Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.188/2015
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_188/2015

Urteil vom 30. Juni 2015

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi, Bundesrichterin Jametti,
Gerichtsschreiberin Andres.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Kenad Melunovic,
Beschwerdeführerin,

gegen

1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
2. X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter M. Conrad,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Einsprachelegitimation der Privatklägerschaft,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht,
2. Kammer, vom 6. Januar 2015.

Sachverhalt:

A.

 A.________ stellte am 13. August 2012 bei der Kantonspolizei Aargau
Strafantrag gegen X.________ wegen Tätlichkeiten, konstituierte sich als
Strafklägerin und verlangte, zu Einvernahmen und Beweiserhebungen vorgeladen zu
werden.

 Die Staatsanwaltschaft Baden verurteilte X.________ mit Strafbefehl vom 18.
September 2012 wegen Tätlichkeiten zu einer Busse von 100.--.

B.

 A.________, nun anwaltlich vertreten, erhob gegen den Strafbefehl am 28.
September 2012 Einsprache im Schuld-, Straf- und Kostenpunkt. Die
Staatsanwaltschaft überwies am 2. Oktober 2012 die Einsprache samt Akten mit
dem Antrag auf Verurteilung gemäss Strafbefehl zur Durchführung des
Hauptverfahrens an das Bezirksgericht Baden. Dieses verurteilte X.________ am
22. November 2013 wegen Tätlichkeiten zu einer Busse von Fr. 100.--. Es
auferlegte die Verfahrenskosten von Fr. 1'812.-- X.________ und A.________ je
zur Hälfte sowie Letzterer die Kosten für die schriftliche Begründung von Fr.
45.--.

 Das Obergericht des Kantons Aargau wies am 6. Januar 2015 die Berufung von
A.________ im Kosten- und Entschädigungspunkt ab und trat in der Sache nicht
darauf ein. Es hob das Urteil des Bezirksgerichts Baden vom 22. November 2013
auf und fasste es von Amtes wegen neu. Danach wurde auf die Einsprache vom 28.
September 2012 gegen den Strafbefehl vom 18. September 2012 nicht eingetreten.
Die hälftigen Verfahrenskosten und die Kosten für die schriftliche Begründung
wurden A.________ auferlegt, die restlichen Kosten auf die Staatskosten
genommen. Die obergerichtlichen Verfahrenskosten von Fr. 1'015.-- auferlegte
das Obergericht A.________ und verpflichtete diese, X.________ eine
Entschädigung von Fr. 978.90 auszurichten.

C.

 A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das obergerichtliche
Urteil sei aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen, verbunden mit der Anordnung, eine mündliche
Berufungsverhandlung durchzuführen. Sie ersucht um unentgeltliche Rechtspflege
und Verbeiständung.

D.

 Während das Obergericht sowie die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau
auf eine Stellungnahme verzichten, lässt sich X.________ vernehmen und
beantragt die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.

 Zur Beschwerde in Strafsachen ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG berechtigt, wer vor
der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen oder keine Möglichkeit zur Teilnahme
erhalten hat (lit. a) und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung
oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (lit. b). Der Privatklägerschaft
wird Letzteres gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG zuerkannt, wenn der
angefochtene Entscheid sich auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche auswirken
kann. Unbekümmert um die fehlende Legitimation in der Sache selbst kann die
Privatklägerschaft die Verletzung von Verfahrensrechten geltend machen, deren
Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt. Zulässig sind Rügen
formeller Natur, die von der Prüfung der Sache selber getrennt werden können.
Nicht zu hören sind Rügen, die im Ergebnis auf eine materielle Überprüfung des
angefochtenen Entscheids abzielen (vgl. BGE 141 IV 1 E. 1.1 S. 4 f.; 138 IV 248
E. 2 S. 250; je mit Hinweisen).

 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe ihr die Legitimation
zur Einsprache und damit einhergehend zur Berufung abgesprochen. Damit rügt sie
die Verletzung ihrer Parteirechte und ist zur Beschwerde berechtigt. Soweit sie
sich gegen die Auflage der erst- und vorinstanzlichen Verfahrenskosten sowie
der Entschädigung wendet, ist sie ebenfalls beschwert. Auf die Beschwerde ist
einzutreten.

