Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.103/2015
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2015


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
8C_103/2015 {T 0/2}     

Urteil vom 1. Juli 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard,
Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Berger Götz.

Verfahrensbeteiligte
Schweizerische
National-Versicherungs-Gesellschaft AG, Steinengraben 41, 4051 Basel,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Yves Minnier,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung (Leistungskürzung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantons-
gerichts Luzern vom 12. Januar 2015.

Sachverhalt:

A.

A.a. Die 1992 geborene A.________ absolvierte seit 24. August 2009 eine Lehre
als Detailhandelsassistentin bei der B.________ GmbH und war in dieser
Eigenschaft bei der Schweizerischen National-Versicherungs-Gesellschaft AG
(nachfolgend: Nationale Suisse) gegen die Folgen von Unfällen und
Berufskrankheiten versichert. Am späteren Abend des 29. März 2010 stürzte sie
aus dem Badezimmerfenster der elterlichen Wohnung im vierten Stockwerk 6,4 m
tief auf eine darunter liegende Terrasse und zog sich dabei diverse Frakturen
an den Lendenwirbelkörpern 1 und 4 und an beiden Beinen sowie eine
sensomotorisch komplette Paraplegie sub Th11 mit partieller Innervation bis L3
beidseits zu. Mit Verfügung vom 30. November 2011 (bestätigt mit
Einspracheentscheid vom 4. Juli 2012) lehnte die Nationale Suisse es ab,
Leistungen aus der obligatorischen Unfallversicherung zu erbringen, weil davon
ausgegangen werden müsse, dass A.________ im Rahmen eines Selbsttötungsversuchs
freiwillig aus dem Fenster gesprungen sei. In Gutheissung der dagegen von
A.________ und von der CSS Kranken-Versicherung AG geführten Beschwerden hob
das Kantonsgericht Luzern den Einspracheentscheid vom 4. Juli 2012 auf und
verpflichtete die Nationale Suisse, für die Folgen des Sturzereignisses vom 29.
März 2010 die Leistungen aus der obligatorischen Unfallversicherung zu
erbringen (Entscheid vom 18. Juli 2013).

A.b. In Nachachtung des kantonalen Gerichtsentscheids vom 18. Juli 2013
übernahm die Nationale Suisse in der Folge die Kosten für die Heilbehandlung,
stellte jedoch mit Verfügung vom 7. März 2014 fest, dass der vom Kantonsgericht
angenommene Sachverhalt, wonach sich A.________ am 29. März 2010 nach dem
Duschen - trotz vorausgegangener Schwindelattacken - bei geöffnetem Fenster auf
die niedrige Fensterbank gesetzt habe und von dort hinuntergestürzt sei, als
Wagnis gelten müsse, weshalb die Geldleistungen um 50 % zu kürzen seien. Daran
hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 9. Mai 2014).

B. 
In Gutheissung der dagegen geführten Beschwerde hob das Kantonsgericht Luzern
den Einspracheentscheid vom 9. Mai 2014 auf und stellte fest, A.________ habe
Anspruch auf ungekürzte Geldleistungen (Entscheid vom 12. Januar 2015).

C. 
Die Nationale Suisse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
mit dem Antrag, der kantonale Gerichtsentscheid vom    12. Januar 2015 sei
aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 9. Mai 2014 sei zu bestätigen.
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für
Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Im
Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der
Militär- oder der Unfallversicherung ist das Bundesgericht - anders als in den
übrigen Sozialversicherungsbereichen (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 1 und 2
BGG) - nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen
Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). Es wendet das
Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), prüft indessen - unter
Beachtung der Begründungspflicht in Beschwerdeverfahren (Art. 42 Abs. 1 und 2
BGG) - grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen
Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254). Es
ist weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 130 II
136 E. 1.4 S. 140).

