Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.346/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_346/2015

Urteil vom 1. März 2016

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
Bundesrichterin Jametti,
Gerichtsschreiber M. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Werner Michel,
Beschwerdeführer,

gegen

Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Maulbeerstrasse 10, 3011 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Exequatur; rechtliches Gehör,

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern,
Strafabteilung, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 4. März 2015.

Sachverhalt:

A.
X.________ wurde in den Jahren 2012 und 2013 in Österreich wegen schweren
gewerbsmässigen Betrugs rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren
sowie zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt. Das
Bundesministerium für Justiz der Republik Österreich ersuchte die zuständige
schweizerische Behörde mit Schreiben vom 20. Oktober und 10. November 2014 um
stellvertretende Strafvollstreckung. Das Bundesamt für Justiz nahm das Begehren
nach Rücksprache mit der Vollzugsbehörde des zuständigen Kantons Bern an. Diese
ersuchte am 10. Februar 2015 die Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons
Bern um Durchführung des Exequaturverfahrens. Nach Anhörung der
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern erklärte das Obergericht mit
Beschluss vom 4. März 2015 die österreichischen Urteile für vollstreckbar.

B.
X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der obergerichtliche
Beschluss vom 4. März 2015 sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an
das Obergericht des Kantons Bern zurückzuweisen. Im Rahmen des
Exequaturverfahrens seien ihm das rechtliche Gehör zu gewähren und ein
kantonales Rechtsmittel zur Verfügung zu stellen.

C.
Die Generalstaatsanwaltschaft und das Obergericht des Kantons Bern verzichten
auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe in Verletzung von
Art. 105 IRSG (SR 351.1) über die Vollstreckung der ausländischen Urteile
entschieden, ohne ihn angehört zu haben. Bundesrechtswidrig sei sodann, dass
ihm lediglich die Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht zur Verfügung
gestellt worden sei.

1.2. Die Vorinstanz setzt sich im angefochtenen Beschluss nicht mit den das
Exequaturverfahren regelnden und vom Beschwerdeführer als verletzt gerügten
Bestimmungen (Art. 105 und 106 IRSG) auseinander. Sie verzichtet gänzlich auf
eigene rechtliche Ausführungen und schliesst sich vollumfänglich den
Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern gemäss deren
Schreiben vom 27. Februar 2015 an. Diese kam zum Schluss, gestützt auf Art. 106
Abs. 1 IRSG i.V.m. Art. 55 Abs. 4 StPO und Art. 28 Abs. 2 des
Einführungsgesetzes des Kantons Bern zur Zivilprozessordnung, zur
Strafprozessordnung und zur Jugendstrafprozessordnung vom 11. Juni 2009 (EG
ZSJ; BSG 271.1) sei die Vorinstanz für die Durchführung des Exequaturverfahrens
zuständig.

1.3.

1.3.1. Gestützt auf Art. 104 Abs. 1 IRSG entscheidet das Bundesamt für Justiz
nach Rücksprache mit der Vollzugsbehörde zunächst formell über die Annahme
eines ausländischen Vollstreckungsersuchens. Nimmt es dieses an, so übermittelt
es die Akten und seinen Antrag der Vollzugsbehörde und verständigt den
ersuchenden Staat (Art. 104 Abs. 1 IRSG, vgl. zum Verfahren BGE 136 IV 44 E.
1.2 S. 46 f.). In der Folge unterrichtet der (materiell) nach Art. 32 StPO
zuständige kantonale Richter den Verurteilten über das Verfahren, hört ihn und
seinen Rechtsbeistand zur Sache an und entscheidet über die Vollstreckung (Art.
105 IRSG). Der Richter prüft von Amtes wegen, ob die Voraussetzungen der
Vollstreckung gegeben sind, und erhebt die nötigen Beweise (Art. 106 Abs. 1
IRSG). Sind die Voraussetzungen erfüllt, so erklärt der Richter den Entscheid
für vollstreckbar und trifft die für die Vollstreckung erforderlichen
Anordnungen (Art. 106 Abs. 2 IRSG). Der Entscheid hat in Form eines begründeten
Urteils zu erfolgen (Art. 106 Abs. 3 Satz 1 IRSG). Das kantonale Recht stellt
ein Rechtsmittel zur Verfügung (Art. 106 Abs. 3 Satz 2 IRSG).

1.3.2. Vorliegend hat die Vorinstanz in erster und einziger Instanz über das
Exequaturbegehren entschieden. Dies widerspricht Art. 106 Abs. 3 Satz 2 IRSG
und Art. 80 Abs. 2 BGG, welche einen zweistufigen kantonalen Instanzenzug
verlangen (vgl. BGE 136 IV 44 E. 1.4 S. 48). Es liegt kein Fall einer
gesetzlichen Ausnahme (im Sinne von Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BGG) vor; vielmehr
stellt Art. 106 Abs. 3 Satz 2 IRSG die lex specialis dar für den Rechtsweg im
Exequaturverfahren. Der doppelte kantonale Instanzenzug dient nicht nur dem
Rechtsschutz der betroffenen Personen, sondern auch der Entlastung des
Bundesgerichtes (Urteil 1B_467/2013 vom 13. Januar 2014 E. 3.3).
An den klaren gesetzlichen Vorgaben zum Ablauf des Exequaturverfahrens gemäss
Art. 105 f. IRSG hat sich mit Inkrafttreten der StPO per 1. Januar 2011 nichts
geändert (OMAR ABO YOUSSEF, in: Basler Kommentar, Internationales Strafrecht,
2015, N. 18 ff. zu Art. 106 IRSG; STEFAN HEIMGARTNER, in: Kommentar zur
Schweizerischen Strafprozessordnung, Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2.
Aufl. 2014, N. 7 f. zu Art. 55 StPO; ROBERT ZIMMERMANN, La coopération
judiciaire internationale en matière pénale, 4. Aufl. 2014, Rz. 769; CAMILLE
PERRIER DEPEURSINGE, CPP annoté, 2015, S. 67 zu Art. 55 StPO; a.M. HORST
SCHMITT, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl.
2014, N. 5 f. zu Art. 55 StPO; JEANNERET/KUHN, Précis de procédure pénale,
2013, S. 206 N. 11007; MOREILLON/PAREIN-REYMOND, Petit commentaire, CPP, 2013,
N. 10 f. zu Art. 55 StPO; NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung,
Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 5 zu Art. 55 StPO; DERSELBE, Handbuch des
schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2013, N. 505; NIKLAUS OBERHOLZER,
Grundzüge des Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2012, S. 89 Rz. 236; MOREILLON/
CRUCHET/REYMOND, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011,
N. 2 zu Art. 55 StPO; PIQUEREZ/MACALUSO, Procédure pénale suisse, 3. Aufl.
2011, N. 933; PAOLO BERNASCONI, in: Commentario, Codice svizzero di procedura
penale, 2010, N. 13 zu Art. 55 StPO; FELIX BÄNZIGER, in: Kommentierte
Textausgabe zur Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007,
Goldschmid/Maurer/Sollberger [Hrsg.], 2008, S. 45 zu Art. 55 StPO). Zwar ist in
Art. 55 Abs. 4 StPO festgehalten, dass die Beschwerdeinstanz zuständig ist,
wenn das Bundesrecht Aufgaben der (internationalen) Rechtshilfe einer
richterlichen Behörde zuweist. Die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts
sprach sich gestützt darauf wiederholt für eine Zuständigkeit der
Beschwerdeinstanz aus, allerdings ohne sich zum Spannungsverhältnis zwischen
Art. 55 Abs. 4 StPO und Art. 106 Abs. 3 Satz 2 IRSG zu äussern (vgl. Urteile
6B_741/2012 vom 5. September 2013 E. 1 und 6B_300/2013 vom 3. Juni 2013 E. 1).
Art. 55 Abs. 4 StPO gilt jedoch nicht absolut. Denn die Gewährung der
internationalen Rechtshilfe und das Rechtsmittelverfahren richten sich gemäss
Art. 54 StPO nur so weit nach der StPO, als andere Gesetze des Bundes und
völkerrechtliche Verträge dafür keine Bestimmungen enthalten. Die Bestimmungen
des IRSG gehen der Regelung von Art. 55 Abs. 4 StPO demnach vor (vgl. auch
Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts,
BBI 2006 1147 Ziff. 2.2.5). Weder der StPO noch der Botschaft lässt sich
entnehmen, dass der Gesetzgeber vom zweistufigen kantonalen Instanzenzug im
Exequaturverfahren nach Art. 105 f. IRSG hätte abweichen wollen (Urteil 1B_467/
2013 vom 13. Januar 2014 E. 3.3).

Der Entscheid über das Exequaturbegehren hätte sodann gemäss Art. 106 Abs. 3
Satz 1 IRSG nicht in Form eines Beschlusses, sondern in Form eines begründeten
Urteils erfolgen müssen. Damit ist zugleich klar, dass als Rechtsmittel gegen
den erstinstanzlichen Exequaturentscheid nur die Berufung in Frage kommt (Art.
398 Abs. 1 StPO; OMAR ABO YOUSSEF, a.a.O., N. 14, 18 und 26 zu Art. 106 IRSG;
RIEDO/FIOLKA/NIGGLI, Strafprozessrecht sowie Rechtshilfe in Strafsachen, 2011,
Rz. 3890).
Indem es die Vorinstanz unterliess, den Beschwerdeführer und seinen
Rechtsbeistand vor dem Entscheid anzuhören, verstiess sie zudem gegen Art. 105
IRSG und verletzte dessen Anspruch auf rechtliches Gehör.

2.
Die Beschwerde ist gutzuheissen und der angefochtene Beschluss aufzuheben. Die
Sache ist zur Gewährleistung des zweistufigen gesetzlichen Rechtsweges (über
das erst- und zweitinstanzliche kantonale Exequaturgericht) an die Vorinstanz
zurückzuweisen. Es sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der
Kanton Bern hat den Beschwerdeführer angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1
und 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Beschluss des Obergerichts des Kantons
Bern vom 4. März 2015 aufgehoben und die Sache zur Gewährleistung des
zweistufigen gesetzlichen Rechtsweges an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Der Kanton Bern hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern,
Strafabteilung, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 1. März 2016

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: M. Widmer

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