2.

2.1. Die Vorinstanz erwägt, die Beschwerdeführerin sei als Strafklägerin im
Schuld- und Strafpunkt nicht zur Einsprache gegen den Strafbefehl legitimiert.
Ein rechtlich geschütztes Interesse, das die Privatklägerschaft zur Einsprache
berechtige, sei nur gegeben, wenn diese Folgen für die zivilrechtlichen
Ansprüche habe. Die Einsprachelegitimation lasse sich nicht über das blosse
Interesse an einer anderen rechtlichen Qualifikation herleiten. Denn bei einem
Freispruch könne auch nur ein Rechtsmittel erhoben werden, wenn, soweit
zumutbar, die Zivilansprüche bereits im Strafverfahren geltend gemacht worden
seien. Die Beschwerdeführerin habe keine Zivilforderung geltend gemacht
beziehungsweise diese zurückgezogen. Sie könne ihre Legitimation in der Sache
auch nicht über ihre Eigenschaft als Opfer ableiten. Dessen Legitimation gehe
nicht weiter als jene einer Strafklägerin.

 Hingegen wäre die Beschwerdeführerin hinsichtlich der Verweigerung einer
Entschädigung als Betroffene im Sinne von Art. 354 Abs. 1 lit. b StPO zur
Einsprache legitimiert. Jedoch habe sie die Einsprache im Entschädigungspunkt
nicht begründet und die Vorgaben von Art. 354 Abs. 2 StPO nicht erfüllt. Es
könne daher offenbleiben, ob der Beschwerdeführerin im Hinblick auf ein faires
Verfahren der Verfahrensabschluss hätte mitgeteilt werden sollen,
beziehungsweise sie auf die Möglichkeit eines Entschädigungsanspruchs hätte
hingewiesen werden müssen. Im Übrigen sei weder ersichtlich noch näher
erläutert, welche entschädigungspflichtigen Aufwendungen der damals noch nicht
anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin entstanden sein sollen.

 Die Vorinstanz gelangt zum Schluss, dass das Bezirksgericht nicht hätte auf
die Einsprache eintreten dürfen, weshalb dessen Urteil aufzuheben sei. Damit
sei die Beschwerdeführerin mangels eines rechtlich geschützten Interesses nach
Art. 382 Abs. 1 StPO auch zur Berufung nicht berechtigt, weshalb in der Sache
auf die Berufung nicht einzutreten sei (Urteil S. 6 ff.).

2.2. Die Beschwerdeführerin rügt, indem sich die Vorinstanz zur Frage der
Einsprachelegitimation der Privatklägerschaft an die bundesgerichtliche
Rechtsprechung zu Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG anlehne, verletze sie Art.
354 Abs. 1 lit. b StPO. Die Strafklägerin sei durch eine zu milde rechtliche
Qualifikation einer Körperverletzung als Tätlichkeiten auch beschwert und zur
Einsprache legitimiert, wenn sie ihre Zivilforderung nicht im Strafverfahren
geltend gemacht habe. Soweit die Vorinstanz auf die Einsprache im
Entschädigungspunkt wegen ungenügender Begründung nicht eintrete, verkenne sie,
dass ein Strafbefehl - mit Ausnahme von Art. 356 Abs. 6 StPO - nur als Ganzes
angefochten werden könne. Eine partielle Ungültigkeit sei ausgeschlossen. Die
Vorinstanz verletze in mehrfacher Hinsicht das rechtliche Gehör der
Beschwerdeführerin. Da die Vorinstanz die Parteien lediglich aufgefordert habe,
sich zur Einsprache- und Berufungslegitimation zu äussern, habe die
Beschwerdeführerin nie zur Frage einer allfälligen teilweisen Ungültigkeit der
Einsprache Stellung nehmen können. Zudem habe sich die Vorinstanz nicht mit dem
Vorbringen auseinandergesetzt, die Untersuchung sei unter Ausschluss der
Beschwerdeführerin als Partei geführt worden, und sie sei nicht rechtsgenügend
über das Strafverfahren informiert worden. Aufgrund dieses schweren formellen
Mangels sei der Strafbefehl ungültig beziehungsweise anfechtbar, was die in
ihren Verfahrensrechten verletzte Beschwerdeführerin mittels Einsprache geltend
machen könne.

2.3. Nach Art. 354 Abs. 1 StPO sind zur Einsprache gegen einen Strafbefehl
namentlich die beschuldigte Person (lit. a) und weitere Betroffene (lit. b)
legitimiert. Ein generelles Einspracherecht der Privatklägerschaft ergibt sich
aus der Strafprozessordnung nicht. Während die Einsprachemöglichkeit der
Privatklägerschaft in Art. 358 Abs. 1 lit. b des Entwurfs vom 21. Oktober 2005
zur Strafprozessordnung (E-StPO; BBl 2006 1389) noch vorgesehen war, wurde sie
vom Parlament gestrichen. Die Kommission des Ständerats begründete ihren
entsprechenden Antrag mit der angestrebten Verbesserung der Effizienz des
Strafbefehlsverfahrens (AB 2006 S 984). Der Bundesrat schloss sich dem
Änderungsvorschlag anlässlich der parlamentarischen Beratung mit der Begründung
an, die Einsprachemöglichkeit der Privatklägerschaft sei nicht gerechtfertigt,
da in Strafbefehlen nicht über Zivilforderungen entschieden werde und nie ein
Freispruch erfolge, weshalb sie gar kein Interesse an einer Einsprache haben
könne (AB 2006 S 1050). Der Nationalrat stimmte dem Beschluss des Ständerats zu
(AB 2007 N 1024). Dies schliesst nach Rechtsprechung und Lehre jedoch
grundsätzlich nicht aus, dass die Privatklägerschaft gestützt auf die
Generalklausel von Art. 354 Abs. 1 lit. b StPO dennoch zur Einsprache
legitimiert ist, wenn sie ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung
oder Änderung des Strafbefehls hat (Urteil 4D_62/2013 vom 16. Dezember 2013 E.
2.1; siehe auch BGE 138 IV 241 E. 2.6 S. 246 mit Hinweisen; Jeanneret/Kuhn,
Précis de procédure pénale, 2013, N. 17021; Niklaus Schmid, Schweizerische
Strafprozessordnung, Praxiskommentar [nachfolgend: Praxiskommentar], 2. Aufl.
2013, N. 6 zu Art. 354 StPO; derselbe, Handbuch des schweizerischen
Strafprozessrechts [nachfolgend: Handbuch], 2. Aufl. 2013, § 84 Rz. 1362 Fn.
44; CHRISTIAN SCHWARZENEGGER, in: Kommentar zur Schweizerischen
Strafprozessordnung, Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 5 zu
Art. 354 StPO; FALLER/REYMOND, Le règlement d'une affaire par la voie de
l'ordonnance pénale, in: Jusletter vom 13. Februar 2012, Rz. 15; RIEDO/FIOLKA,
Der Strafbefehl: Netter Vorschlag oder ernste Drohung?, forumpoenale 2011, S.
159). So ist die Privatklägerschaft nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
etwa zur Einsprache legitimiert, wenn ihr in Verletzung von Art. 433 StPO im
Strafbefehl keine Parteientschädigung zugesprochen wurde (BGE 139 IV 102 E. 5.2
S. 109 f. mit Hinweisen).

