Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.519/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_519/2015

Urteil vom 25. Januar 2016

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
Gerichtsschreiberin Andres.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Advokat Dr. Urs Pfander,
Beschwerdeführerin,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, 4051 Basel,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Anordnung von Massnahmen, Einholung eines Gutachtens,

Beschwerde gegen das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt,
Ausschuss, vom 4. März 2015.

Sachverhalt:

A.
Das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt verurteilte X.________ am 20. November
2013 wegen mengen- und gewerbsmässig qualifizierter Widerhandlungen gegen das
Betäubungsmittelgesetz, mehrfacher Übertretung desselben, Fahrens in
fahrunfähigem Zustand sowie ohne Führerausweis oder trotz Entzugs zu einer
Freiheitsstrafe von 2 ¼ Jahren und einer Busse von Fr. 300.--. Zudem erklärte
es die gegen sie am 9. März 2009 vom Strafgericht bedingt ausgesprochene
Freiheitsstrafe von 14 Monaten für vollziehbar.
Dagegen erhob X.________ Berufung, beschränkt auf den Strafpunkt. Das
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt bestätigte am 4. März 2015 das
erstinstanzliche Urteil.

B.
X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das
appellationsgerichtliche Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen. Sie ersucht um unentgeltliche Rechtspflege
und Verbeiständung.

C.
Das Appellationsgericht und die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt
beantragen die Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz verletze Art. 20 und 56 Abs. 3
StGB, indem sie ihren Antrag auf Einholung eines sachverständigen Gutachtens
ablehne und die gutachterlich abzuklärenden Fragen zu ihrer Schuldfähigkeit
sowie zur Anordnung einer Massnahme selbst beantworte. Die Vorinstanz verfalle
zudem in Willkür, wenn sie annehme, die Beschwerdeführerin sei nicht zu einer
stationären Massnahme bereit.

1.2.

1.2.1. War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat
einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar
(Art. 19 Abs. 1 StGB). War der Täter zur Zeit der Tat nur teilweise fähig, das
Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so
mildert das Gesetz die Strafe (Art. 19 Abs. 2 StGB). Besteht ernsthafter
Anlass, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, so ordnet die
Untersuchungsbehörde oder das Gericht die Begutachtung durch einen
Sachverständigen an (Art. 20 StGB).
Ein Gutachten ist anzuordnen, wenn das Gericht nach den Umständen des Falles
ernsthafte Zweifel an der Schuldfähigkeit hat oder haben sollte. Bei der
Prüfung dieser Zweifel ist zu berücksichtigen, dass nicht jede geringfügige
Herabsetzung der Fähigkeit, sich zu beherrschen, genügt, um verminderte
Zurechnungsfähigkeit anzunehmen. Der Betroffene muss vielmehr in hohem Masse in
den Bereich des Abnormen fallen. Seine Geistesverfassung muss nach Art und Grad
stark vom Durchschnitt nicht bloss der Rechts-, sondern auch der
Verbrechensgenossen abweichen. Die Notwendigkeit, einen Sachverständigen
zuzuziehen, ist erst gegeben, wenn Anzeichen vorliegen, die geeignet sind,
Zweifel hinsichtlich der vollen Schuldfähigkeit zu erwecken, wie etwa ein
Widerspruch zwischen Tat und Täterpersönlichkeit oder ein völlig unübliches
Verhalten. Zeigt das Verhalten des Täters vor, während und nach der Tat, dass
ein Realitätsbezug erhalten war, dass er sich an wechselnde Erfordernisse der
Situation anpassen, auf eine Gelegenheit zur Tat warten oder diese gar
herbeiführen konnte, so hat eine schwere Beeinträchtigung nicht vorgelegen (BGE
133 IV 145 E. 3.3 S. 147 f. mit Hinweisen; Urteile 6B_857/2014 vom 5. Februar
2015 E. 1.3; 6B_132/2015 vom 21. April 2015 E. 3.5.1 f.). Umstände, welche beim
Gericht ernsthafte Zweifel hervorrufen müssen, sind nach der
bundesgerichtlichen Praxis beispielsweise bei Drogenabhängigkeit gegeben (BGE
133 IV 145 E. 3.3 S. 147; 106 IV 241 E. 2a S. 243; 102 IV 74 E. 1b S. 75 f.).