2. 
Das Ereignis vom 29. März 2010 ist unstreitig als Nichtberufsunfall zu
qualifizieren und begründet als solcher grundsätzlich einen Anspruch auf
Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung (Art. 6 Abs. 1 und Art. 8
Abs. 1 UVG in Verbindung mit Art. 4 ATSG). Streitig und zu prüfen ist, ob die
Geldleistungen zu Recht um die Hälfte gekürzt wurden.

3.

3.1. Gestützt auf Art. 39 UVG kann der Bundesrat aussergewöhnliche Gefahren und
Wagnisse bezeichnen, die in der Versicherung der Nichtberufsunfälle zur
Verweigerung sämtlicher Leistungen oder zur Kürzung der Geldleistungen führen.
Die Verweigerung oder Kürzung kann er in Abweichung von Artikel 21 Absätze 1-3
ATSG ordnen. Von dieser Kompetenzdelegation hat der Bundesrat in Art. 49
(betreffend aussergewöhnliche Gefahren) und 50 UVV (betreffend Wagnisse)
Gebrauch gemacht. Bei Nichtberufsunfällen, die auf ein Wagnis zurückgehen,
werden die Geldleistungen um die Hälfte gekürzt und in besonders schweren
Fällen verweigert (Art. 50 Abs. 1 UVV). Wagnisse sind Handlungen, mit denen
sich der Versicherte einer besonders grossen Gefahr aussetzt, ohne die
Vorkehren zu treffen oder treffen zu können, die das Risiko auf ein
vernünftiges Mass beschränken. Rettungshandlungen zugunsten von Personen sind
indessen auch dann versichert, wenn sie an sich als Wagnis zu betrachten sind
(Art. 50 Abs. 2 UVV).
Lehre und Rechtsprechung unterscheiden zwischen absoluten und relativen
Wagnissen. Ein absolutes Wagnis liegt vor, wenn eine gefährliche Handlung nicht
schützenswert ist oder wenn die Handlung mit so grossen Gefahren für Leib und
Leben verbunden ist, dass sich diese auch unter günstigsten Umständen nicht auf
ein vernünftiges Mass reduzieren lassen. Ein relatives Wagnis ist gegeben, wenn
es die versicherte Person unterlassen hat, die objektiv vorhandenen Risiken und
Gefahren auf ein vertretbares Mass herabzusetzen, obwohl dies möglich gewesen
wäre (BGE 141 V 37 E. 2.3 S. 38 f.; 138 V 522 E. 3.1 S. 524).

3.2. Hat die versicherte Person den Gesundheitsschaden oder den Tod absichtlich
herbeigeführt, so besteht kein Anspruch auf Versiche-rungsleistungen, mit
Ausnahme der Bestattungskosten (Art. 37 Abs. 1 UVG). Gemäss Art. 37 Abs. 2 UVG
werden in Abweichung von Art. 21 Abs. 1 ATSG in der Versicherung der
Nichtberufsunfälle die Taggelder, die während der ersten zwei Jahre nach dem
Unfall ausgerichtet werden, gekürzt, wenn der Versicherte den Unfall grob
fahrlässig herbeigeführt hat.

4. 