2.4. Vorliegend wendete sich die Beschwerdeführerin mit ihrer Einsprache in
erster Linie gegen die rechtliche Qualifikation des Sachverhalts als
Tätlichkeiten anstatt als einfache Körperverletzung. Das Bundesgericht hat sich
bisher nicht zur Frage geäussert, ob die Privatklägerschaft, die sich lediglich
als Strafklägerin konstituiert und im Strafverfahren keine Zivilansprüche
geltend macht, als weitere Betroffene im Schuldpunkt zur Einsprache gegen einen
Strafbefehl legitimiert ist. Es stellt sich folglich die Frage, ob sie durch
die allenfalls zu milde rechtliche Qualifikation in ihren rechtlich geschützten
Interessen betroffen ist. Die Mehrheit der Lehre vertritt die Ansicht, dass die
Privatklägerschaft im Schuldpunkt zur Einsprache berechtigt ist, soweit sie
eine mögliche Auswirkung der zu milden rechtlichen Qualifikation auf ihre
Zivilforderungen, insbesondere die Höhe der Genugtuung, darlegen kann (vgl.
GILLIÉRON/KILLIAS, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse,
2011, N. 3 zu Art. 354 StPO; Moreillon/Parein-Reymond, Petit Commentaire de la
Code de procédure pénale, 2013, N. 9 ff. zu Art. 354 StPO; FRANZ RIKLIN, in:
Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 11 zu
Art. 354 StPO; SCHWARZENEGGER, a.a.O., N. 5 zu Art. 354 StPO; JEANNERET/KUHN,
a.a.O., N. 17021; MICHAEL DAPHINOFF, Das Strafbefehlsverfahren in der
Schweizerischen Strafprozessordnung, 2012, S. 584 f.; MARC THOMMEN, Kurzer
Prozess - fairer Prozess?, 2013, S. 112). Gemäss MARC THOMMEN hat die
Privatklägerschaft einen persönlichkeitsrechtlichen Anspruch auf Feststellung
des angetanen Unrechts, weshalb sie unabhängig von Auswirkungen der rechtlichen
Qualifikation auf ihre Zivilforderungen einspracheberechtigt sei. Systematisch
ergebe sich die Einspracheberechtigung der Privatklägerschaft auch aus dem
Parteibegriff. Als vollwertige Partei geniesse sie volle
Rechtsmittellegitimation; so könnte sie gegen den Strafbefehl, der eine
Verfügung der Staatsanwaltschaft sei, Beschwerde erheben (a.a.O., S. 112;
tendenziell gleicher Meinung SABINE GLESS, Der Strafbefehl, in: Schweizerische
Strafprozessordnung und Schweizerische Jugendstrafprozessordnung, Marianne Heer
[Hrsg.], 2010, S. 49, wonach Geschädigte und Privatkläger einspruchsberechtigt
sind, soweit durch einen Strafbefehl andere als die zivilrechtlichen
Kompensationsinteressen beeinträchtigt sind). Eine Minderheit der Autoren
erachtet es als sachlich richtig, dass die Privatklägerschaft nicht zur
Einsprache legitimiert ist, da der Strafbefehl immer einen Schuldspruch
enthalte und darin nie über Zivilforderungen entschieden werde ( MICHAEL
LEUPOLD, Die Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007, Entstehung
- Grundzüge - Besonderheiten, BJM 2008 S. 248; ANASTASIA FALKNER, in:
Kommentierte Textausgabe zur Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober
2007, Goldschmid/Maurer/Sollberger [Hrsg.], 2008, Art. 354 StPO). Einigkeit
besteht in der Literatur darüber, dass die Privatklägerschaft mangels
Rechtsschutzinteresses hinsichtlich der ausgesprochenen Strafe nicht zur
Einsprache legitimiert ist, da die Bestrafung allein dem Staat zusteht (
THOMMEN, a.a.O., S. 111 f.; DAPHINOFF, a.a.O., S. 584; Moreillon/
Parein-Reymond, a.a.O., N. 13 zu Art. 354 StPO; Laurent Moreillon, L'ordonnance
pénale: simplification ou artifice?, ZStrR 128/2010 S. 36; vgl. auch Art. 382
Abs. 2 StPO).