1.2.2. Gemäss Art. 56 Abs. 1 StGB ist eine Massnahme anzuordnen, wenn eine
Strafe allein nicht geeignet ist, der Gefahr weiterer Straftaten des Täters zu
begegnen (lit. a), wenn ein Behandlungsbedürfnis des Täters besteht oder die
öffentliche Sicherheit dies erfordert (lit. b) und wenn die Voraussetzungen von
Art. 59 bis 61, 63 oder 64 StGB erfüllt sind (lit. c).
Ist der Täter von Suchtstoffen oder in anderer Weise abhängig, kann das Gericht
nach Art. 60 Abs. 1 StGB eine stationäre Behandlung anordnen, wenn der Täter
ein Verbrechen oder ein Vergehen begangen hat, das mit seiner Abhängigkeit in
Zusammenhang steht (lit. a), und zu erwarten ist, dadurch lasse sich der Gefahr
weiterer mit der Abhängigkeit in Zusammenhang stehender Taten begegnen (lit.
b). Gemäss Art. 63 Abs. 1 StGB kann das Gericht anordnen, dass der von
Suchtstoffen oder in anderer Weise abhängige Täter nicht stationär, sondern
ambulant behandelt wird, wenn er eine mit Strafe bedrohte Tat verübte, die mit
seinem Zustand in Zusammenhang steht (lit. a), und wenn zu erwarten ist,
dadurch lasse sich der Gefahr weiterer mit dem Zustand des Täters in
Zusammenhang stehender Taten begegnen (lit. b; ausführlich zur Abgrenzung
ambulante/stationäre Suchtbehandlung: Urteil 6B_440/2014 vom 14. Oktober 2014
E. 5).
Das Gericht stützt sich bei seinem Entscheid über die Anordnung einer
stationären oder ambulanten Suchtbehandlung nach Art. 60 und 63 StGB auf eine
sachverständige Begutachtung, die sich u.a. über die Notwendigkeit und die
Erfolgsaussichten einer Behandlung des Täters, die Art und die
Wahrscheinlichkeit weiterer möglicher Straftaten und die Möglichkeiten des
Vollzugs der Massnahme äussert (Art. 56 Abs. 3 StGB). Gutachten sind im
Massnahmerecht nach Art. 56 ff. StGB unabdingbar. Sie werden vom Gesetzgeber
und auch vom Bundesgericht in konstanter Praxis als zwingende
Entscheidgrundlage bezeichnet, sofern die Indikation einer Massnahme, sei diese
therapeutisch oder sichernd, zu beurteilen ist (Urteil 6B_265/2015 vom 3.
Dezember 2015 E. 4.1.1).

1.3. Die Vorinstanz äussert sich im Rahmen der Strafzumessung nicht zur
Schuldfähigkeit der Beschwerdeführerin im Sinne von Art. 19 StGB. Jedoch
scheint sie als erstellt zu erachten, dass diese seit längerer Zeit von
Betäubungsmitteln abhängig ist, zumal sie den fakultativen Strafmilderungsgrund
nach Art. 19 Abs. 3 lit. b BetmG prüft. Diesbezüglich gelangt sie zum Schluss,
die Strafe könne infolge der Sucht der Beschwerdeführerin nur in geringem Mass
gemindert werden (Urteil S. 5 f.).
Hinsichtlich der Frage, ob vorliegend die Voraussetzungen zur Anordnung einer
Massnahme gemäss Art. 56 ff. StGB erfüllt sind, erwägt die Vorinstanz, es könne
auf eine sachverständige Begutachtung der Beschwerdeführerin verzichtet werden.
Der Umstand, dass diese trotz dreijähriger ambulanter Behandlung wieder Drogen
konsumiere, spreche gegen die Anordnung einer ambulanten Massnahme. Da ihr
freiwilliger stationärer Entzug gescheitert sei und die Vorinstanz bei ihrer
Befragung an der Berufungsverhandlung den Eindruck gewonnen habe, die
Beschwerdeführerin sei zu einer stationären Massnahme nicht bereit, sei auch
eine stationäre Suchtbehandlung nicht die richtige Sanktion (Urteil S. 7 f.).

1.4. Dem angefochtenen Urteil ist nicht zu entnehmen, ob und allenfalls welche
Voraussetzungen für eine ambulante oder stationäre Suchtbehandlung gemäss Art.
56 i.V.m. 63 bzw. 60 StGB die Vorinstanz als gegeben erachtet. Jedenfalls
scheint sie von einer Betäubungsmittelabhängigkeit der Beschwerdeführerin und
aufgrund dessen von deren Behandlungsbedürfnis auszugehen. Letztlich beschränkt
sie sich jedoch darauf, die für die Therapierbarkeit der Sucht wichtige
Behandlungsbereitschaft der Beschwerdeführerin zu verneinen. Da vorliegend
gewisse Indikatoren eine Prüfung der Anordnung einer Massnahme nahelegen und
die Vorinstanz diese auch prüft, hätte sie zuvor zwingend ein Gutachten eines
Sachverständigen einholen müssen. Indem sie die sich stellenden Fragen beim
Entscheid über die tatsächlichen Voraussetzungen der Massnahmeanordnung,
insbesondere die Therapiebereitschaft, ohne die vom Gesetz vorausgesetzte
Expertenhilfe beantwortet, eignet sie sich unzulässigerweise Fachkompetenz an,
über die sie nicht verfügt (vgl. Urteil 6B_438/2011 vom 18. Oktober 2011 E.
2.4.3). Denn die Frage, ob die Beschwerdeführerin zu einer (stationären)
Suchtbehandlung bereit ist, betrifft letztlich die Erfolgsaussicht dieser
Behandlung, worüber sich zwingend eine sachverständige Person zu äussern hat
(Art. 56 Abs. 3 lit. a StGB). Indem die Vorinstanz die Anordnung einer
Massnahme prüft, ohne sich dabei auf eine sachverständige Begutachtung stützen
zu können, verletzt sie Bundesrecht. Da keine rechtsgenügende
Entscheidgrundlage im Sinne von Art. 56 Abs. 3 StGB vorliegt, kann
offenbleiben, ob die Vorinstanz in Willkür verfällt, indem sie die
Behandlungsbereitschaft der Beschwerdeführerin verneint. Ebenso wenig ist zu
beurteilen, ob der Umstand, dass die Beschwerdeführerin trotz mehrjähriger
ambulanter Behandlung weiterhin Betäubungsmittel konsumiert, gegen die
Anordnung einer ambulanten Massnahme nach Art. 63 StGB spricht.
Die langjährige Drogenabhängigkeit der Beschwerdeführerin ist nach der
Rechtsprechung geeignet, ernsthafte Zweifel an deren Schuldfähigkeit
hervorzurufen (vgl. E. 1.2.1). Dem angefochtenen Urteil ist nicht zu entnehmen,
dass die Vorinstanz die Schuldfähigkeit der Beschwerdeführerin prüft oder eine
allfällige Verminderung bei der Strafzumessung berücksichtigt. Die anzuordnende
forensisch-psychiatrische Expertise wird sich daher auch zur Schuldfähigkeit
der Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Taten auszusprechen haben.

2.
Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz vor ihrer neuen Entscheidung ein
forensisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen, dass sich sowohl zu der
Schuldfähigkeit der Beschwerdeführerin als auch zu der Massnahmeindikation
(vgl. Art. 56 Abs. 3 StGB) äussert. Wie die Beschwerdeführerin zutreffend
ausführt, wird sich die sachverständige Beurteilung allenfalls auf die Höhe der
Strafe, die Gewährung des bedingten Vollzugs und den Widerruf der bedingten
Strafe auswirken. Da die Vorinstanz die Strafzumessung nach Erhalt des
Gutachtens neu wird vornehmen müssen, erübrigt es sich, auf die weiteren Rügen
der Beschwerdeführerin einzugehen.
Die Vorinstanz ist einzig daran zu erinnern, dass sie als Berufungsgericht über
umfassende Kognition in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht verfügt und ein
neues, den erstinstanzlichen Entscheid ersetzendes Urteil fällt. Sie hat die
Strafe unter Berücksichtigung aller wesentlichen Strafzumessungsfaktoren neu
festzusetzen sowie nachvollziehbar zu begründen und darf sich nicht damit
begnügen, die erstinstanzliche Rechtsanwendung zu überprüfen (vgl. BGE 141 IV
244 E. 1.3.3 S. 248; Urteil 6B_899/2014 vom 7. Mai 2015 E. 2.3). Hinsichtlich
der formellen Anforderungen an das Dispositiv des in der Sache ergehenden
Berufungsurteils wird auf Art. 81 i.V.m. 408 StPO verwiesen (hierzu: Urteile
6B_480/2015 vom 9. November 2015 E. 2.3; 6B_254/2015 vom 27. August 2015 E.
3.2; 6B_482/2012 vom 3. April 2013 E. 5.3; je mit Hinweisen).

3.
Die Beschwerde ist gutzuheissen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Es sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton
Basel-Stadt hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren
angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Die Entschädigung ist
praxisgemäss ihrem Rechtsvertreter auszurichten. Damit wird das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Appellationsgerichts des
Kantons Basel-Stadt vom 4. März 2015 aufgehoben und die Sache zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Der Kanton Basel-Stadt hat dem Vertreter der Beschwerdeführerin eine
Entschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Appellationsgericht des Kantons
Basel-Stadt, Ausschuss, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 25. Januar 2016

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Die Gerichtsschreiberin: Andres

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