Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.427/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_427/2015

Urteil vom 20. August 2015

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Oberholzer,
Bundesrichterin Jametti,
Gerichtsschreiber Briw.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführerin,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Postfach 3439, 6002 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Probezeit (Art. 62 Abs. 2 StGB),

Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern, 2. Abteilung, vom 23.
März 2015.

Sachverhalt:

A. 
Das Obergericht des Kantons Luzern sprach X.________ am 29. März 2001 im
Strafverfahren wegen vorsätzlicher Tötung bzw. Mord infolge
Zurechnungsunfähigkeit von Schuld und Strafe frei und ordnete die Verwahrung
gemäss aArt. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB an.

Das Obergericht hob am 13. September 2007 die altrechtliche Verwahrung auf und
ordnete eine stationäre therapeutische Massnahme gemäss Art. 59 Abs. 1 StGB an.
Die dagegen erhobene Beschwerde in Strafsachen wies das Bundesgericht mit
Urteil 6B_623/2007 vom 4. März 2008 ab, soweit es darauf eintrat.

Die Vollzugs- und Bewährungsdienste des Kantons Luzern sahen im Rahmen der
jährlichen Überprüfungen von einer bedingten Entlassung ab. Dagegen erhobene
Beschwerden wurden abgewiesen, soweit darauf einzutreten war (Urteile 6B_298/
2012 vom 16. Juli 2012 und 6B_329/2011 vom 12. Juli 2011). Es wurde mehrmals
verlängerte Sicherheitshaft angeordnet (BGE 139 IV 175). Ferner verlängerte das
Obergericht die stationäre Massnahme am 1. Februar 2013. Auch die dagegen
erhobene Beschwerde wies das Bundesgericht mit Urteil 6B_462/2013 vom 12.
Dezember 2013 ab, soweit es darauf eintrat.

Das Kantonsgericht verlängerte schliesslich am 1. April 2014 die Massnahme in
Anwendung von Art. 59 Abs. 4 StGB um weitere 6 Monate bis zum 13. September
2014.

B. 
Die Vollzugs- und Bewährungsdienste des Kantons Luzern (VBD) entschieden am 14.
August 2014:

1. X.________ wird am 3. September 2014 aus der am 13. September 2007
angeordneten stationären Massnahme bedingt entlassen.
2. Die Probezeit wird auf 5 Jahre festgesetzt, sie beginnt im Zeitpunkt der
bedingten Entlassung und endet am 3. September 2019.
3. Für die Dauer der Probezeit wird Bewährungshilfe angeordnet.
4. Zusammen mit der Bewährungshilfe werden folgende Weisungen und/oder Auflagen
erteilt:

4.1 X.________ ist verpflichtet, sich ambulant durch das forensische
Ambulatorium [...] behandeln zu lassen.
4.2 X.________ erhält die Weisung, im Wohnheim [...] zu wohnen und an der
internen Beschäftigung vollumfänglich teilzunehmen (jeweils Mo/Di/Do/Fr je 5 1/
2 h, Mi 3 h).
4.3 Ein Wechsel der betreuten Wohnsituation, Beschäftigungs-/Arbeitssituation
oder der Therapiestelle ist nur mit Einwilligung des zuständigen
Bewährungsdienstes zulässig.
4.4 Auf Anordnung des Bewährungsdienstes kann X.________ zu Abstinenzkontrollen
in Bezug auf nicht verordnete Medikamente und illegale Substanzen verpflichtet
werden.
4.5 Zur Gewährleistung der Bewährungshilfe gilt ein striktes Meldewesen. Das
Wohnheim, die Beschäftigungs-/Arbeitsstelle und die Therapiestelle sind
verpflichtet, den zuständigen Bewährungsdienst über den Verlauf regelmässig und
über allfällige Regelverstösse umgehend zu informieren.

C. 
X.________ führte Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, die
Bewährungshilfe auf maximal 2 Jahre festzusetzen. Das Kantonsgericht Luzern
wies am 23. März 2015 die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab.

D. 
X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen:

1. das kantonsgerichtliche Urteil aufzuheben und die Probezeit auf 2 Jahre
festzusetzen;
2. eventuell die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen mit der Weisung, die
Probezeit auf maximal 3 Jahre festzulegen;
3. ihr die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren;
4. von Amtes wegen zu prüfen, ob es zulässig war, dass die strafrechtliche
statt die verwaltungsrechtliche Abteilung des Kantonsgerichts die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beurteilte.

Erwägungen:

1.

1.1. Beschwerdegegenstand ist das angefochtene kantonsgerichtliche Urteil vom
23. März 2015 (Art. 80 Abs. 1 Bundesgerichtsgesetz; BGG). Auf die bezüglich
Strafverfahren und Begutachtungen behaupteten Unregelmässigkeiten und
Unzulänglichkeiten (worauf das Bundesgericht bereits in früheren Verfahren
einging, vgl. Urteile 6B_462/2013 vom 12. Dezember 2013 und 6B_298/2012 vom 16.
Juli 2012), die sich kausal auf die Länge der Probezeit ausgewirkt haben
sollen, sowie das angeblich günstigere Wegkommen anderer Straftäter, ist nicht
einzutreten.

1.2. Das Bundesgericht tritt auch auf unbegründete Rechtsbegehren (oben Bst. D,
Ziff. 4) nicht ein. Es kann angemerkt werden, dass sich das Kantonsgericht in
vier Abteilungen gliedert, denen die Fälle nach Rechtsgebieten zugeteilt sind,
wobei die 2. Abteilung unter anderem Verwaltungsgerichtsbeschwerden betreffend
Strafvollzug erledigt (§§ 12, 13 und 15 lit. f der Geschäftsordnung für das
Kantonsgericht des Kantons Luzern; SRL 263).

1.3. Die Akten des Kantonsgerichts enthalten zwei Schreiben an die
Beschwerdeführerin. Nach dem ersten vom 6. Oktober 2014 wurden ihr die
Vernehmlassung der VBD vom 3. Oktober 2014 (act. 5) und nach dem zweiten vom
27. Oktober 2014 die Vernehmlassung der Oberstaatsanwaltschaft Luzern vom 24.
Oktober 2014 (act. 7) zur Orientierung zugestellt. Die Beschwerdeführerin war
somit im Besitz der beiden Vernehmlassungen und konnte sich dazu äussern.

2.

2.1. Die Beschwerdeführerin macht geltend, die lange Probezeit und die damit
verbundenen Auflagen und Weisungen schränkten ihre persönliche Freiheit über
Gebühr ein. Dem stünden Art. 10 Abs. 2 BV und das Verhältnismässigkeitsprinzip
entgegen. Auch könnten ihre spezifischen Erlebens- und Verhaltensweisen, die
den Hintergrund ihres Delikts bildeten, entgegen der Vorinstanz gar nicht
erprobt werden. Dazu müsste sie erst wieder an einen Mann geraten, der sie
schwer demütige und traktiere. Die Beschwerdeführerin setzt sich weiter mit den
Diagnosestellungen in den Gutachten auseinander und äussert sich zum Schicksal
ihres Sohnes. Abschliessend bringt sie vor, sie leide schon seit vielen Jahren
nicht mehr an einer schweren psychischen Störung, und ihre Therapeutin habe
gesagt, dass sie auch nach Abschluss der offiziellen Therapie für sie
erreichbar sei. Daher sei es sehr wohl vorstellbar, dass die Probezeit von zwei
Jahren bis zum 3. September 2016 nicht zu kurz sei.

2.2. Gemäss Art. 62 Abs. 2 StGB beträgt die Probezeit bei einer bedingten
Entlassung aus einer Massnahme nach Art. 59 StGB ein bis fünf Jahre. Die
Vollzugsbehörde, hier also die VBD, kann für die Dauer der Probezeit
Bewährungshilfe anordnen und Weisungen erteilen (Art. 62 Abs. 3 StGB). Diese
Anordnungen greifen von Gesetzes wegen in die Persönlichkeitsrechte ein und
sind von der Beschwerdeführerin hinzunehmen. Wie die Vorinstanz ausführt,
müssen die Eingriffe verhältnismässig sein. Weil die Beschwerdeführerin eine
schwere Anlasstat im Sinne von Art. 64 Abs. 1 StGB beging, kann die Probezeit
so oft verlängert werden, als dies notwendig erscheint, um weitere Straftaten
dieser Art zu verhindern (Art. 62 Abs. 6 StGB).

2.3. Die Vorinstanz berücksichtigt die zahlreichen psychiatrischen
Befundtatsachen aus dem Strafverfahren und Massnahmevollzug. Im Vordergrund
stehen Überlegungen zur Legalprognose sowie zu den Risiken, denen die
Beschwerdeführerin nach der bedingten Entlassung ausgesetzt sein wird. Es fehlt
ihr ein privates, stützendes soziales Netz. Sie unterhält eine enge Beziehung
zu ihrem ebenfalls an einer schweren psychischen Störung leidenden Sohn (dem
jugendlichen Beteiligten an der Tötung des Ehemanns). Wie sie in ihrer
Beschwerde ausführt, belastete sie das Schicksal ihres Sohnes schwer. Es
handelt sich um einen gewichtigen und weiter wirksamen Stressfaktor, dem sie
auf sich allein gestellt nicht gewachsen wäre. Das ernstliche Risiko einer
Akzentuierung oder eines erneut gravierenden Ausbruchs einer wahnhaften Störung
(Art. 59 Abs. 1 StGB), lässt sich nur herabsetzen, wenn die Beschwerdeführerin
psychiatrisch und in ihrer Lebensgestaltung jedenfalls zunächst relativ
engmaschig begleitet wird. Eine längerfristige Betreuung ("Erprobungszeit") mit
stützenden Eingriffen und strukturiertem Alltag erweist sich als unabdingbar.
Die Beschwerdeführerin verkennt völlig die in nahezu allen psychiatrisch
relevanten Befunden festgestellten schweren psychischen Erkrankungen
(insbesondere aus dem Formenkreis der Wahnerkrankungen) sowie die damit
zusammenhängende, unabweisbare Rückfallproblematik (vgl. bereits Urteil 6B_298/
2012 vom 16. Juli 2012 E. 4.4). Es ist nach aller Erfahrung ausgeschlossen,
dass sie angesichts der offenkundig fortbestehenden krankheitsbedingt fehlenden
Krankheitseinsicht und sozialen Isolation in zwei Jahren auf keine
psychiatrische, therapeutische und strukturierende Hilfen mehr angewiesen sein
wird. Mit einem Rückfall in frühere Verhaltensmuster wäre mit Sicherheit zu
rechnen.

2.4. Es ist der Beschwerdeführerin zu empfehlen, den durchaus einschränkenden,
notwendigen Anordnungen und Weisungen den positiven Sinn abzugewinnen, der mit
ihnen angestrebt ist, nämlich ihr beizustehen und sie in ihrer schwierigen Lage
nicht im Stich zu lassen, wirft sie Ärzten und Behörden doch gerade vor, ihrem
Sohn nicht geholfen und ihn stattdessen auf die Strasse gestellt zu haben.

3. 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Das
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist wegen Aussichtslosigkeit des
Rechtsbegehrens abzuweisen (Art. 64 BGG). Damit musste die prozesserfahrene
Beschwerdeführerin rechnen. Angesichts ihrer finanziellen Lage (Urteil S. 8)
sind praxisgemäss herabgesetzte Kosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 i.V.m. Art.
65 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Luzern, 2. Abteilung,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 20. August 2015

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: Briw

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