Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.181/2015
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_181/2015

Urteil vom 1. Juni 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Grunder.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Josef Flury,
Beschwerdeführer,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung (Kausalzusammenhang),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts Luzern
vom 2. Februar 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1974 geborene A.________ war bei der B.________ GmbH befristet bis Ende
Juni 2010 als Eisenleger angestellt und dadurch bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen
versichert. Am 17. Mai 2010 sprang er von der untersten Etage eines Baugerüsts
und verdrehte sich bei der Landung das rechte Bein. Dabei zog er sich eine
komplexe mediale Meniskusläsion (mehrfragmentär), eine radiale laterale
Meniskushinterhornläsion sowie eine partielle vordere Kreuzbandläsion am
rechten Knie zu (Bericht des Spitals C.________ vom 26. Mai 2010). Am 25. Mai
2010 operierte Dr. med. D.________, FMH Chirurgie, das rechte Knie
(Arthroskopie mit Meniskussanierung; Berichte des Spitals C.________ vom 26.
und 31. Mai 2010) und am 4. Januar 2011 ersetzte Dr. med. E.________, FMH für
Orthopädische Chirurgie, arthroskopisch das vordere Kreuzband mit einem
zentralen ligamentum patellae-Transplantat und nahm eine laterale
Meniskushorn-Toilette sowie Microfrakturing des medialen Kondylus vor (Berichte
vom 4. und 10. Januar 2011). Die SUVA erbrachte die gesetzlichen Leistungen
(Heilbehandlung; Taggeld) und klärte den Sachverhalt in medizinischer und
beruflicher Hinsicht ab. Gestützt auf die Ergebnisse der ambulant und stationär
durchgeführten ärztlichen Behandlungen sowie aufgrund einer eigenen
Untersuchung vom 26. März 2013 gelangte Dr. med. F.________, Facharzt Chirurgie
FMH, Kreisarzt, SUVA, zum Schluss, es sei von einer somatoformen
Schmerzentwicklung ohne klinisch oder radiologisch nachweisbarem Korrelat
auszugehen; der Versicherte sei prinzipiell für leichte bis mittelschwere
Tätigkeiten uneingeschränkt einsetzbar, bei welchen er das rechte Knie
belastende Verrichtungen, die bspw. mit repetitivem Einnehmen einer Position in
der Hocke verbunden seien, vermeiden könne; die Arbeitsfähigkeit könne ab
sofort innerhalb von vier Wochen sukzessive auf 100 % gesteigert werden
(kreisärztlicher Abschlussbericht vom 28. März 2013). Am 31. Oktober 2013
stellte die SUVA die Heilbehandlung und die Taggeldleistungen auf den 30.
November 2013 ein und teilte dem Versicherten mit, dass sie für die Kosten von
Schmerzmedikamenten sowie Physiotherapie auch künftig bis auf Weiteres
aufkommen werde. Mit Verfügung vom 4. Dezember 2013 sprach sie ihm ab 1.
Dezember 2013 eine Invalidenrente gestützt auf eine Erwerbsunfähigkeit von 13 %
zu; einen Anspruch auf Integritätsentschädigung verneinte sie. Eine Einsprache
lehnte sie ab (Einspracheentscheid vom 9. April 2014).

B. 
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern ab
(Entscheid vom 2. Februar 2015).

C. 
Mit Beschwerde lässt A.________ zusammengefasst beantragen, unter Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids habe das kantonale Gericht, eventualiter die SUVA
den medizinischen Sachverhalt und den Status quo sine vel ante mittels
neutralem Gutachten abzuklären; die SUVA sei zu verpflichten, bis zum Vorliegen
der Abklärungsergebnisse und bis zum Erreichen des Status quo sine vel ante die
gesetzlichen Leistungen weiterhin auszurichten. Ferner wird um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege ersucht.
Das Bundesgericht führt keinen Schriftenwechsel durch.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 132 II 257E. 2.5 S. 262; 130 III 136E. 1.4 S. 140). Gemäss
Art. 42 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde hinreichend zu begründen, andernfalls
wird darauf nicht eingetreten (Art. 108 Abs. 1 lit. b BGG). Das Bundesgericht
prüft grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie
eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu
prüfen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. Es kann die
Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur
insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und
begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).

