, sich zum Beweisergebnis zu
äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen, sowie das
Recht, mit entsprechenden Äusserungen gehört zu werden (E. 4.2 hievor). Die AVB
2009 und die (nach wie vor nicht bei den Akten liegenden) AVB 2005 waren
vorliegend entscheidrelevant. So stützte sich die Vorinstanz bei der Frage des
Drittauszahlungsanspruchs der SWICA gegenüber der Invalidenversicherung
massgeblich und einzig auf Art. 24 der Zusatzbedingungen der
Taggeldversicherung Salaria nach VVG, Ausgabe 2005 und 2009, ab. Der
Beschwerdeführer gibt an, er habe bisher keine Möglichkeit gehabt, von dieser
Klausel Kenntnis zu nehmen. Mangels Konsens habe diese überdies für den in
Frage stehenden Einzelversicherungsvertrag keine Geltung. Die Gewährung des
rechtlichen Gehörs vor Erlass des angefochtenen Entscheids wäre daher angezeigt
gewesen. Eine Heilung dieser Gehörsverletzung kommt im bundesgerichtlichen
Verfahren nicht in Betracht (vgl. BGE 137 I 195 E. 2.3.2 S. 197 f. und E. 2.7
S. 199 mit Hinweisen).

4.4. Die Gehörsrüge erweist sich demnach als begründet, was zur Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids führt. Die Sache ist daher entsprechend dem
Hauptantrag des Beschwerdeführers an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese hat
den Parteien zu den von ihr eingeholten Unterlagen das rechtliche Gehör zu
gewähren und anschliessend neu zu entscheiden.

5. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die SWICA als unterliegende Partei
kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 2 BGG).
Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 21. Januar 2015
aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle Basel-Stadt, dem
Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 17. November 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Hofer

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