2.5. Die Privatklägerschaft ist Partei im Strafverfahren (Art. 104 Abs. 1 lit.
b StPO). Als Privatklägerschaft gilt die geschädigte Person, die ausdrücklich
erklärt, sich am Strafverfahren als Straf- oder Zivilklägerin zu beteiligen
(Art. 118 Abs. 1 StPO). Geschädigt im Sinne von Art. 118 Abs. 1 StPO ist, wer
durch die Straftat in seinen Rechten unmittelbar verletzt worden ist (Art. 115
Abs. 1 StPO). Der Strafantrag ist der Erklärung nach Art. 118 Abs. 1 StPO
gleichgestellt (Art. 118 Abs. 2 StPO). Die geschädigte Person kann sich gemäss
Art. 119 Abs. 2 StPO als Straf- und/oder Zivilklägerin am Strafverfahren
beteiligen. Strafkläger ist, wer die Verfolgung und Bestrafung der für die
Straftat verantwortlichen Person verlangt (Art. 119 Abs. 2 lit. a StPO),
Zivilkläger, wer adhäsionsweise privatrechtliche Ansprüche geltend macht, die
aus der Straftat abgeleitet werden (Art. 119 Abs. 2 lit. b StPO). Nimmt die
Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren nicht an die Hand (Art. 310 StPO) oder
stellt sie es vollständig oder teilweise ein (Art. 319 ff. StPO), können die
Parteien die Verfügung mittels Beschwerde anfechten (Art. 310 Abs. 2 i.V.m.
Art. 322 Abs. 2 und Art. 393 ff. StPO). Ein das Verfahren ganz oder teilweise
abschliessendes Urteil eines erstinstanzlichen Gerichts kann mittels Berufung
weitergezogen werden (Art. 398 ff. StPO). Gemäss Art. 382 Abs. 1 StPO, der die
Legitimation sowohl für die Beschwerde als auch die Berufung regelt, kann jede
Partei, die ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder
Abänderung eines Entscheides hat, ein Rechtsmittel ergreifen. Nach Abs. 2 der
Bestimmung kann die Privatklägerschaft einen Entscheid hinsichtlich der
ausgesprochenen Sanktion nicht anfechten. Das Bundesgericht befasste sich in
zwei amtlich publizierten Entscheiden mit der Berufungslegitimation der
Privatklägerschaft, die sich einzig als Strafklägerin nach Art. 119 Abs. 2 lit.
a StPO konstituiert hatte. Im ersten Urteil entschied das Bundesgericht, das
Recht auf Verfolgung sowie Verurteilung des Straftäters gemäss Art. 119 Abs. 2
lit. a StPO begründe, unabhängig von jeglichen Zivilansprüchen und von einem
aktuellen Nachteil, das rechtliche Interesse der Privatklägerschaft im Sinne
von Art. 382 Abs. 1 StPO, gegen das Urteil Berufung einzulegen. Es genüge,
geschädigt zu sein, das heisst eine Person zu sein, deren Rechte durch die
Straftat direkt verletzt worden sind. Ein Schaden sei nicht nötig. Ferner hielt
das Bundesgericht fest, eine Auslegung der Rechtsmittellegitimation gemäss Art.
382 Abs. 1 StPO könne nicht im Lichte von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG
vorgenommen werden (BGE 139 IV 78 E. 3.3.3 f. S. 81 ff.). Im Folgeurteil räumte
das Bundesgericht der Privatklägerschaft ein Interesse im Sinne von Art. 382
Abs. 1 StPO ein, eine andere rechtliche Qualifikation, insbesondere eine
strengere, geltend zu machen, welche geeignet ist, auf die Würdigung der von
ihr erlittenen Beeinträchtigung Einfluss zu haben (BGE 139 IV 84 E. 1.1 S. 86).
Damit kann die Privatklägerschaft, unabhängig von der Geltendmachung von
Zivilansprüchen, gestützt auf Art. 382 Abs. 1 StPO unter anderem
Nichtanhandnahmen und Einstellungen mit Beschwerde, Freisprüche sowie
rechtliche Qualifikationen mittels Berufung anfechten (vgl. zum Rechtsmittel
gegen eine implizite teilweise Einstellung: BGE 138 IV 241 E. 2.6 S. 246 f.;
a.A. Thommen, a.a.O., S. 112; Daphinoff, a.a.O., S. 588).

2.6. Aus den vorstehenden Überlegungen ergibt sich, dass die in den
parlamentarischen Beratungen vertretene Ansicht, wonach die Privatklägerschaft
kein Interesse an der Einsprache gegen einen Strafbefehl haben kann, zu kurz
greift (vgl. Thommen, a.a.O., S. 111). Obwohl ein Strafbefehl nie einen
Freispruch enthält und darin nicht über Zivilforderungen entschieden wird, kann
die Privatklägerschaft ein rechtlich geschütztes Interesse an dessen Aufhebung
oder Änderung haben - dies auch unabhängig von allfälligen Zivilforderungen. Es
erscheint aufgrund der Systematik der Strafprozessordnung gerechtfertigt, die
Privatklägerschaft zur Einsprache gegen einen Strafbefehl zuzulassen, wenn sie
in einer analogen Situation gemäss Art. 382 Abs. 1 StPO legitimiert wäre, ein
Rechtsmittel zu erheben (vgl. Entscheid des Kantonsgerichts Waadt vom 6. Juni
2011 E. 1a [Décision/2011/218]; Schmid, Praxiskommentar, a.a.O., N. 6 zu Art.
354 StPO; derselbe, Handbuch, a.a.O., § 84 Rz. 1362 Fn. 44; Schwarzenegger,
a.a.O., N. 5 zu Art. 354 StPO; Riklin, a.a.O., N. 11 zu Art. 354 StPO). Würde
man anders entscheiden, wäre diejenige Privatklägerschaft, die Geschädigte
eines Delikts ist, das im Strafbefehlsverfahren beurteilt werden kann (vgl.
Art. 352 StPO), benachteiligt gegenüber einem Straf- und/oder Zivilkläger, der
an einem ordentlichen Verfahren beteiligt ist. Während Erstere sich mit dem
Strafbefehl abfinden müsste, könnte Letzterer zumindest an die zweite kantonale
Instanz und allenfalls sogar - unter den Voraussetzungen von Art. 81 Abs. 1
lit. a und b Ziff. 5 BGG - an das Bundesgericht gelangen.

2.7. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die rechtliche Würdigung der Tat
des Beschwerdegegners als Tätlichkeiten. Sie argumentiert, seine Handlung
beziehungsweise die von ihr erlittenen Verletzungen würden den Tatbestand der
(versuchten) einfachen Körperverletzung erfüllen. Ob der Beschwerdegegner wegen
Tätlichkeiten oder (versuchter) einfacher Körperverletzung verurteilt wird,
kann die Würdigung der von der Beschwerdeführerin erlittenen Beeinträchtigung
beeinflussen. Der Tatbestand der einfachen Körperverletzung setzt in objektiver
Hinsicht eine schwerere Beeinträchtigung voraus als der Tatbestand der
Tätlichkeiten. Gemäss der Rechtsprechung hat die Beschwerdeführerin ein
rechtlich geschütztes Interesse im Sinne von Art. 382 Abs. 1 StPO (vgl. BGE 139
IV 84 E. 1.1 S. 86), womit sie auch zur Einsprache gegen den Strafbefehl
legitimiert war. Die Vorinstanz verletzt Bundesrecht, indem sie in der Sache
nicht auf die Berufung beziehungsweise die Einsprache der Beschwerdeführerin
eintritt.

2.8. Die Vorinstanz wird auf die Berufung eintreten und die Sache materiell
prüfen müssen. Bei diesem Verfahrensausgang muss auf die weiteren Rügen
grundsätzlich nicht eingegangen werden. Ihren Antrag, die Vorinstanz sei
anzuweisen, eine mündliche Berufungsverhandlung durchzuführen, begründet die
Beschwerdeführerin nicht. Darauf ist nicht einzutreten (Art. 42 Abs. 1 und 2
BGG).

3.

 Die Beschwerde ist gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann. Das
angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zu neuer (materieller)
Entscheidung an das Obergericht zurückzuweisen.

 Der Beschwerdegegner unterliegt mit seinem Antrag auf kostenpflichtige
Abweisung der Beschwerde. Bei diesem Verfahrensausgang hat er die hälftigen
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdegegnerin sind
keine Kosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Beschwerdegegner hat,
zusammen mit dem Kanton Aargau, die Beschwerdeführerin angemessen zu
entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Die Entschädigung ist praxisgemäss
ihrem Rechtsvertreter auszurichten. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
und Verbeiständung ist gegenstandslos.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.

 Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Das Urteil
des Obergerichts des Kantons Aargau vom 6. Januar 2015 wird aufgehoben und die
Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.

 Die Gerichtskosten werden im Umfang von Fr. 1'000.-- dem Beschwerdegegner
auferlegt.

3.

 Der Beschwerdegegner und der Kanton Aargau haben der Beschwerdeführerin eine
Entschädigung von je Fr. 1'500.-- auszurichten.

4.

 Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Strafgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 30. Juni 2015

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Die Gerichtsschreiberin: Andres

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