1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

1.3. Die letztinstanzlich aufgelegten Unterlagen (Berichte des Dr. med.
G.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, [undatiert, bei der IV-Stelle
Luzern am 7. Juli 2014 eingegangen], sowie der Klinik H.________,
Muskulo-Skelettal Zentrum, Orthopädie Untere Extremitäten, vom 11. Juli 2014)
stellen unzulässige neue Beweismittel im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG dar,
zumal nicht ersichtlich ist, weshalb der Beschwerdeführer sie nicht bereits im
vorinstanzlichen Verfahren hätte einreichen können.

2.

2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob aus dem Unfall vom 17. Mai 2010 über den
30. November 2013 hinaus Anspruch auf UVG-Leistungen bestand.

2.2. Das kantonale Gericht hat die dabei zu beachtenden kausal- und
beweisrechtlichen Grundsätze zutreffend dargelegt. Zu wiederholen ist, dass die
Leistungspflicht des Unfallversicherers einen natürlichen und adäquaten
Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem eingetretenen Schaden
voraussetzt (BGE 129 V 177 E. 3.1 und 3.2 S. 181). Dabei spielt im
Sozialversicherungsrecht die Adäquanz als rechtliche Eingrenzung der sich aus
dem natürlichen Kausalzusammenhang ergebenden Haftung des Unfallversicherers im
Bereich organisch objektiv ausgewiesener Unfallfolgen praktisch keine Rolle, da
sich hier die adäquate weitgehend mit der natürlichen Kausalität deckt. Anders
verhält es sich bei natürlich unfallkausalen, aber organisch nicht objektiv
ausgewiesenen Beschwerden. Hier bedarf es einer besonderen Adäquanzbeurteilung.
Dabei ist vom augenfälligen Geschehensablauf auszugehen, und es sind je nachdem
weitere unfallbezogene Kriterien einzubeziehen. Gemäss der für psychische
Fehlentwicklungen nach Unfall erarbeiteten sog. Psycho-Praxis (BGE 115 V 133)
werden diese Adäquanzkriterien unter Ausschluss psychischer Aspekte geprüft,
während nach der bei Schleudertraumen und äquivalenten Verletzungen der HWS
sowie Schädel-Hirntraumen anwendbaren sog. Schleudertrauma-Praxis auf eine
Differenzierung zwischen physischen und psychischen Komponenten verzichtet wird
(zum Ganzen: BGE 134 V 109 E. 2.1 S. 112 mit Hinweisen).

3.

3.1. Der Beschwerdeführer macht gestützt auf Art. 19 Abs. 1 UVG sowie BGE 134 V
109 E. 3 f. S. 112 ff. geltend, von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung
habe über den 30. November 2013 hinaus noch eine namhafte Verbesserung des
Gesundheitszustands erwartet werden können. Entgegen der vorinstanzlichen
Beweiswürdigung sei PD Dr. med. I.________, Chefarzt des Zentrums J.________
für Schmerzmedizin, gemäss Bericht vom 24. Mai 2013 davon ausgegangen, mit
gezielt durchzuführenden Therapien könne "ein aktiver, hilfsmittelfreier Gang
mit deutlich reduzierter Schmerzstärke" realisiert werden. Weiter habe das
kantonale Gericht den psychischen Gesundheitszustand in Verletzung des ihr
obliegenden Untersuchungsgrundsatzes nicht abgeklärt. Schliesslich habe es zu
Unrecht nicht geprüft, ob die Eingliederungsmassnahmen der
Invalidenversicherung im Zeitpunkt des Fallabschlusses abgeschlossen waren.

3.2.

3.2.1. Zunächst übersieht der Beschwerdeführer, dass PD Dr. med. I.________ am
24. Mai 2013 festhielt, das chronifizierte Schmerzbild am rechten Kniegelenk
werde - bei stabiler Bandführung ohne Ergussbildung - durch ein ausgeprägtes
Angst-/Vermeidungsverhalten und eine dadurch induzierte unzureichende
Aktivierung der Quadrizepsmuskulatur aufrecht erhalten. Das kantonale Gericht
hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dieser Befund ausweislich der
umfangreichen medizinischen Akten, die im kreisärztlichen Untersuchungsbericht
des Dr. med. F.________ vom 28. März 2013 ausführlich zitiert wurden, während
mindestens zwei Jahren unverändert bestätigt worden war. Daher ist nicht
einzusehen, inwiefern von den beantragten fachärztlichen Untersuchungen zu der
zur Diskussion stehenden, prospektiv auf den Zeitpunkt der Leistungseinstellung
zu beurteilenden Frage (vgl. dazu Urteil U 244/04 des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts vom 20. Mai 2005 E. 3.1 mit Hinweisen, publ. in: RKUV
2005 Nr. U 557 Nr. U 557 S. 388) neue Erkenntnisse zu gewinnen wären. Der
psychische Gesundheitszustand ist im vorliegenden Kontext nicht zu
berücksichtigen, bildet er doch Gegenstand - wie das kantonale Gericht
zutreffend erkannt hat - einer gesonderten Adäquanzprüfung (vgl. das vom
Beschwerdeführer zitierte Urteil 8C_137/2014 vom 5. Juni 2014 E. 4.1).

3.2.2. Sodann ist festzuhalten, dass die Vorinstanz zu Recht nicht weiter
geprüft hat, ob allfällige Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung
im Zeitpunkt der Leistungseinstellung abgeschlossen waren. Wie sich aus dem
Schreiben der SUVA vom 31. Oktober 2013 ergibt, beruhte der Fallabschluss auf
Art. 19 Abs. 3 UVG. Danach erlässt der Bundesrat nähere Vorschriften über die
Entstehung des Rentenanspruchs, wenn von der Fortsetzung der ärztlichen
Behandlung keine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes des Versicherten
mehr zu erwarten ist, der Entscheid der IV über die berufliche Eingliederung
jedoch erst später gefällt wird. Laut Art. 30 Abs. 1 erster Satz UVV wird
diesfalls vom Abschluss der ärztlichen Behandlung an vorübergehend eine Rente
ausgerichtet, die aufgrund der in diesem Zeitpunkt bestehenden
Erwerbsunfähigkeit festgesetzt wird. Das Bundesgericht hat hiezu festgehalten,
dass die Übergangsrente ein (vorläufiges) Surrogat der allenfalls folgenden
(definitiven) Invalidenrente ist; der Anspruch auf eine Übergangsrente setzt
voraus, dass der ausstehende Entscheid der IV über die berufliche Eingliederung
einer Eingliederungsproblematik aufgrund eines unfallkausalen
Gesundheitsschadens gilt (Urteil 8C_304/2008 vom 1. April 2009 E. 3.1.2 und
3.2.2, publ. in: SVR 2009 UV Nr. 39 S. 134). Diese Frage ist, wie in der
vorstehenden Erwägung festgehalten, bezogen auf die geltend gemachten
psychischen Beeinträchtigungen im Rahmen der Beurteilung des adäquaten
Kausalzusammenhangs gesondert zu prüfen.

4.

4.1. Das kantonale Gericht hat anhand der Grundsätze von BGE 115 V 133 geprüft,
ob die psychischen Befunde (somatoforme Schmerzstörung; Anpassungsstörung mit
längerer depressiver Episode) in einem adäquaten Kausalzusammenhang mit dem
Unfall vom 17. Mai 2010 und den dabei erlittenen körperlichen Verletzungen im
Bereich des rechten Knies standen. Es hat die Frage offen gelassen, ob dieses
Ereignis den mittelschweren Unfällen im engeren Sinn oder aber im Grenzbereich
zu den leichten Unfällen zugeordnet werden müsse. Von den ohnehin weiter zu
prüfenden, objektiv fassbaren und unmittelbar mit dem Unfall in Zusammenhang
stehenden oder als Folge davon erscheinenden Umständen, welche als massgebende
Kriterien in die Gesamtwürdigung einzubeziehen sind, sei allenfalls dasjenige
der körperlichen Dauerschmerzen gegeben, was für die Annahme der Adäquanz
jedoch nicht genüge.

4.2. Der Beschwerdeführer setzt sich mit der vorinstanzlichen
Adäquanzbeurteilung nicht auseinander. Das Bundesgericht verweist daher auf die
nicht zu beanstandenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid, welchen nichts
beizufügen ist.

4.3. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das kantonale Gericht den adäquaten
Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall vom 17. Mai 2010 und den psychischen
Beeinträchtigungen zu Recht verneint hat.

5. 
Dem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ist zum einen
stattzugeben, weil keine Anhaltspunkte bestehen, von der vom kantonalen Gericht
angenommenen Bedürftigkeit des Versicherten abzuweichen. Zum anderen ist die
Beschwerde an das Bundesgericht inhaltlich nicht als aussichtslos zu
bezeichnen, weshalb die anwaltliche Vertretung geboten war (Art. 64 Abs. 1 und
2 BGG). Dem Beschwerdeführer wird daher eine angemessene Entschädigung
zugesprochen (Art. 64 Abs. 2 Satz 2 BGG). Er wird indessen darauf hingewiesen,
dass er der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der
Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Josef Flury wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 1. Juni 2015
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Grunder

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben