Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.133/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_133/2015

Urteil vom 22. April 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Grunder.

Verfahrensbeteiligte
A.________, vertreten durch
Rechtsanwältin Dr. Barbara Wyler,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau,
St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
17. Dezember 2014.

Sachverhalt:

A. 
Gestützt auf das interdisziplinäre Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle
(MEDAS) vom 11. Januar 2005 sprach die IV-Stelle des Kantons Thurgau mit
Verfügung vom 31. Mai 2005 dem 1960 geborenen A.________ ab 1. April 2004 eine
halbe Invalidenrente zu. Diesen Anspruch bestätigte sie revisionsweise mit
Mitteilungen vom 8. November 2007 und 15. Juni 2009.

Im Rahmen eines im August 2013 eingeleiteten Revisionsverfahrens holte die
IV-Stelle das bidisziplinäre Gutachten der Dres. med. B.________, FMH
Psychiatrie und Psychotherapie, und C.________, FMH Physikalische Medizin und
Rehabilitation, vom 14./19. Mai 2014 ein. Nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens hob sie die bislang ausgerichtete halbe Invalidenrente
auf das der Zustellung der Verfügung vom 30. September 2014 folgenden Monats
auf.

B. 
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Thurgau ab (Entscheid vom 17. Dezember 2014).

C. 
Mit Beschwerde lässt A.________ beantragen, unter Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids sei ihm weiterhin eine halbe Invalidenrente
auszurichten; ferner ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege für das
bundesgerichtliche Verfahren.

Das Bundesgericht führt keinen Schriftenwechsel durch.

Erwägungen:

1.

1.1. 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht,
unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art.
42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die
rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1
S. 254).

1.3. Bei den gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit bzw. deren Veränderung in einem bestimmten Zeitraum handelt es
sich um Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Gleiches gilt für die
konkrete Beweiswürdigung (nicht publ. E. 4.1 des Urteils BGE 135 V 254, in SVR
2009 IV Nr. 53 S. 164 [9C_204/2009]). Dagegen sind die Beachtung des
Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c
ATSG, die unvollständige Feststellung rechtserheblicher Tatsachen sowie die
Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG)
Rechtsfragen.

1.4. Eine Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich
unrichtig, wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und
augenfällig unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1 S. 44). Es liegt noch keine
offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere Lösung ebenfalls in
Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erschiene (BGE 129 I 8 E.
2.1 S. 9). Diese Grundsätze gelten auch bei der konkreten Beweiswürdigung, bei
welcher dem kantonalen Versicherungsgericht ein erheblicher Ermessensspielraum
zusteht. Das Bundesgericht greift nur ein, wenn es diesen missbraucht,
insbesondere offensichtlich unhaltbare Schlüsse gezogen, erhebliche Beweise
übersehen oder solche willkürlich ausser Acht gelassen hat (BGE 132 III 209 E.
2.1 S. 211; zum Begriff der Willkür BGE 137 I 1 E. 2.4 S. 5; Urteil 9C_1019/
2012 vom 23. August 2013 E. 1.2.3). Inwiefern das kantonale Gericht sein
Ermessen missbraucht haben soll, ist in der Beschwerde klar und detailliert
aufzuzeigen (BGE 130 I 258 E. 1.3 S. 261; SVR 2013 BVG Nr. 40 S. 174 E. 1.2
[9C_592/2012]; Urteil 8C_76/2014 vom 30. April 2014 E. 1.2).

2. 
Prozessthema bildet die Frage, ob sich der Invaliditätsgrad seit der
Rentenverfügung vom 31. Mai 2005 bis zur verfügungsweisen Neuprüfung vom 30.
September 2014 in revisionsrechtlich erheblicher Weise verbessert hat (Art 17
Abs. 1 ATSG). Dabei ist zu beachten, dass Anlass zur Rentenrevision jede
wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen gibt, die geeignet ist,
den Invaliditätsgrad und damit den Rentenanspruch zu beeinflussen. Allerdings
stellt eine bloss unterschiedliche Beurteilung eines im Wesentlichen gleich
gebliebenen Sachverhalts keine revisionsbegründende Tatsachenänderung dar (BGE
112 V 371 E. 2b S. 372). Praxisgemäss ist die Invalidenrente aber auch dann
revidierbar, wenn sich die erwerblichen Auswirkungen des an sich gleich
gebliebenen Gesundheitszustands erheblich verändert haben (BGE 133 V 545 E. 6.1
S. 546, 130 V 343 E. 3.5 S. 349 f. mit Hinweisen).

3.

3.1.

3.1.1. Das kantonale Gericht hat erkannt, dass zur Beurteilung der Frage, ob
sich der Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit im massgeblichen
Vergleichszeitraum erheblich verbesserten, auf das in allen Teilen
beweiskräftige Gutachten der Dres. med. B.________ und C.________ vom 14./19.
Mai 2014 abzustellen sei. Aus psychiatrischer Sicht habe Dr. med. B.________
die vom konsiliarischen Sachverständigen der MEDAS im Jahre 2005 beschriebene
undifferenzierte Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.1), mit der im Wesentlichen
die Arbeitsunfähigkeit von 50 % in einer den körperlichen Einschränkungen
angepassten Tätigkeit begründet worden sei, nicht mehr bestätigen können. An
den schlüssigen Ausführungen des Dr. med. B.________ ändere der
Austrittsbericht des Spitals D.________ vom 26. August 2014 nichts, der nicht
von einer Person psychiatrischer Fachrichtung verfasst worden sei und zudem
keine Begründung enthalte, weshalb eine chronische Schmerzstörung unter den die
Arbeitsfähigkeit beeinträchtigenden Hauptdiagnosen aufgelistet werde. Sei daher
von einer Verbesserung des psychischen Gesundheitszustands auszugehen, stehe
einer umfassenden Neuprüfung des Rentenanspruchs auch in Anbetracht des
Umstands, dass aus rheumatologisch-orthopädischer Sicht eine leichte
Verschlechterung eingetreten sei, nichts entgegen.

3.1.2. Der Beschwerdeführer bringt vor, die vorinstanzliche Auffassung
widerspreche dem klaren Wortlaut von Art. 17 Abs. 1 ATSG, wonach zur
Herabsetzung der Rente eine erhebliche Verbesserung des Gesundheitszustands
vorausgesetzt werde. Das kantonale Gericht übersehe, dass sich das erwerbliche
Tätigkeitsfeld wegen der verschlimmerten somatischen Beeinträchtigungen massiv
eingeengt habe. Zudem habe Dr. med. B.________ (Gutachten vom 14. Mai 2014)
dieselben Befunde erhoben, die im Gutachten der MEDAS vom 11. Januar 2005
erwähnt worden seien, weshalb der psychiatrisch gleich gebliebene
Gesundheitszustand bloss unterschiedlich beurteilt worden sei.

3.2.

3.2.1. Das Bundesgericht hat in dem zur amtlichen Publikation bestimmten Urteil
8C_237/2014 vom 21. Januar 2015 die Rechtsprechung bestätigt, wonach der
Invaliditätsgrad auf der Grundlage eines richtig und vollständig festgestellten
Sachverhalts neu und ohne Bindung an frühere Invaliditätsschätzungen zu
ermitteln ist, wenn die Frage nach der anspruchsrelevanten Veränderung des
Sachverhalts im Sinne einer revisionsbegründenden erheblichen
Gesundheitsveränderung bejaht wird (E. 6.1 in Verbindung mit E. 2.3). Daher
steht auch im Rahmen einer vorzunehmenden Neueinschätzung von
Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit eine zum bestehenden Beschwerdebild
hinzugetretene Schulterproblematik einer Rentenaufhebung nicht entgegen (E.
6.3.2 und E. 6.4).

3.2.2.

3.2.2.1. Der psychiatrische Sachverständige der MEDAS (Dr. med. E.________)
hielt im Konsiliargutachten vom 27. Oktober 2004 zur Begründung der
diagnostizierten undifferenzierten Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.1) fest,
es lägen an sich die typischen vegetativen Symptome einer Angststörung
(Hitzewallungen, Kopfweh, Augendruck, Augenflimmern, Ohrgeräusche, weiche Knie,
Übelkeit, Herzrasen, Herzschmerz, Atemnot, trockener Mund, Brennen im Hals,
Schwindel, Zittern, Unfähigkeit zu entspannen, etc.) vor, die indessen nicht
simultan, sondern fluktuierend (kommend und gehend) und angeblich ohne
Angstgefühle auftraten, weshalb die deskriptiven Kriterien einer Panikstörung
oder einer Depression nach ICD-10 nicht erfüllt waren. Seit dem letzten
Arbeitstag Ende des Jahres 2000 entwickelte der Untersuchte an Stelle einer
ängstlich-depressiven Anpassungs- eine somatoforme Störung, wobei neben der
Schmerzsymptomatik und neben hypochondrischen Aspekten die genannten autonomen
Funktionsstörungen im Vordergrund standen. In einer körperlich adaptierten
Tätigkeit waren ihm aus psychiatrischer Sicht anfänglich acht Stunden Präsenz
bei hälftiger Leistung zuzumuten.

3.2.2.2. Dr. med. B.________ hielt dazu im psychiatrischen Teilgutachten vom
14. Mai 2014 fest, der Explorand klage aktuell praktisch ausschliesslich über
Schmerzen, psychosomatische Beschwerden erwähne er spontan nicht, weshalb nicht
mehr von zahlreichen unterschiedlichen und hartnäckigen körperlichen
Beschwerden gesprochen werden könne und daher aktuell das typische klinische
Bild einer undifferenzierten Somatisierungsstörung nicht mehr vorliege. Auch
die Voraussetzungen, welche die Diagnose einer anhaltenden somatoformen
Schmerzstörung nach ICD-10 rechtfertigen könnten, seien angesichts des
Umstands, dass die jetzt im Vordergrund stehenden chronischen Schmerzen
ursprünglich keinen erheblichen psychosozialen Hintergrund hatten, nach wie vor
nicht gegeben. Insgesamt könne aus psychiatrischer Sicht keine
Arbeitsunfähigkeit in einer den körperlichen Beeinträchtigungen angepassten
Erwerbstätigkeit mehr hergeleitet werden.

3.2.3. Aus diesen fachärztlichen Auskünften ergibt sich, wie die Vorinstanz
willkürfrei festgestellt hat, schlüssig, dass sich der psychiatrische
Gesundheitszustand im massgeblichen Vergleichszeitraum in revisionsrechtlich
erheblicher Weise verbesserte. Der Beschwerdeführer übersieht, dass eine
tatsächliche Veränderung in den gesundheitlichen Verhältnissen auch dann
vorliegen kann, wenn sich ein Leiden in seiner Intensität oder in einer
verbesserten Leidensanpassung der betroffenen Person verändert (vgl. Urteil
9C_771/2009 vom 10. September 2010 E. 2.3 mit Hinweisen, zitiert in E. 6.3.2
des erwähnten, zur amtlichen Publikation bestimmten Urteils 8C_237/2014). Daher
hat das kantonale Gericht den medizinischen Sachverhalt und die
Arbeitsfähigkeit zu Recht ex nunc et pro futuro neu und ohne Bindung an frühere
Invaliditätsschätzungen geprüft. Dem steht der Umstand, dass die
Einschränkungen betreffend Beweglichkeit und Belastbarkeit der Wirbelsäule
sowie die myofascialen Beschwerden der Muskeln im Bereich des dorsalen
Schultergürtels aus rheumatologisch-orthopädischer Sicht zugenommen hatten
(vgl. Gutachten der Dr. med. C.________ vom 19. Mai 2014), nach zutreffender
Auffassung der Vorinstanz nicht entgegen (vgl. E. 3.2.1 hievor).

4. 
Hinsichtlich der Bestimmung des Invaliditätsgrades gemäss Art. 16 ATSG bringt
der Beschwerdeführer nichts vor, was das vorinstanzliche Ergebnis in Frage zu
stellen vermöchte. Mithin ist in Bestätigung des kantonalen Entscheids vom 17.
Dezember 2014 und der Revisionsverfügung der IV-Stelle vom 30. September 2014
festzustellen, dass der Beschwerdeführer mangels eines den Schwellenwert von 40
% erreichenden Invaliditätsgrades keinen Anspruch auf Invalidenrente mehr
hatte.

5. 
Dem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ist stattzugeben, da
die Bedürftigkeit ausgewiesen ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos
bezeichnet werden kann und die anwaltliche Vertretung geboten war (Art. 64 Abs.
1 und 2 BGG). Dem Beschwerdeführer wird eine angemessene Entschädigung
zugesprochen (Art. 64 Abs. 2 Satz 2 BGG). Er wird indessen darauf hingewiesen,
dass er der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der
Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwältin Dr. Barbara Wyler wird als unentgeltliche Anwältin bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4. 
Der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. April 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Grunder

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