4.1. Das kantonale Gericht war in seinem ersten Entscheid vom 18. Juli 2013 zum
Schluss gelangt, die Möglichkeit eines Selbsttötungsversuchs könne zwar nicht
mit Sicherheit ausgeschlossen werden, insgesamt aber seien die für eine
Selbsttötung sprechenden Indizien nicht gewichtig genug, damit die
Unfreiwilligkeitsvermutung bei objektiver Betrachtung als widerlegt gelten
könnte. Im vorliegend angefochtenen Entscheid vom 12. Januar 2015 gab es an, es
bleibe völlig unklar, aus welcher Position die Beschwerdeführerin
am         29. März 2010 aus dem Fenster gestürzt sei. Einigermassen gesichert
sei lediglich, dass dieser nach dem Duschen schwindlig geworden sei und sie
infolgedessen am geöffneten Fenster frische Luft habe einatmen wollen. Es sei
zwar durchaus möglich, dass sie sich auf den sehr niedrigen und nicht besonders
breiten äusseren Fenstersims gesetzt habe. Mit dem mindestens erforderlichen
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit lasse sich dies jedoch nicht
mehr feststellen, da ebenso auch andere Positionen in Frage kommen würden.
Damit liege hinsichtlich des vom Unfallversicherer als Grundlage für die
beabsichtigte Leistungskürzung behaupteten Sachverhalts Beweislosigkeit vor,
die sich zu seinen Ungunsten auswirke. Es könne einzig festgehalten werden,
dass die Versicherte nach Auftreten des Schwindels am offenen Fenster frische
Luft habe einatmen wollen. Dass sie sich dadurch wissentlich einer besonders
grossen Gefahr ausgesetzt habe, könne nicht gesagt werden. Ein Wagnis liege
damit nicht vor, weshalb eine Kürzung der Geldleistungen gestützt auf      Art.
50 UVV ausser Betracht falle. Die Nationale Suisse sei folglich zu
verpflichten, der Versicherten die ungekürzten Geldleistungen auszurichten.

4.2. Die Nationale Suisse vertritt mit Blick auf die ersten wie auch die
späteren Angaben der Versicherten zum Ablauf des Ereignisses vom 29. März 2010,
das Gutachten der Arbeitsgruppe für Unfallmechanik   (nachfolgend: AGU) vom 5.
September 2011 und die räumlichen Verhältnisse am Unfallort bzw.
gerichtsnotorische, rein physikalische Gesetzmässigkeiten die Auffassung, dass
sich die Beschwerdegegnerin auf das äussere Fensterbrett des Badezimmers
gesetzt habe, während ihr schwindlig gewesen sei, was den Begriff des Wagnisses
erfülle. Die anderen möglichen Geschehensabläufe würden vernünftigerweise nicht
mehr massgeblich in Betracht fallen.

4.3. Die Beschwerdegegnerin wendet dagegen ein, das kantonale Gericht sei weder
im rechtskräftigen Urteil vom 18. Juli 2013 noch im vorliegend angefochtenen
Entscheid vom 12. Januar 2015 von einem klaren Sachverhalt ausgegangen.
Vielmehr habe es stets mehrere Sachverhaltsvarianten als möglich betrachtet.
Die AGU-Gutachter hätten keine klare Ausgangsposition für den Sturz ausmachen
können und auch die Endlage am Aufprallort sei nicht bekannt. Da somit der
Geschehensablauf unklar sei, sei es unzulässig, zum Nachteil der versicherten
Person ein Wagnis anzunehmen. Selbst wenn von einer sitzenden Position vor dem
Sturz auszugehen wäre, so wäre es am wahrscheinlichsten, dass sich die
Beschwerdegegnerin auf den inneren Fenstersims gesetzt hätte, was kein Wagnis
sei. Durch den breiten inneren Fenstersims, den Fensterrahmen, den sehr breiten
äusseren Fenstersims und die relativ schmale Fensterbreite habe genügend Schutz
vor einem Sturz aus dem Fenster bestanden. Dadurch, dass die Versicherte mit
den örtlichen Verhältnissen im Badezimmer der elterlichen Wohnung vertraut
gewesen sei, habe sie zudem das Absitzen auf dem inneren Fenstersims als
ungefährlich eingestuft. Sie sei den Umgang mit dem niedrigen Fenster gewohnt
und namentlich auch mit dem Putzen des Fensters vertraut gewesen. Die Annahme
eines Sitzens auf dem äusseren Fenstersims liege ausserhalb jeglicher
Lebenserfahrung. Auch diese Variante könnte aber im Übrigen ebenfalls nicht als
Wagnis qualifiziert werden.

5. 
Als Vorbemerkung ist festzuhalten, dass die Vorinstanz sich im ersten Entscheid
vom 18. Juli 2013 - entgegen der Ansicht des Unfallversicherers - nicht auf
eine bestimmte Sachverhaltsvariante festgelegt hatte. Vielmehr ist den
entsprechenden Erwägungen zu entnehmen, es bleibe letztlich unklar, aus welcher
genauen Position der Sturz tatsächlich erfolgt sei (kantonaler
Gerichtsentscheid vom 18. Juli 2013   E. 6.3).

5.1. Gemäss den am Unfallort durchgeführten Abmessungen befindet sich die
Fensterbank im elterlichen Badezimmer auf einer - ausserordentlich niedrigen -
Höhe von 64 cm ab Badezimmerboden. Die Fensterbank im Rauminnern (inklusive
Innenrahmen) ist 20 cm und die Fensterbank aussen (inklusive Aussenrahmen) 36
cm tief. Die Fallhöhe ab Fenstersims bis zum Terrassenboden, auf welchem die
Versicherte nach dem Sturz aus dem Fenster von einem Familienangehörigen
gefunden wurde, beträgt 6,4 m. Augenzeugen, die den Sturz gesehen haben, wurden
nicht gefunden.

5.1.1. Dem von der Versicherten unterzeichneten Protokoll zur polizeilichen
Befragung vom 1. April 2010 ist zu entnehmen, sie habe in der Badewanne
geduscht. Schon während des Duschens sei ihr schwindlig geworden, weshalb sie
sich in die Badewanne gesetzt habe. Beim anschliessenden Föhnen der Haare sei
ihr wieder schlecht geworden. Sie sei zum Fenster gegangen, welches sie schon
vor dem Trocknen der Haare geöffnet habe, habe sich auf die Fensterbank gesetzt
und sei dann hinuntergestürzt. Gemäss Austrittsbericht des Spitals C.________
vom 15. April 2010 wurden die erstbehandelnden Ärzte (von der
Beschwerdegegnerin selbst oder von ihren Angehörigen) informiert, dass sie beim
Duschen mit heissem Wasser einen Schwindel verspürt, das Fenster geöffnet, sich
hinausgelehnt, dabei das Gleichgewicht verloren habe und fünf Meter tief auf
eine Betonterrasse gestürzt sei. Der Schadensinspektorin der Nationale Suisse
schilderte die Beschwerdegegnerin den Unfallhergang am 10. Mai 2010 so, dass es
ihr beim Duschen schlecht geworden sei und sie sich auf den äusseren
Fenstersims des Badezimmers gesetzt habe, wobei sie nicht mehr wisse, ob die
Beine ins Badezimmer oder über die Brüstung nach aussen gerichtet gewesen
seien. Sie erinnere sich nicht daran, wie sie von der Dusche zum Fenster
gekommen sei, wie sie am Fenster gesessen habe oder wie sie gefallen und wie
sie aufgeprallt sei.

5.1.2. Im Beschwerdeverfahren gegen den ersten Einspracheentscheid vom 4. Juli
2012 liess die Versicherte darauf hinweisen, dass sie "stets ausgesagt" habe,
nachdem ihr beim Föhnen der Haare erneut schlecht geworden sei, habe sie sich
auf die Fensterbank des bereits geöffneten Badezimmerfensters gesetzt und sei
von dieser Fensterbank "irgendwann plötzlich heruntergestürzt" (Beschwerde vom
31. August 2012). In der Beschwerdeschrift vom 10. Juni 2014 gegen den zweiten
Einspracheentscheid vom 9. Mai 2014 wiederholte die Versicherte diese Angabe,
verdeutlichte aber auch, dass der genaue Geschehensablauf unklar sei und unter
diesen Umständen nicht davon ausgegangen werden könne, sie habe sich auf den
äusseren Fenstersims gesetzt und sei dadurch aus dem Fenster gefallen. Es könne
nicht einmal gesagt werden, ob sie vor dem Sturz auf der Fensterbank gesessen
sei oder ob sie sich bereits wieder erhoben habe. Im AGU-Gutachten vom 5.
September 2011 werden verschiedene mögliche Bewegungsabläufe untersucht, welche
aber mit einem im Vergleich zur Versicherten (156 cm/52 kg) deutlich grösseren
und schwereren Dummy-Modell (174 cm/75,5 kg) simuliert wurden, weshalb die
Resultate nicht vorbehaltlos auch für die Beschwerdegegnerin Geltung
beanspruchen können. Aufgrund des Verletzungsbildes gehen die Experten davon
aus, dass die Beschwerdegegnerin mit den Beinen/dem Gesäss (zuerst) auf den
Betonboden geprallt ist. Zufolge der von der Beschwerdeführerin vorgegebenen
Fragestellung mussten sie vorab prüfen, ob ein Sturz rückwärts aus dem Fenster
mit dem Verletzungsbild übereinstimme, und anschliessend hatten sie sich dazu
zu äussern, ob es einen anderen Ablauf gibt, welcher mit dem Verletzungsbild
übereinstimmt. Bei einem Sitzen auf dem inneren Fensterbrett mit Blick nach
innen und ebenso bei einem Stehen vor dem Fenster wäre die Versicherte gemäss
AGU-Gutachten nicht aus dem Fenster gefallen, sondern auf dem Fenstersims
liegen geblieben; demgegenüber wäre ein Sturz - bei Bewusstlosigkeit allerdings
mit anderen Verletzungsfolgen - möglich gewesen, wenn die Beschwerdegegnerin
auf dem äusseren Fensterbrett mit den Beinen nach innen gesessen wäre. Ein
Sturz bei einem Sitzen mit den Beinen nach aussen wäre mit den
Verletzungsfolgen vereinbar. Nicht untersucht wurden andere naheliegende
Positionen vor dem Sturz, so namentlich Stehen am geöffneten Fenster, aber
hinausgelehnt, so wie dies den erstbehandelnden Ärzten des Spitals C.________
beschrieben wurde (Austrittsbericht vom 15. April 2010), oder Knien auf der
Fensterbank.

5.2. Es ist dem Unfallversicherer zwar zuzugestehen, dass das Sitzen auf dem
äusseren Sims in einer Höhe von 6,4 m während eines Schwindelanfalls -
unabhängig davon, ob die Beine nach innen oder nach aussen gerichtet sind - ein
Wagnis darstellt (vgl. Urteil 8C_85/2014 vom 21. Januar 2015). Allerdings ist
mit der Vorinstanz und der Beschwerdegegnerin einig zu gehen, dass nicht mit
dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 141 V 15 E. 3.1 S. 20; 137 V 334 E. 3.2      S. 338;
125 V 146 E. 2c S. 150; 117 V 194 E. 3b S. 194 f.; je mit Hinweisen) davon
ausgegangen werden kann, die Versicherte sei aus dem Sitzen auf dem äusseren
Fenstersims auf die Terrasse heruntergefallen. Denn bei der vorliegenden
Datenlage, welche sich nachträglich nicht mehr vervollständigen lässt, sind
mehrere Körperhaltungen am offenen Fenster gleichermassen möglich. In Betracht
fallen namentlich ein Stehen am Fenster und ein Knien auf dem inneren
Fenstersims mit jeweils nach aussen geneigtem Oberkörper, Haltungen also,
welche den Wagnisbegriff nicht erfüllen. Unter diesen Umständen kann keine
Leistungskürzung wegen Eingehens eines Wagnisses erfolgen. Die Beschwerde ist
abzuweisen.

6. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Als unterliegende Partei hat
die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG; BGE
133 V 642) und der anwaltlich vertretenen Beschwerdegegnerin überdies eine
Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern,          3.
Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 1. Juli 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben